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VonFrederik Jötten
FrancoGianisteuertimSommerjedenTagdasSchiff„SeglMaria“
überdentürkisblauenSilserseeimEngadin.Esistdiehöchstgelegene
DerKapitänvomSilsersee LinienschifffahrtslinieEuropas
Seit 50 Jahren Kapitän der „Segl Maria“ auf dem
Silsersee:Franco Giani. FREDERIK JÖTTEN
Frederik Jöttenist auch schon mit dem
Kajak über den Silserseegepaddelt –
ohne Motorbrummen um so schöner.
N
ichtsdeutetandiesemwolkenlo-
senJunimorgendaraufhin,dass
dasLebenalsKapitänaufdem
Silsersee im Oberengadin hart
und gefährlichsein kann. Franco Giani, seit
50 Jahren verantwortlich für die höchstgele-
gene Linienschifffahrtslinie Europas,setzt
sichhinterdasSteuerder„SeglMaria“,einer
Motorbarkasse für bis zu Ï0Passagiere, und
kontrolliertaufdemArmaturenbrett'ldruck
und Tankfüllung.Hinter dem È5-Jährigen
schimmertdie Wasseroberfläche türkis und
so glatt, dass man gar nicht nach oben
schauenmuss,umd asBerg panoramazuse-
hen: Felsen, Bäche undGeröllhalden spie-
gelnsichgestochenscharfimS ee.
In einer Viertelstunde,um1 0.40 Uhr, ist
planmäßig die ersteAbfahrtdes Kursschiffs.
EinKleinkindrenntüberdenStegzum Boot,
vonhinten brüllt dessenOma: „D usollst
nicht alleinevorlaufen.“Eigentlich ist das
SchiffnochnichtfürBesuchergeöffnet,aber
GianilächeltdasKinddurchseinenergrauten
Bart an, reicht ihm dieHand und hilft ihm
überdieReling.
FrancoGianiträgtpassendzuseinemBe-
rufeine weiße KapitänsmützezuJ eans und
Sweatshirt.Nunfüllt sich die„SeglMaria“ –
der Name entspricht der rätoromanischen
Schreib weise des Silser Hauptortes–neun
FahrgästesindschonanBord.Eindeutsches
Ehepaar fragt:„Können wirHin- und Rück-
fahrtzusammenlösenun ddieRückfahrtan
einem anderenTagantreten?“Franco Giani
versteht nicht.Später wir ders agen, dass es
ihmpeinlichsei,dassernachalldenJahrenin
Sils kein Deutsc hkönne.Sein italienischer
Dialekt sei allerdings dem Rätoromanisch,
das die Einheimischen sprechen, sehr ähn-
lich.Mitihnenkannersichgutverständigen.
JetztrufterseinenkünftigenSchwiegersohn,
GiacomoRota,zu Hilfe,der,wieerselbstsagt,
alsLeichtmatrosemitanBordist.Der2È-Jäh-
rige,akkurat gestutzter Vollbart, Uni-Ab-
schluss inPhilosophie,erklärtsehr höflich
undmititalienischemAkzent,dassdiesohne
Probleme möglich sei.Franco Giani startet
derweil die Motoren, Giacomo Rota löst die
Leinen. Mitsanftem Brumme nstich tdie
„Segl Maria“ in denSee. DasSpiegelbild des
BergpanoramaszerfälltinkleinenWellen.
DieGianisstammenausdemDorfOssuc-
cioam ComerSee,wosiealsFischerund Bau-
ernlebten. DerGroßvater vonFranco Giani
kamum1900mitMännernauszweianderen
Familien ins Oberengadin, um zu sehen, ob
siehier rentabelFischereibetreibenkönnten.
SehrschnellsahensieimaufstrebendenTou-
rismus ei nlohnenderesGeschäft. Schon im
Jahr nach dem erstenBesuch ruderten sie
Gäste mitRuderbooten imvenezianischen
Stil über denSilsersee.Das Geschäft lief so
gut, dass die Gondolieribald aufhörten,
Gäste mit Muskelkraf tzub efördern, und
schon 190È den ersten kleinenDampfer an-
schafften.Mitsechs Pferden wurde er über
den Malojapass gezogen. In den folgenden
Jahrzehntenwar das Leben der „Barcaioli“
vomSilsersee hart,Freizeit gab es kaum.Sie
schliefenimBootshau s,koch tenundaßenim
Freien.Esgalt,GeldfürdieFamilieinderHei-
mat zu verdienen. Undmanchmal klappte
nichtmaldas.Einmal,nacheinemverregne-
tenSommer,erzähltFrancoGiani,habesein
GroßvaternichteinmalfünfFrankengehabt
nach einerSaison, um sich imHerbst ein
Fahrradzul eihen, mit dem er nachHause
fahrenkonnte.IndenÏ0er-Jahrenübernahm
derVatervonFrancoGianidenJobalsKapi-
tän,1969lösteerselbstseinenVaterab.Seit-
demhaterjedenSommerinSilsverbracht.
