Berliner Zeitung - 21.09.2019

(Ron) #1

BERUFLICHEBILDUNG


Dass „LehrjahrekeineHerrenjahre“ sind,
verzeichnete schon 1847 ein Sprichwör-
ter-Lexikon–und es giltwohl bis heute.
Wie die Lehrjahreaberkonkret aussehen,
hat sich seitdem enormverändert.
Jahrhundertelang lag dieVerantwor-
tung der Berufsausbildung beim Betrieb:
Zünfteregelten als Berufsvereinigun-
gen die praktischeAusbildung. Lehrlin-
ge wurden durch denMeister in einem
bestimmten Beruf unterrichtet und nah-
men am familiären Leben desMeister-
haushalts teil. VieleMeister mögen die
Verantwortung der „Lehrlingshaltung“
sehr ernst genommen haben, letztlich
war der Lehrling aber auf desMeisters
Gnade angewiesen. Er musste gehor-
chen, Lehrgeld zahlen und wurde viel-
leicht sogar „gezüchtigt“.
Einheitlich geregelt war die Lehreauch
in der jungen Bundesrepublik noch nicht.
In denspäten 1950er-Jahren wagten die
Gewerkschaften einenVorstoß für ein

Gesetz. Nachweiterenzehn Jahren poli-
tischen Ringens gegen erhebliche Behar-
rungskräfte trat 1969 unter derRegierung
Kiesinger/Brandt das Berufsbildungs-
gesetz(BBiG)in Kraft– nichtzufälligim
politischenUmbruch-KlimaderStuden-
tenbewegung.Vonnun an war berufliche
Bildung nicht mehr Privatsache, sondern
eine gesamtgesellschaftlicheAufgabe.
Das BBiG wurde zum Erfolgsmodell und
gilt bis heute als„Verfassung der Berufs-
bildung“.Erstmalsregelte derStaat hier
Rechte und PflichtenvonAuszubilden-
den und Betrieben undverankerte Lern-
inhalte und die Organisation einer dualen
Ausbildung in Betrieb und Berufsschule.
2005 wurde das Gesetz zuletztreformiert.
Nun steht eineweitereNovelle bevor.
Auch wenn esweiterhinkeine „Herren-
jahre“seinmögen,das zukunftsgerich-
teteAusbildungssystemvonheute ist al-
len antiquiertenVorstellungen endgültig
entwachsen.

Das Ende der


„Lehrlingshaltung“


Vor50Jahrenrevolutionierte ein Gesetz die berufliche Bildung


Können berufliche Bildungswege


denn mit denAufstiegschancen


nach einemStudium mithalten?


AnjaKarliczek:Nachder Ausbildung


können Karrierewege bis in den Ma-


nagementbereich oder auf den Chef-


sessel des eigenenUnternehmens


führen. Die höherqualifizierende Be-


rufsbildung bietet vieleAufstiegs-


möglichkeiten–bis auf Master-Ni-


veau. Wir haben in Deutschland zwei


attraktiveBildungswege: die beruf-


liche und die akademische Bildung.


Beidesindgleichwertig.Dahermöch-


te ich einheitliche Abschlussbezeich-


nungen einführen, die dies auch deut-


lich machen:„Geprüfter Berufsspe-


zialist“,„Bachelor Professional“ und


„Master Professional“.


Gerade zu diesen Bezeichnungen


gibt es Kritik vonseiten derHoch-


schulen.Verschwimmen zukünftig


die Grenzen zwischen dualer


Ausbildung undStudium?


AnjaKarliczek:Beide Karrierewege


sind eigenständig und sollen es auch


bleiben.Ichmöchte transparent ma-


chen, zuwelcher Qualifikationsstufe


eineFortbildung führt.Jederkennt


den Handwerksmeister,aber viele


der übrigen Abschlüsse sindwenig


bekannt.Werweiß imAusland schon,


was sich hinter dem„GeprüftenAus-


undWeiterbildungspädagogen“ver-


birgt?International geschätzte Be-


zeichnungen wie der „Meister“ blei-


ben selbstverständlich bestehen.


Persönlich gefragt:Waswürden


Sie einem jungenMenschen sagen,


der Sie nach den Chancen einer


Ausbildung fragt?


