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n den Ställen von Jörn Siemann ste-
hen 170 schwarz-weiß gefleckte Rin-
der, viel mehr passen nicht auf seinen
Hof im schleswig-holsteinischen Landkreis
Segeberg. Wird sein Bestand zu groß, muss
er verkaufen, wie zuletzt im Frühjahr: Für
fünf trächtige Tiere fand er einen Abneh-
mer in Russland, der »einen ordentlichen
Preis« gezahlt habe, 1075 Euro für jedes
Rind der Rasse Holstein-Friesian. Siemann
hat überzählige Kühe auch schon in die
Türkei oder nach Ägypten transportieren
lassen.
Doch künftig wird er seine Tiere nicht
mehr so unkompliziert verkaufen können
wie bisher. Das liegt an der Amtstierärztin,
die für die Sammelstelle zuständig ist, von
der die Rinder aus Schleswig-Holstein ab-
transportiert werden. Die Veterinärin wei-
gert sich seit einigen Monaten, den Export
in Staaten außerhalb der EU zu genehmi-
gen. In Bayern und Hessen ist es ähnlich:
Auch dort haben die verantwortlichen
Veterinäre solche Langstreckenfahrten
gestoppt.
Anderswo werden die Genehmigungen
weiterhin erteilt, Bauer Siemann könnte
seine Rinder etwa über Sammelstellen in
Brandenburg oder Niedersachsen ver -
schicken. Denn die Verantwortlichen in
Deutschland haben sich in zwei Lager
gespalten. Die einen glauben, dass die
Tiere auf den Transporten gequält werden.
Die anderen halten das für übertrieben.
Jahrelang war es für Landwirte und
Zuchtverbände kein Problem, überall in
Deutschland die nötigen Stempel und Un-
terschriften zu bekommen. Die Transpor-
teure müssen sicherstellen, dass unterwegs
das Tierwohl gewährleistet ist, durch re-
gelmäßige Versorgung mit Futter und Was-
ser, zwischenzeitliche Rast in speziellen
Stationen auf der Strecke und erträgliche
Temperaturen in den Frachtboxen.
Doch entspricht das, was auf den Papie-
ren steht, der Wirklichkeit? Tierschützer
bezweifeln schon lange, dass die Vorschrif-
ten eingehalten werden. Im vergangenen
Jahr wurde die Kritik in der Fachzeitschrift
»Amtstierärztlicher Dienst« aufgegriffen
und die Rolle der Veterinäre hinterfragt.
In der Branche hat das Aufsehen erregt,
mehrere Behörden haben anschließend
ihre Praxis geändert.
Eine der Verantwortlichen ist Manuela
Freitag, die das Veterinäramt Rendsburg-
Eckernförde leitet. Seit mehr als 20 Jahren
prüft Freitag die Anträge für Transporte,
die über die Sammelstelle in Schleswig-
Holstein laufen sollen. »Ich habe darauf
vertraut, dass auf den Routen alles
rechtens zugeht«, sagt sie, »das war naiv
von mir.«
Freitag schaute genauer hin und stieß
auf gravierende Mängel: Transportzeiten
wurden nicht eingehalten, Tiere nicht aus-
reichend versorgt. Bei Fahrten im Sommer
wurde die zulässige Maximaltemperatur
von 30 Grad Celsius teils deutlich über-
schritten. Die Amtsleiterin sagt: »Es stellte
sich heraus, dass keine Route der Über-
prüfung standhalten konnte.«
Nun macht sie sich Vorwürfe, dass sie
Tierquälerei ermöglicht habe. Sie denke
auch an die ethische Verantwortung, die
sie als Tierärztin habe und die sie verpflich-
te, »für das Wohlergehen aller Mitgeschöp-
fe Sorge zu tragen«.
Als Beispiel für vorschriftswidrige
Transporte nennt sie Fuhren nach Usbe-
kistan, die sie früher genehmigte. Freitag
fand heraus, dass bereits ab Moskau keine
Abladestelle mehr nachgewiesen werden
kann, 3000 Kilometer vom Ziel entfernt.
