Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

Wenn ihr Gesicht befreit wurde, richteten die Subjekte sich mit
aufgerissenen Augen und grauen Lippen auf, die Haare voll Gips. Manche
phantasierten, die meisten waren stumm entgeistert. Die Frauen erholten sich
schneller, waren kurz nach dem Aufstehen wieder wie zuvor. Die Männer
musste man stützen, damit sie nicht über die eigenen Füße stolperten. Attilio
band ihnen nicht sofort die Handgelenke los. Er ließ sie von einem
bewaffneten Askari in einen abgetrennten Raum führen und dort unter
ständiger Bewachung warten, damit sie nicht dem nächsten in der Reihe
etwas erzählten. Einmal gelang es einem jungen Mann mit rasiertem Schädel
und zerlumpten Sklavenkleidern, der Bewachung zu entkommen. Er sprang
aus der Hütte, wo sein Gesichtsabdruck genommen worden war, rannte über
die staubige Straße durch das Dorf und schrie aus vollem Hals: »Sie haben
mir mein Gesicht gestohlen, sie haben mir mein Gesicht gestohlen!« – doch
niemand übersetzte Cipriani seine Worte. Die vor der Hütte wartenden
Subjekte liefen davon. Die Askaris konnten den Tumult erst beruhigen,
indem sie ein paarmal in die Luft schossen, doch der Gips in den Eimern war
längst hart geworden. Da Attilio Racheakte befürchtete, postierte er die
Askaris zur Bewachung an beiden Seiten des Lagers. Doch das war
überflüssig – die Dorfbewohner hielten sich für den Rest des Tages fern.
Da nun keine weiteren Masken mehr zu erwarten waren, schloss Cipriani
sich in seinem Zelt ein, um die genommenen Abdrücke der letzten Wochen
zu bearbeiten. Er legte großen Wert darauf, dass sie fertiggestellt waren,
bevor sie zur Verschickung nach Italien verpackt wurden.
Das Positiv des Abdrucks wurde sofort hergestellt, wenn das Negativ
vom Gesicht gelöst war, ebenfalls aus weißem Gips. So fehlte ihm das
wichtigste Merkmal für die Katalogisierung der Rassentypen: die Farbe.
Bevor sich die Teilnehmer auf den Boden legten, stellte Cipriani die Färbung
ihrer Haut (nach der Von-Luschan-Skala) und der Augenbrauen (nach der
von Fischer) fest. Bertoldi notierte die der Farbabstufung entsprechenden
Ziffern in seinen Block. Dieselben Nummern standen auf den Farbtuben, die
Cipriani in einer Holzkiste zusammen mit den Pinseln, Lösungsmittel und
Löschwatte aufbewahrte. Die Pigmente glichen denen auf der Palette eines
farbenblinden Malers. Sie reichten von Blassrosa bis Schwarz, nichts Grünes
oder Blaues.
Cipriani nahm die rohen Masken und begann sie eine nach der anderen zu
bemalen.

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