Süddeutsche Zeitung - 21.09.2019

(Greg DeLong) #1

Bereits die Autoren der Bibel hatten er-
kannt, dassBrüderlichkeit auch ein schlim-
mes Ende nehmen kann, so wie bei Kain
und Abel, dem laut Buch Genesis (4, 1-16)
ersten Geschwisterpaar in der Geschichte
der Menschheit, die ältesten Söhne von
Adam und Eva. Angeblich war es der Neid,
der den Ackerbauer Kain dazu brachte,
seinen jüngeren Bruder, den Hirten Abel,
zu erschlagen. Kain missgönnte seinem


Bruder, dass Gott dessen Tieropfer mehr
Aufmerksamkeit schenkte als seinem Ge-
müse. Obwohl Abel eigentlich nichts dafür
konnte, überlief es Kain heiß, sein Blick
senkte sich und er vollbrachte auf einem
Feld seine schreckliche Tat. Daraufhin wur-
de er verflucht und verbannt – und von
Gott mit einem Mal versehen, auf dass ihn
niemand erschlage, denn der Mörder sollte
ein Leben lang an seiner Schuld leiden.

Es ist eine eigentlich banale Geschichte,
die aber bis heute die Menschen fasziniert
und immer wieder nacherzählt wird, auch
auf der Bühne, im Film und im Roman,
etwa in John Steinbecks „Jenseits von
Eden“. Wahrscheinlich weil sie einen wah-
ren Kern hat. Geschwister sind nicht im-
mer lieb zueinander, sie konkurrieren um
die Anerkennung der Eltern und streiten
um die Rangordnung in der Familie. cwb

Es war nicht selten kompliziert mit Albert
Einstein und seinen Mitmenschen, insbe-
sondere was die weiblichen Exemplare be-
trifft. Mit seiner ersten Frau Mileva lieferte
er sich einen langen und bitteren Schei-
dungskampf, seine zweite Frau Elsa quälte
er mit Affären. Und als ihn seine Schwipp-
schwägerin Anna Besso einmal kritisierte,
war dieser so empört, dass er die langjähri-
ge Freundschaft aufkündigte. Es gibt je-
doch eine auffällige Ausnahme: Alberts
zweieinhalb Jahre jüngere Schwester Maja
Einstein, die 1910 seinen Freund Paul
Winteler heiratete. Seit der Kindheit war
sie Einsteins Vertraute. Zwar zeugen Briefe


der beiden auch von Schattenseiten, Maja
klagt oft, dass ihr Bruder zu selten schrei-
be. Auch das soziale Gefälle zwischen dem
Jahrhundertgenie und dem Aussteiger-
paar Einstein-Winteler, das seinen kleinen
Gutshof in Italien nur dank einer großzügi-
gen Finanzspritze von Albert Einstein hal-
ten kann, klingt zuweilen mit. Trotzdem
war das Verhältnis der Geschwister stets
liebevoll. Ihre letzten Lebensjahre ver-
brachte Maja bei ihrem Bruder in Prince-
ton. Als sie bettlägerig wurde, las er ihr
jeden Abend vor. „Nun fehlt sie mir mehr,
als man sich leicht vorstellen kann“,
schrieb er nach ihrem Tod. weis

In der Zeit des Mitmach-Internets zählt
vor allem eins: Aufmerksamkeit. Klar,
auch klassische Medien freuen sich über
Leser, Zuschauer, Abonnenten. Aber jene
Masse an Menschen, die die Zwillinge, ge-
boren 2002 in Stuttgart, erreichen, ist fast
nicht zu schaffen: Mehr als 15 Millionen
Follower haben die Schwestern, die sich
schlicht Lisa und Lena nennen, auf Insta-
gram. Berühmt geworden sind die beiden
Influencerinnen mit Lipsync-Videos, Tanz-
einlagen und der Idee von einem Leben, in
dem viel gelacht und wenig geredet wird
und vor allem, ganz wichtig, alles sehr
schön aussieht. Jugendliche lieben diese