Wahrscheinlich handle es sich um eine
Fahrt von mehreren Tagen, sagt sie, ob-
wohl die Rinder laut EU-Tierschutztrans-
portverordnung nach höchstens 29 Stun-
den für eine längere Ruhezeit abgeladen
und versorgt werden müssen. Als Freitag
die Routen nach Marokko überprüfte,
habe sich herausgestellt, dass die Vie h -
anhänger bei rauer See manchmal tage-
lang in europäischen Häfen herumstünden,
ehe eine Fähre nach Nordafrika ablegen
könne.
Ihre Kollegin Silke Neuling, Leiterin
des Veterinäramts im brandenburgischen
Landkreis Teltow-Fläming, kennt die Vor-
würfe, die gegen die Genehmigung solcher
Fahrten erhoben werden, aber sie gehört
dem anderen Lager an. Sie hält es für
falsch, Transporte in Nicht-EU-Staaten
generell zu verweigern. »Auch wenn es
jemand aus ethischen Gründen ablehnt,
Tiere so weit zu transportieren, hat er kein
Recht dazu, Exporte in Drittländer ein -
fach nicht abzufertigen«, sagt Neuling. Sie
gehe davon aus, dass eine geprüfte und ge-
nehmigte Auslandsfuhre ordnungsgemäß
durchgeführt werde. Die Sammelstelle im
Kreis Teltow-Fläming ist eine internatio-
nale Drehscheibe für den Export von Rin-
dern in weit entfernt liegende Länder wie
Usbekistan, Russland, Ägypten, Aserbaid -
schan oder die Türkei.
Die Kritik von Tierschützern richtet sich
allerdings nicht nur gegen die Transport-
bedingungen, sondern auch gegen die
Methoden, mit denen die Rinder später
geschlachtet werden. In einigen Ländern
ist es üblich, die Tiere zu schächten, was
mit dem deutschen Tierschutz in der Regel
nicht vereinbar ist.
Wird dem Tier ohne Betäubung die Keh-
le durchgeschnitten, um es ausbluten zu
lassen, tritt der Tod oft erst nach qual -
vollen Minuten ein. Manchmal stechen
die Schlachter den Rindern vorher die
Augen aus.
Amtsveterinärin Neuling hält die Praxis
des Schächtens bei ihren Entscheidungen
für irrelevant. Sie verweist darauf, dass die
Schlachtbedingungen nicht Teil der Tier-
schutztransportverordnung seien, deshalb
müsse sie sich im Genehmigungsverfahren
nicht damit beschäftigen. Auch moralisch
sieht sie kein Problem: »Ich kann mir nicht
anmaßen, anderen Ländern unsere euro-
päischen Tierschutzstandards aufzuzwin-
gen«, sagt sie.
In der Auseinandersetzung um die Tier-
transporte hat nun die nächste Runde be-
gonnen. Die Tierschutzorganisation Peta
geht juristisch gegen Amtsveterinäre aus
Teltow-Fläming und zehn weiteren Land-
kreisen vor. Ende Juli hat sie die Behör-
denmitarbeiter bei den Staatsanwaltschaf-
ten angezeigt, ihr Vorwurf lautet unter
anderem »Beihilfe zur Tierquälerei«.
Den Beschuldigten sei bewusst gewesen,
heißt es in den weitgehend gleichlauten-
den Schriftsätzen, »dass Bestimmungen
der Tierschutztransportverordnung nicht
eingehalten werden können«. Peta-Exper-
42 DER SPIEGEL Nr. 37 / 7. 9. 2019
Deutschland
Reisen zum Schlachter
TierschutzZehntausende Rinder werden jährlich
in weit entfernte Länder transportiert. Etliche Veterinäre halten
das für Quälerei – und haben die Exporte gestoppt.
JOHANNES ARLT / DER SPIEGEL
Amtstierärztin Freitag
Gravierende Mängel entdeckt