Giacomo Rota kassiertdie Fahrgäste ab.
OftistauchseineFreundinFrancesca,2È,die
TochtervonFrancoGiani,mitanBord,umzu
helfen. Siearbeitet rege mit, realisierte eine
Ausstellung über die Geschichte der Silser
SchifffahrtimBootshaus undplant Projekte
mitKindernaufdemSee.Abergeradeweiltsie
in Berlin, um ihr Deutschzuverbessern. So
machtdienächsteGenerationsichbereit,die
Silser Schifffahrtzuübernehmen.Francesca
GianihatkeineAmbitionen,selbstdasSteuer
zuübernehmen,ihrFreundaberschon.„Die
Bootsführer-Lizenz Ahabe ich schon, die für
Personenbeförderung notwendige B-Lizenz
macheich,wennallesgutgeht,schondiesen
Sommer“,sagtGiacomoRota.
Franco Giani sitzt auf einem Sitz auf der
linkenSeitedesSchiffes,dasLederlenkradin
der Hand, den Ellbogen aus dem offenen
Fensterabgelegt.SeineAugenschweifenüber
den blaugrünenSee. Am Ufer rauscht ein
WasserfallindieTiefe.DerKapitänhältinder
Mitte des Sees Kurs auf die Anlegestelledes
Weilers Isola.„Genau hier“, brummt er,„hat
mich einmal ein Unwetter überrascht.“ Da-
malsseidasBootgenauwieheutevorallem
mit Familien besetzt gewesen, viele Kinder.
„DerHimmelwarbedeckt,aberichkanndie
Wolkenlesen.EinGewitterwarnichtimAn-
marsch.“Stattdessenhabe es voneiner Se-
kunde zur nächstenvomBergPiz de la
Margnagestürmt.DerWindrissdieschweren
KunstlederpolstervomHeckab,sieflogenins
Wasser.Wellen schütteltendas Boot durch,
Kinder kreischten.Giani rief:„Niente paura,
andiamoal sicuro–keine Angst, wir sind
gleichinSicherheit!“
Er steuerte das Boot so,dass die Spitze
senkrecht zu den Wellen stand, um diesen
möglichst wenig Angriffsflächezu bieten.
DannfuhrerrückwärtsdieBuchtimSchutz
der Halbinsel Chastn an.„Wir waren schnell
in Sicherheit“, sagt er.Die Polster habe er
nicht mehr gefunden, stattdessen ein leeres
Ruderboot. Es gehörte einemFischer,der
sichaufeinederInselngeflüchtethatteund
dem derSturmdas Boot weggerissen hatte.
Nicht immer gehen dieUnglücke so glimpf-
lichaus:2016starbhiereineÈ5-jährigeFran-
zösin nachdem einWindstoß ihrSegelkajak
umgeworfenundsieinskalteWassergewor-
fen hatte,wahrscheinlich anHerzversagen.
Eine Seglerin, die in der Nähe war,zog die
FrauausdemWasser,dochdie Reanimation
kamzuspät.AuchFrancoGianihatschonKa-
jakfahrer aus demSeegerettet, die imWind
gekentertwaren. „EinPaar aus Zürich“, er-
zählter .„20Jahrelangkamensiedanachje-
den Sommer mit einemGeschenk vorbei,
zumDank.“
Heute kr äuselt sich dieWasseroberfläche
desSilserseesnurleicht.Hier,ine twader Mitte
desSees,setztgegen11UhrderMaloja-Wind
ein, die steifeBrise,die vomgleichnamigen
PasswehtunddasBootein wenigaufdenWel-
lenschaukelnlässt.WennmandieAugenzu-
macht,hörtsichder MotoranwieeineWasch-
maschine imWaschgang.EinSchweizer um
die50inFunktionskleidungblicktdemKapi-
tän über die Schulter und sagt anerkennend:
„Oh, VolvoPenta.“ DerSchriftzug eines
Schiffsmotorenherstellers ist unter demGas-
hebel zu lesen. „Due!“, sagtGiani. Jeder der
beiden Motorenhabe 120 PS.DerFahrgast
nicktundsiehtbeeindrucktaus.And erAn le-
gestelledesOrtesMalojaendetdieKursfahrt.
DiePassagieregehen vonBord, derKapitän
poliertdieArmaturenmitGlasreiniger.