Scheinwelt der beiden Schwestern, etwa
auf der Videoplattform Tiktok:Vier Jahre
lang teilten die Schwestern dort ihre Videos
mit, Achtung, 30 Millionen Followern.Und
obwohl das alles aussieht wie leicht ge-
machte Schnappschüsse aus dem Leben
zweier vermeintlich normaler Teenies,
sind von den beiden Megastars nur wenig
private Details bekannt. Anfang des Jahres
kündigten Lisa und Lena dann ihren Rück-
zug an – und schlossen darauf hin tatsäch-
lich auch ihren Tiktok-Account. Die Grün-
de sind bis heute nicht ganz geklärt, angeb-
lich ging es um Sicherheitsbedenken, viel-
leicht aber auch schlicht ums Geld. fehu

von werner bartens

E


inmal sperrte er ihn über
Nacht in einen Schrank, ein an-
deres Mal mischte er ihm Rat-
tengift ins Essen. Im Winter
ermutigte ihn der ältere Bru-
der, aufs dünne Eis zu gehen. Der jüngere
brach ein, konnte sich nur mit Mühe vor
dem Ertrinken retten und robbte er-
schöpft und ausgekühlt ans Ufer zurück.
Dort stand der ältere „wie zuvor, zurück-
gebeugt, die Hände in den Taschen“.
Immerhin streckte er eine Hand aus, als
der jüngere Bruder versuchte, wieder auf
die Füße zu kommen. Daniel Kehlmann
schildert in seinem Bestseller „Die Ver-
messung der Welt“ die vielen Attacken
und Gemeinheiten, die Alexander von
Humboldt von seinem zwei Jahre älteren
Bruder Wilhelm erfahren – und überle-
ben – musste.
Kain und Abel, Jakob und Esau, Romu-
lus und Remus – von Geschwistern ge-
hen seit Beginn der großen Menschheits-
erzählungen oft unheilvolle, aber auch
etliche schöpferische Impulse aus. Im-
merhin ist das Verhältnis zwischen Ge-
schwistern zumeist die längste soziale
Beziehung, die Menschen haben. Diese
Bindung entsteht allerdings ungefragt,
zumeist auch ungewollt – und sogar nach
einer Trennung lässt sie sich nie vollstän-
dig auflösen. Von Geschwistern kann
man sich nicht scheiden lassen. Nahelie-
gend also, sich im Rahmen einer Konfe-
renz über frühkindliche Bindungen, ihre
Auswirkungen und Störungen, einge-
hend mit dem Thema Geschwister zu be-
fassen.
Doch während der Gedanke an die Prä-
gung und die Vorbildrolle der Eltern bald
aufscheint, wenn es Irritationen über ei-
gene Verhaltensmuster oder die Partner-
wahl gibt, kommen psychologische Laien
wie Profis in vergleichbaren Situationen
selten auf die Idee, als Erklärung die Er-
fahrungen mit ihren Geschwistern zu be-
rücksichtigen. Dabei bildet die aus der
Familie gewohnte Geschwisterposition
oft eine Folie für Konflikte im Beruf oder
in der Partnerschaft. Es macht nun mal
einen Unterschied, ob ein Erstgeborener
selbstverständlich erwartet, eine domi-
nante Rolle einzunehmen oder jemand
als viertes von fünf Geschwistern ge-
wohnt ist, sich einzuordnen.

„Geschwister können Ressource oder
Risiko sein“, sagt Kinder- und Jugend-
psychiater Karl Heinz Brisch, der die Bin-
dungs-Tagung nun schon zum 18. Mal
organisiert hat. „Manche Menschen hei-
raten unbewusst ein Abbild ihres großen
Bruders oder der kleinen Schwester –
aber der Partner weiß nichts davon und
ist auch gar nicht so. Und dann geht es
schief.“ Erstaunlicherweise habe sich die
Forschung diesem Phänomen bisher ver-
gleichsweise wenig gewidmet. Viele Zu-
schreibungen, etwa über das „schwieri-
ge“ mittlere Kind oder die verwöhnten
Jüngsten seien zwar äußerst populär,
aber wissenschaftlich nicht belegt.
Das Verhältnis der Geschwister unter-
einander kann zwar von Zuneigung und
Fürsorge geprägt sein, womöglich ist es
aber auch ein ständiger Quell für Konflik-
te und Rivalität oder gar ein schlechtes
Vorbild, das zu frühem Drogenkonsum
und anderem Fehlverhalten anregt. Nach
diversen Erhebungen sind 35 Prozent der
Befragten in ihrer Kindheit und Jugend
von Geschwistern angegriffen worden,
13 Prozent trugen sichtbare Verletzun-
gen davon. Karl Heinz Brisch berichtete
von zwei stabil zerstrittenen Geschwis-
tern, mittlerweile beide über 70, die sich
kürzlich wiedertrafen. Schon bald hatten

