Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

»Du hast doch studiert«, wandte er sich an den Sohn, »was meinst du
denn dazu?«
Attilio sah ihn erstaunt an. »Wozu?«
Sein Vater lächelte zögernd, als wolle er seine Dummheit entschuldigen.
»Ja, also ... ob es nun diese vielgepriesene unsterbliche Seele gibt oder
nicht?«
Mit seinem fünfzehnten Geburtstag hatte Attilio Ernani an Körpergröße
eingeholt; doch noch nie hatte er sich neben ihm so gigantisch groß gefühlt.
Er war versucht, ihm den Arm um die Schulter zu legen. Doch er schämte
sich und zuckte daher mit den Achseln.
»Ich weiß es nicht«, erwiderte er.
»Dann glaubst du also nicht, dass wir sie je wiedersehen werden?«
Attilio presste die Lippen aufeinander. Seine Zunge fühlte sich an wie ein
Reibeisen.
Ernani interpretierte sein Schweigen richtig und murmelte: »Ich auch
nicht.«


Als sie zu Hause waren, setzte sich Ernani mit seinem Sohn auf das Ehebett
und öffnete die Blechdose der Nationalen Kaffee-Ersatz-Industrie.
»Hier bewahrte sie alles auf, was du ihr geschickt hast«, sagte er.
Er zeigte ihm, wie Viola die gesamte Korrespondenz von Attilio
gesammelt hatte, Briefe aus Abessinien und selbst die kleinste Ansichtskarte,
eine Werbeschrift der Übersee-Ausstellung, sogar den für ungültig erklärten
Einberufungsbefehl, Zeitungsartikel aus dem Resto del Carlino über die
Fortschritte an der Front samt dem Foto, das auf dem Amba Work entstanden
war. Auch seine selteneren Briefe aus Rom waren dabei.
»Sie waren ihr heilig.« In Ernanis Stimme schwang keine Spur von
Bitterkeit mit, auch kein Neid; es war eine objektive Feststellung.
»Und die hier?«, fragte Attilio und zog zwei gelbe Umschläge hervor.
»Die sind nicht von mir.« Er drehte einen um und las den Absender. »Der ist
von Carbone!«, rief er.
»Wer ist das?«
»Ein Kamerad von mir, wir waren zusammen im Krieg. Aber warum hat
Mamma ihn mir nicht weitergeleitet wie die anderen Briefe?« Das Dreieck
auf der Rückseite mit der Klebefläche ging von allein auf, es war
oberflächlich wieder zugeklebt worden, nachdem es über Dampf gelöst

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