Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

bezeugenden Augen anderer vollführt. Nun war sie für zwei Drittel des Tages
komplett allein. Attilio war ihre ganze Familie: Er war ihr Vater, ihre Mutter,
ihre Großeltern, ihr Bruder.
Bekele. Wo er wohl war? Wie es ihm wohl ging? Hatte er genug zu
essen, war er verletzt, war er am Leben, war er im Gefängnis? Wenn ihm
etwas Schlimmes passiert war, hätte ihre Großmutter sicher eine Nachricht
geschickt. Dennoch lastete manchmal die Sorge schwer auf ihrer Brust wie
einer dieser schwarzen Geister, die nicht einmal die Abune verjagen konnten.
Schatten, die man nur in sich trägt, die man aushalten muss, in den
schlimmsten Fällen, wie der Großvater ihr geraten hätte, im Fasten, bis sie
sich von selbst verziehen. Sie hatte keine Sorge, dass Bekele sie verachten
könnte, weil sie mit einem dieser talian zusammenlebte, gegen die er
kämpfte. Ihre Großmutter hatte sie vor ihrer Abreise nach Addis Abeba
beruhigt: »Seit den Zeiten der Königin von Saba und des Königs Salomon«,
hatte sie gesagt, »passieren zwei Dinge, wenn Fremde aufeinandertreffen:
Krieg oder Liebe. Und häufiger noch beides zugleich.«
Nein, ihr Gedanke war schlicht der der jüngeren Schwester. Es war der
Wunsch, mit dem Lieblingsbruder ein Scherzwort zu wechseln, ihn wütend
zu machen wie damals, als sie noch ein Kind war und er schon die Kühe
hütete und darauf wettete, dass es ihr nicht gelingen würde. Die Sehnsucht
nach ihm traf sie hinterrücks, ließ sie auf dem Markt mit den Blicken Fremde
verfolgen, deren Schritt sie wiederzuerkennen glaubte, eine Art, mit den
Schultern zu zucken. Dann drehten sie sich um, und die Illusion war vorüber.
So sehr fehlte ihr das Blut von ihrem Blut, dass sie Attilio bat, von
seinem zu erzählen. Das tat er gern. So berichtete er beim Essen von seiner
Mutter Viola, die so gut kochen konnte, vom Bruder Otello, der sich mal
besser als Freiwilliger für den siegreichen Krieg hätte melden sollen, um
seine Melancholie zu überwinden. Er beschrieb die riesigen Züge aus
Gusseisen und Stahl, die sein Vater mit einer schlichten Handbewegung zum
Halten brachte. Die edlen Mauerfassaden der Häuser von Lugo und die
genauso schönen oder noch schöneren, die die italienische Kultur im neuen
Imperium errichten würde. Er erzählte ihr von Gräfin Paolina Baracca, die
mit den Orden auf der Brust durch die Straßen spazierte, das lebende
Denkmal für ihren Sohn Francesco, den großen Piloten.
Abeba hörte zu, ließ sich kein Wort entgehen, bat um Erklärung, wenn sie
etwas nicht verstand. Ihrerseits erzählte sie nichts von dem unfähigen,

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