sie erneut in ihre alten Konfliktmuster zu-
rückgefunden und gerieten sich so in die
Haare, dass sie aufeinander einschlugen.
Wie sehr Geschwister als frühe Lehr-
meister für die Paarbeziehung dienen,
führt Susanne Pointner, Paartherapeutin
aus Wien, aus. Die Position innerhalb der
Geschwisterfolge – und wie sie wahrge-
nommen wurde – spiegelt sich oft in späte-
ren Erwartungen und Verhaltensmustern
wider. „Wer ständig abgewertet wurde,
neigt vielleicht in der Partnerschaft zur
Rache oder hat Angst, sich zu binden“, sagt
Pointner. „Wer hingegen von den Eltern
aufgewertet oder überhöht wurde, könnte
leicht ein narzisstisches Profil entwickeln.“
Ist eine Frau auf der Suche nach einem
Mann, der ihrem vergötterten großen Bru-
der ähnelt, ist die Erwartungshaltung ver-
mutlich groß. Sie sucht die perfekte Erfül-
lung – und er weiß vor lauter Bemühen gar
nicht mehr, was er jetzt schon wieder
falsch gemacht hat.
Es sind oftmals die verleugnetenSelbst-
anteile, die Beziehungen so schwer machen.
„Wenn wir uns in einen Partner verlieben,
riecht das oft nach Stall“, sagt Pointner.
„Wer triggert meine mir seit Kindertagen
vertrauten Themen, wer spiegelt das, was
ich kenne? Das ist uns dann oft sehr nahe,
wenn auch nicht immer angenehm.“
Wenn es um die heikle Frage geht, ob
lange verbandelte Paare noch miteinander
schlafen, sind die Antworten oft ernüch-
ternd. „Es ist erstaunlich, wie viele ,funktio-
nierende‘ Paare keinen Sex mehr miteinan-
der haben“, findet Pointner. „Dann über-
wiegt oft die geschwisterliche Liebe und
die Vertrautheit. Dabei braucht Sex das
Überwinden von Grenzen, die Illusion von
Fremdheit und das Wilde, Erotische.“
Manchmal ginge das nur, wenn die „inne-
ren Geschwister“ wieder aus der Paarbezie-
hung verabschiedet werden.
Jenseits individueller Beziehungen
wird das Geschwisterverhältnis oft symbo-
lisch überladen: Aus evolutionärer Sicht
sind Geschwister demnach hauptsächlich
deshalb so unterschiedlich und vielfältig,
damit wenigstens einer von ihnen auf der
Suche nach der überlebenssichernden Ni-
sche fündig wird und gewährleistet, dass
die Art erhalten bleibt. Und politisch gilt
die Vision der Brüderlichkeit als ideale
Gesellschaftsform. Doch ist das wirklich er-
strebenswert, ein bürgerschaftliches Ver-
hältnis wie unter Geschwistern, von denen
Marie Luise Kaschnitz schon schrieb:
„Doch niemals stirbt die wilde Kraft, / der
alten Nebenbuhlerschaft, / und keine ande-
re vermag / so bitteres Wort, so harten
Schlag“?
Schließlich lässt sich durch Geschwister
früh erfahren, was Rivalität, Neid, Aggressi-
on und Hass sind. Bei aller Nähe ist die Kon-
kurrenz nicht zu unterschätzen: Die kleine
Schwester wird schon sehen, was sie davon
hat, wenn sie ihren älteren Bruder über-
holt und irgendwann schneller versteht
und schneller lernt. Er wird sie dafür nicht
auf seinen Roller lassen und vom Kletterge-
rüst schubsen. „Wenn es in Teams und
unter Arbeitskollegen zu Gruppenkämp-
fen und Spaltungen kommt, steht oft die
Re-Inszenierung einer Geschwister-Dyna-
mik dahinter“, sagt Karl Heinz Brisch. „Oft-
mals werden frühe Abwertungen und Trau-
matisierungen aktiviert, wenn beispiels-
weise die neue, junge Mitarbeiterin ins
Team kommt – und keiner von den Kolle-
gen gefragt wurde, ob sie damit einverstan-
den waren.“ So wie den Erstgeborenen
damals niemand gefragt hat, ob er noch
ein Geschwisterchen wollte.
Allerdings – das macht die Zusammen-
schau des Forschungsstandes deutlich –
gibt es kaum wissenschaftliche Belege für
viele Vermutungen über die Rolle und Posi-
tion der Geschwister, Beispiel Sandwich-
kinder. Das seien keineswegs immer die
Geschwister mit den Schwierigkeiten, je-
ne, die es schwer hätten, ihren Stand zwi-
schen dominanten Älteren und verwöhn-
ten Jüngsten zu finden. „Manche sehen

