gewalttätigen Ehemann, nichts vom asketischen Großvater, nicht einmal von
ihrem geliebten Bekele. Nicht, weil sie nicht gewollt hätte oder
Vertraulichkeiten für sich behalten wollte, sondern schlicht, weil er sie nie
danach fragte.
Auf diese Weise erfuhr Abeba viele Dinge aus seiner Vergangenheit, über
seine Vorlieben und seine Person, während Attilio von ihr in den Jahren ihres
Zusammenlebens nicht viel hörte. Sicher, nachdem sie zwei Jahre jede Nacht
dasselbe Bett und jeden Tag die Mahlzeiten am Tisch geteilt hatten, würde er
sie in seinen Briefen nicht mehr als »geheimnisvoll«, »exotisch« oder
»unnahbar« beschreiben, wie viele seiner Landsmänner es mit den
abessinischen Frauen taten. Doch sein Interesse an ihr beschränkte sich
weitgehend auf ihren Körper. Was Abeba dachte, fühlte, wollte, interessierte
ihn nicht. Es war die paradoxe Schwäche der Bezwinger: Sie wissen wenig
über die Bezwungenen, während diese notwendigerweise alles über sie
wissen. Und in den Briefen an seine Mutter kam Abeba nie vor.
Eines Abends nach dem Essen, als er mal keine Briefe schrieb, blätterte
Attilio in einer Zeitschrift, die gerade mit der Post gekommen war. Auf der
blassgrünen Titelseite prangte ein schwarzes Quadrat, in dem drei Gesichter
im Profil abgebildet waren: das schneeweiße Gesicht einer römischen Statue,
dann ein Mann mit sehr großer Nase und merkwürdigen Löckchen rechts und
links von seinem Gesicht und eine afrikanische Frau. Sie hatte die groben
Gesichtszüge einer Sklavin, fand Abeba, Ziernarben im Gesicht und die
Haare wie von Schlamm verklebt. Das Profil des weißen Mannes war von
den beiden anderen durch ein Schwert getrennt, doch auf seiner unbefleckten
Marmorwange hatte jemand einen Fingerabdruck hinterlassen wie von
rußverschmierten Händen.
Abeba, die wie immer Attilios Gemütszustand verfolgte, sagte: »Dieses
Buch macht dir Freude.«
»Es ist kein Buch. Es ist eine Zeitschrift: Die Verteidigung der Rasse. Ja,
ich freue mich darüber, weil bald auch ich darin schreiben werde.«
Abeba war nicht zur Schule gegangen, hatte aber bisher nie darunter
gelitten, nicht lesen zu können. In ihrem Dorf gab es nicht viele Buchstaben,
und wenn, nur in der Kirche. Lesen zu lernen hieß für eine Frau, Nonne zu
werden, und das war sicher nicht ihr Schicksal. Seit sie mit Attilio lebte, der
immer über seinen Briefen und Büchern saß, hatte sie sich gefragt, wie das
wohl war, die eigenen Gedanken auf einem Blatt Papier festhalten zu können,
jeff_l
(Jeff_L)
#1