Im Jahr 1984 bestand der ÈÈJahrealte
DampferdieRevisionnichtmehr.DieFami-
lien, die bis dahin mit denGianis dieSilser
Schifffahrtbetrieben hatten, zogen sich zu-
rück. Franco Giani übernahm alleine und
kauftedie„SeglMaria“.SeitdemisterKapitän
und sitztvonMitte Juni bis MitteOktober
meistens amSteuer .Die gesetzlichvorg e-
schr iebenenRuhetagenimmtervorallembei
schlechtemWetter,wenndie Linie etwawe-
gen Gewitterwarnung nicht betrieben wird.
SeltenkommteinzweiterKapitänausItalien
zurUnterstützung.
Um12.10Uhrläuftdie„SeglMaria“wieder
inSilsein.„Almattino–finito“,sagtGianiund
grinst.FürdenMorgenware sdasmitderAr-
beit. Seine Frau Silvana wartet in einem An-
bau desBootshauses mit demMittagessen.
Drinnen steht eineEckban k, gegenüber ein
Holzofen mitKochoberfläche,darau fPfan-
nen und Töpfe.Esg ibt keinenStrom. Der
Röhrenfernseher–auf einemPodest abge-
stützt mit einemBesenstiel–funktioniert
nur,wennein Diesel -Generator läuft.Giani
ziehteineDaunenwesteüber,dieWandhin-
ter ihm ist kalt.Außerdem Holzofen gibt es
keineWärmequelle unddas Bootshaus liegt
vormittagsimSchatten.
Bisletzte sJahrhabenFrancoundSilvana
Gianiden Sommerüberhiergewohn t.Toch-
terund de renFreundGiacom o, wenn sieda
waren,auch.„E swar.. .romantisch.“Franco
Giani lacht.„Als Auszeitvom hektischen Le-
benist es schön“, erzähltGiacom oRota. In
diesem Jahrhabe ndieGianiszumerstenMal
einkleinesAppartementinMalojagemietet.
„NachalldenJahrenwa resZ eitfüreinbiss-
chenmehrKomfort“,sagtSilvanaG iani,eine
resoluteFraumitfingerlangenblondenHaa-
renimFleece-Pulli. „Aber amMorgen der
BlickaufdieBerge,inder NachtderSternen-
himmel–trotz der Entbehrungen war es
schön,hierzuleben.“
Siestellt Salat undBrot au fden Tisch.
Frage an denKapitä n–wäreesm it È5 nicht
langsamZeit für denRuhestan d? Er lächelt.
„Ichfühlemichnichtsoalt.“Tatsächlichwirkt
er eher jugendlich.Silvana Giani platziert
einegroßePlattemitpaniertenKalbsschnit-
zelnvorihrem Mann.„E rkannsichimWinter
ersteinmalausruhen,imSommerbrauchen
wirihnamSteuer!“Allelachen.DerAnbau,in
dem sie leben, wurde erst 1985 gebaut.Im
Bootshaus nebenan kann man besichtigen,
wie die Bootsführer und später dieFamilie
Giani vorher gelebt haben: inHolzkabinen,
dieobeninsGebälkgehämmertundnurüber
Leiternzue rreichenwaren.„Dashabeichnur
durchmeinegroßeLiebezumCapitanomit-
machenkönnen“,sagtSilvana Giani.
Zeitfür dienächsteRundeüberdenSilser-
see.EineFamiliestehtamSteg.Elternmitrie-
sigenSonnenbrillen,eindreijährigerSohnmit
blondenLocken,einecircaeinjährigeTochter,
diebislangnurSchneidezähnehat.Siehaben
einen sehr großenKinderwagen dabei. Als
GiacomoRotaihneinlädt,füllterdengesam-
tenBugaus.DerkleineJungerenntsofortzum
Kapitän und schaut ihm über die Schulter.
Normalerweise kostenKinder die Hälfte und
Kinderwagenextra–aberFrancoGianiraunt
Giacomo Rota zu:„EhiGiacomo,non far pa-
gareilb ambinello.“DasKindfähr tkoste nlos,
der Kinderwagen auch. „Wirklich?Ichkann
gerne...“DerVateristerstaunt.
Giacomo Rota löst die Leinen.Wieschon
Tausen de Male zuvor steuertGiani auf den
Seehinaus.Ers chiebtdieK apitänsmützemit
demZeigefingerausderStirn. InGenuahabe
er sie vorJahren gekauft, sagt er.Kam ihm
nicht spätestens dort, an einem der größten
Häfen Europas,der Gedanke,ein Schiff auf
hoher Seezun avigieren?Hatte er nieSehn-
sucht nach denOzeanen? Giani schüttelt
energischdenKopf.„Das Meeristlangweilig,
dortseheichnurdenHorizont“,sagter.„Hier
dagegen habe ich all das.“Er zeigt im Halb-
kreis um sich herum. Dastürki sschim-
mernde Wasser ,die sich sanft imWind wie-
gendenLärchenwälderamUfer,dahinterdie
steilen und schroffen Felsen der Lagrev-
Gruppe,deren Gipfel noch schneebedeckt
sind. Gegenüber eine saftig-grüneWiese.