das so: Sandwich ist doch super – das Beste
ist eben in der Mitte“, sagt Jürg Frick, lange
Jahre Psychologie-Dozent in Zürich. „An-
deren geht es hingegen tatsächlich
schlecht mit dieser Rolle und sie fühlen
sich von oben gedrückt und von unten.“
Auch Eltern sollten sich nichts vorma-
chen, indem sie behaupten, ihre Kinder
gleich gern zu mögen und zu behandeln.
„Es ist eher die Regel als die Ausnahme,
dass ein Kind in der Familie bevorzugt
wird“, sagt Frick und weist auf die Auswer-
tung von mehr als 120 Studien hin. Das Un-
gleichgewicht bleibe demnach oft auch im
Erwachsenenalter bestehen und verstärke
sich manchmal sogar noch.
Wer sich zudem manchmal fragt, war-
um er gegen gewisse Menschen Antipa-
thien entwickelt, sollte vielleicht in der ei-
genen Familiengeschichte fahnden. Frick
berichtet von einer Lehrerin, die im neuen
Schuljahr ein Mädchen in die Klasse be-
kommt, das es von Anfang an nicht ausste-
hen kann; es tritt so vorlaut und besserwis-
serisch auf. „Nach einiger Zeit merkte die
Pädagogin, dass es genau die Eigenschaf-
ten waren, die sie an ihrer jüngeren Schwes-
ter nie mochte und bis heute nicht mag“,
sagt Frick. Immerhin, trotz aller Rivalitä-
ten und Abneigungen betrachteten bei
einer Umfrage 2010 in Deutschland mehr
als zwei Drittel der Befragten ihr Geschwis-
terverhältnis positiv, wobei die Nähe zu-
einander im Erwachsenenalter beständig
abnimmt – um erst im Rentenalter wieder
zusammenzurücken.

Dass viele populäre Annahmen über die
Bedeutung der Geschwister nicht bewie-
sen oder schlicht falsch sind, machte die
Psychologin Brenda Volling von der Uni-
versity of Michigan deutlich. Sie hat unter-
sucht, was mit den Erstgeborenen nach
der Geburt eines Geschwisterkindes pas-
siert. Diese „Entthronung“ wird von vielen
Fachleuten als schwer traumatisierend ge-
schildert. Ein Kongress für Psychoanalyti-
ker in London 2016 wies auf das Thema mit
den dramatischen Worten hin, dass sich
der Erstgeborene „in seiner Existenz be-
droht sieht und mörderische Bedürfnisse
verspürt, den Usurpator zu beseitigen“.
Und in ihrem mehr als drei Millionen Mal
verkauften Bestseller „Your Baby and
Child“ vergleicht Penelope Leach die Ge-
burt eines Geschwisters mit dem Mann,
der nach Hause kommt und zu seiner Gat-
tin sagt, er brauche eine neue Frau.
Das klingt beeindruckend einschüch-
ternd, doch in ihren Untersuchungen fand
Volling kaum Belege für diese Vorurteile.
Im Gegenteil, nur 2,7 Prozent der Kinder
schrien, protestierten oder reagierten an-
derweitig negativ, wenn sie mitbekamen,
dass die Eltern jetzt mit dem neuen Ge-
schwisterkind spielten. Mehr als die Hälfte
verhielt sich aufgeschlossen und neugie-
rig. „Wir sollten aufhören, die Zeit nach der
Geburt eines zweiten Kindes als Phase
voller Rivalität und Wut zu betrachten“,
fordert Volling.
Trotz solcher Befunde wäre es interes-
sant, mehr über Rivalitäten zu erfahren,
etwa wie Goethes jüngere Schwester Corne-
lia ihren Bruder erlebt hat. Der berichtet in
„Dichtung und Wahrheit“, dass er gleich-
sam nebenbei Französisch und Italienisch
gelernt hat, indem er gelegentlich durch
die offene Tür ein paar Brocken auf-
schnappte, wenn sich seine Schwester
beim Studium die Sprachen einzuprägen
versuchte.
Geschwister können gemein zueinan-
der sein, einander aber auch viel geben.
„Wilde Indianer sind entweder auf Kriegs-
pfad oder rauchen die Friedenspfeife –
Geschwister können beides“, hat Kurt
Tucholsky über die Vielfalt dieser besonde-
ren Beziehung geschrieben.

Kain und Abel


Die längste


Beziehung


Geschwister können manchmal richtig wehtun,


aber auch unendlich bereichernd sein.


Über schwere Rivalitäten, gekränkte Erstgeborene


und verkannte Sandwichkinder


Maja und Albert Einstein


Lisa undLena


Viele Annahmen über die
Bedeutung der Geschwister
sind nicht bewiesen oder falsch

Manche Menschen heiraten
unbewusst ein Abbild ihres
Bruders oder ihrer Schwester

34 WISSEN Samstag/Sonntag, 21./22.September 2019, Nr. 219 DEFGH

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