Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

noch klein war. Es war eine ganz neue, beängstigende Erfahrung der
Verletzlichkeit. Und Attilio ging damit um wie mit allen komplexen
Gefühlen – er tat so, als wäre nichts.
Als sie sich kennenlernten, konnte Abeba nur »Soldat«, »Ciao«, »Auto«
und wenig mehr sagen. Doch bald schon unterhielt sie sich ungezwungen auf
Italienisch und ließ dabei ihre Zunge gegen die Zähne schnalzen. Attilio
seinerseits lernte auf Amharisch nicht mehr als die Zahlen, die er brauchte,
um auf dem Markt zu handeln. Es gab keinen Grund, mehr zu können. Die
Askaris waren Truppen des Imperiums, er fand es nur natürlich, dass sie die
italienischen Befehle verstanden. Und wenn er Zivilisten Kommandos geben
wollte, hatte er immer den Sprachführer für Ostafrika in der Tasche.
Im Übrigen hätte Attilios Leben in Addis Abeba sich genauso gut in
einem der neuen faschistischen Viertel einer Stadt in Italien abspielen
können. Überall – in seinem Postbüro mit Ausnahme der Träger, die Afework
abgelöst hatten, im Offiziers-Club, in der Kantine – hatte er fast nur mit
Italienern zu tun. Das Kino Imperium, einer der kürzlich erst fertiggestellten
Neubauten in der neuen faschistischen Stadt, sah so vertraut aus, dass es auch
im Zentrum von Lugo nicht aufgefallen wäre: Verkleidung aus
Kachelmosaik, vertikale Fenster mit klassischen Zwischenräumen,
rationalistische Aufteilung von Fläche und Inhalt. Als Schneewittchen lief,
dachte Attilio zerstreut, dass der Film Abeba gefallen hätte. Aber Negern war
der Zutritt in die Kinosäle von Italienisch-Ostafrika verboten.
Um die Alltagsdinge, bei denen man mit Eingeborenen zu tun hatte, mit
Bäckern, Arbeitern und selbst Händlern, die an die Haustür kamen, kümmerte
sich Abeba. Wenn Attilio eingreifen musste, übersetzte sie für ihn. Attilio
war es nicht unrecht, die häuslichen Kontakte mit den Schwarzen so weit es
ging an sie zu delegieren. Er hatte genug davon um sich herum. Der einzige
Mensch mit afrikanischem Blut, der ihn interessierte, war sie. Auf alle
anderen konnte er nach zwei Jahren Afrika gerne verzichten.
Abeba ging allein zum Einkaufen zu den Markthändlern. So konnte sie
auch ein paar Worte in ihrer Sprache wechseln, während sie sonst den ganzen
Tag zu Hause war und auf Attilios Rückkehr wartete. Sicher, manchmal
fühlte sie sich einsam. Es war seltsam, so viele Stunden nur mit sich zu
verbringen, keine Stimme eines Verwandten in ihrer Nähe zu hören – egal ob
blutsverwandt, angeheiratet, geliebt oder gehasst. Das hatte sie bisher nicht
erlebt. Jede noch so kleine Geste hatte sie ihr Leben lang unter den

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