AnjaKarliczek:Ichfreue mich über


alle,die sich für eineAusbildung inte-


ressieren. Denn ich sehe in derAusbil-


dung viele Chancen. Am wichtigsten


ist für mich: Eine dualeAusbildung ist


der Grundstein für ein erfolgreiches


Berufsleben. Da wir mehr als 300Aus-


bildungsberufemit ganz unterschied-


lichenAusrichtungen haben, bietet


sich jungenMenschen eine Vielzahl


an Wahlmöglichkeiten.Jederkann so


den Beruf finden, der zu seinen per-


sönlichen Begabungen undInteres-


sen passt.


Der starkePraxisbezug während der


Ausbildung und attraktiveAufstiegs-


optionen nach derAusbildung bieten


jungenMenschen zudem große Chan-


cen, die eigenenFähigkeiten undTa-


lenteweiterzuentwickeln.Unddie be-


ruflichenPerspektiven sind hervor-


ragend, denn qualifizierteFachkräf-


te sind gefragt. Die Zahlen sprechen


hier für sich: 74 Prozent derAuszu-


bildendenwerden nach derAusbil-


dungvonihrem Betrieb übernom-


men. Die jungen Leutewechseln


somit nahtlos in die Beschäftigung.


Davonkönnen andereBildungswege


nur träumen. Die Entscheidung für


eineAusbildung ist damit eine Ent-


scheidung für eine perspektivenrei-


cheZukunft.


FortsetzungInterview


Gemeinsam dieZukunft im Blick: Das BBiG stärkt auch die innerbetriebliche Position vonAuszubildenden.

WieKarrieren ins Laufen kommen


Berufsschuleohne Handy,WLAN und
Beamer?Für MarcReis undenkbar.Der
Trierer Diplom-Informatikerkamvor zehn
Jahren als Quereinsteiger in die Berufs-
schule und setzt heute digitaleTechnik
gezielt imUnterricht ein.
Ebenso wie seineKollegin Kathrin Ollas
aus demwestfälischen Marl: „Eine mo-
derne IT-Infrastruktur hilft uns dabei,

unsereSchulezeitgemäßweiterzuent-
wickeln–verbunden mit entsprechen-
den Fortbildungsangeboten für Lehr-
kräfte.“
Nicht nur Berufsschulen, auchAusbil-
dungsbetriebe nutzen neue technische
Möglichkeiten, um praxisnah aus-und
weiterzubilden.Audi zum Beispiel setzt
aufMobile Learning per App, Simulatio-

nen in virtuellenWelten undAugmented
Reality.„Auch digitaleCommunitys und
Onlinekonferenzen sind heute wichtige
Tools, um Wissen auszutauschen“, so Die-
ter Omert, Leiter der Berufsausbildung
und fachlichenKompetenzentwicklung
beimIngolstädterFahrzeugbauer.
In einem Punkt sind sich Lehrkräfte und
Auszubildende einig: Auszubildende

müssen neben demUmgang mit neu-
esterTechnik lernen, sich ständig auf
neue Anforderungen und Entwicklungen
einzulassen.
„Schließlich“, so GerhardMüller,Be-
rufsschulleiter in Kiel, „bereiten wirdie
Schülerinnen und Schüler auf eine Ar-
beitsweltvor,inder sie auch 2050 noch
bestehen sollen.“

Praxis und Theoriemit Bits undBytes


Ohne digitaleTechnik geht in derAusbildung nichts mehr


Lernen
im Betrieb

Höherqualifizierende


Berufsbildung


Direkteinstieg in
den Arbeitsmarkt

wurden 2017vonihrem
Ausbildungsbetrieb
übernommen

Lernen in der
Berufsschule

engeVerzahnung
vonTheorie und Praxis

DualeAusbildung


in über 300verschiedenen Berufen


2bis 3,5 Jahre
Anrechenbarkeit je nachVorerfahrung

Bald mit neuen
Abschluss- Abschlussbezeichnungen:
bzw. Gesellen-
prüfung

74 %


Geprüfte Berufsspezialistin/
GeprüfterBerufsspezialist

Bachelor Professional


Master Professional


Perspektiven


Unternehmerin/
Unternehmer
(z.B.Selbstständigkeit,
Gründung deseigenen Betriebs)

Führungskraft


Expertin/
Experte

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