ZwischengurgelndenBächenweidenKühe.
Dieletzte FahrtdesTages macht Ehefrau
Silvana Giani mit. „Ich mag die Landschaft,
besonders imNachmittagslicht“, sagt sie.
„Der SeehatjenachSonnenstandundWetter
unterschiedlicheFarben–esg ibthierimmer
was zu entdecken.“Siezeigt auf eineBank,
die versteckt zwischen Bäumen amUfer
steht.„Diehabeichnochniegesehen.“Mor-
gens habe sie keineZeit mitzufahren.„Ich
muss kochen–der Capitano hat immer viel
Hunger.“Siesagtdasmiteinemliebevolliro-
nischenTonfall.Dann,essindnochzehnMi-
nuten bis zur nächstenAbfahrtzurück in
RichtungSils,schlendertGiani am Ufer ent-
lang. EinKapitän, der in sich gekehrtüber
denSinndesLebensnachdenkt,könnteman
meinen. DochGianisteuertdie Motorräder
an, die amUfer park en, eineGruppe BMW-
Maschinen, anerkennend nickend umkreist
ersie .„IchhabeeineEnduro“,sagter.
Zurückan BordzeigteraufseinemHandy
ein Foto ei nesf euerrotenFiat Cinquecento
mit Spoilern: „MeinZweitwagen.“Er grinst
schelmisch. „DieVersion mit dem stärksten
Motor“,sagtGiacomoRota.„Alsereinmalda-
mithierwar,hatmandasRöhrendesAuspuffs
imganzenTalgehört.“ FrancosFrauverdre ht
die Augen und blickt genHimmel als erbitte
siesichdortBeistand.„Eristdaraufsostolzwie
ein 20-Jähriger.“DerKapitän zuckt entschul-
digenddieAchselnundgrinstimmernoch.
DieAbfahrtszeit inMaloja rückt näher.
EinzigePassagiere:dieFamiliemitdemgro-
ßen Kinderwagen und den beiden kleinen
KinderngehtwiederanBord.FreudigesWie-
dersehen,Elternund Kinder strahlen.Die
„Segl Maria“ tuckertüber denSee. Nach 15
MinutenhältFrancoGianiKursaufdenAnle-
gervonPlaundaLej.KeinMenschstehtdort,
er fähr tamS teg vorbei und nimmt bereits
Kurs auf Sils.Der Familienvater springt auf,
ruft:„Hallo,wirmüssenhierraus!“In seinem
Gesicht eineMischung ausFassungslosigkeit
und Belustigung. „Oh,verdammt“, ruft Gia-
comoRota.„Ichhabevergessen,demKapitän
zu sagen, dassSiehier raus wollten.“Franco
Giani lächelt und dreht dasBoot wieder in
RichtungPlaun da Lej.Beim Ausstieg ist der
Abschied herzlich, derFamilienvater macht
den Eindruck, als habe er gerade einAben-
teuererlebt,vondemernochlangeerzählen
werde. DieLässigkeit der italienischenCrew
beeindruckt.„AllesGute–undnoch weitere50
JahrealsKapitän!“,rufter .Gelächter.„25wür-
denmir reichen“,antwortetSilvana Giani.
AufderletztenEtappenachSilsistdieFa-
miliealleineaufdemBoot.DerKapitän,der
seinem Nachfolger in spe immerversucht,
etwas beizubringen,zeigt Giacomo Rota die
Tankanzeige–sie zeigt jetzt einen größeren
Füllzustand an als beim letztenStopp.„Weil
das Boot eben nicht gerade imWasser gele-
genhat“,erklärter. DenDieselfürdieBoots-
Motoren kauftGiani bei derTankstelle.„Wir
würden gerne aufElektromotoren umstei-
gen“, sagtGiacomo Rota.„Allerdings gibt es
amBootshausbislangkeinenStrom.“
DerHeimathafen inSils liegt nun nicht
mehrimSchatten.FrancoGianifähr tdie„Segl
Maria“ zum Steg, das Nachmittagslicht färbt
siegolden.Silvana, GiacomoRotaund Franco
GianivertauendasBoot,dannziehensiePla-
nenüberHeckun dBug.DieWettervorhersage
ist gut. Kapitän Franco Giani wir ddas Kurs-
schiffmorgenwiederrausau fdenSeesteuern.
Alpenidyll: Der Silsersee erstrahlt in der Sonne, im
Hintergrund die Lagrev-Berge. GIAN GIOVANOLI (2)