Süddeutsche Zeitung - 07.09.2019 - 08.09.2019

(Rick Simeone) #1
von berthold neff

E


s dauert eine Weile, bis sich die
Augen an das Halbdunkel ge-
wöhnt haben. Und dann leuch-
tet ihnen, in matten Farben auf
der Mauer, das Bild des Gekreu-
zigten entgegen. Wer die Anastasia-Kapel-
le im Waldfriedhof betritt, fühlt sich in ei-
ne Zeit versetzt, in der sich die frühen
Christen, von den Machthabern verfolgt,
in dunklen Höhlen versammeln mussten,
um ihren neuen Glauben zu leben. Aber
wieso tragen die Schergen, die Jesus Chris-
tus quälen und verhöhnen, braune und
schwarze Uniformen aus der Zeit des Zwei-
ten Weltkriegs, wieso hat einer von ihnen
eine Pistole im roten Halfter umge-
schnallt?


Weil die Kapelle in einer Zeit gebaut
wurde, in der es in Deutschland dunkel
wurde, und weil der Münchner Maler Max
Lacher die Fresken vom Kreuzweg und
von der Auferstehung des Herrn erst kurz
nach Kriegsende auf den Putz malte. La-
cher war im Krieg dem Tod nur knapp ent-
ronnen, er schloss sich als Wehrmachtssol-
dat dem Widerstand an und wurde von
den Nazis in Abwesenheit zum Tode verur-
teilt. Vielleicht genau deshalb hat er einem
der Schergen, jenem mit dem Braunhemd,
der Krawatte und den Reitstiefeln, das Ge-
sicht von Adolf Hitler verpasst. Der Mann,
den man im Dritten Reich den Führer
nannte, zerrt den gefesselten Jesus mit ei-
nem Strick vorwärts und hebt seinen Arm
so ähnlich wie beim Hitlergruß – aller-
dings reckt er die Linke nach oben.


Drei Jahre nach Kriegsende, dem soge-
nannten Zusammenbruch, wirkte eine sol-
che Darstellung offenbar provozierend,
und zwar, wie es Hans Eckstein, der Kunst-
kritiker der Süddeutschen Zeitung am


  1. November 1948 formulierte, für jeman-
    den, „der sich mit Folterern und Henkern
    identifiziert, deren Existenz in grauen und
    schwarzen deutschen Uniformen doch
    wohl nicht gut bestritten werden kann“.
    In einer der letzten Novembernächte
    des Jahres 1948 wurde auf Lachers Fres-
    ken ein Anschlag verübt, eine der Fresken
    wurde mit Tinte beschmiert. Hans Eck-
    stein schrieb in der SZ: „Man kennt die Bar-
    baren zwar nicht mit Namen, aber man
    glaubt doch zu wissen, wie sie aussahen.
    Sie zerstörten nämlich ihr eigenes Bild,
    das dem Maler aus den Erlebnissen der
    jüngsten Vergangenheit mit so treffsiche-
    rer Drastik in den Henkern und Folterern
    darzustellen gelungen war.“ Die Täter hat-
    ten damals die verschlossene Tür der Ka-
    pelle aufgebrochen, und auch heute noch
    ist die Anastasia-Kapelle das ganze Jahr
    über durch eine Gitterwand versperrt.
    Pater Devis Don Wadin, der Pfarrer von
    St. Hedwig, nestelt an seinem Schlüssel-
    bund, dann öffnet er das Gitter und sagt:
    „Wir sollten die Kapelle viel öfter als nur
    für die Maiandacht nutzen.“ Er atmet den
    würzigen Duft der Bäume rings um die Ka-
    pelle im Waldfriedhof tief ein. „Dieser Ort
    hat eine spirituelle Aura“, sagt der 48 Jah-
    re alte Pfarrer, der aus Indonesien
    stammt, seit 23 Jahren in Deutschland
    lebt, Steyler Ordenspriester ist und vor
    zwei Jahren das Pfarramt in St. Hedwig
    übernommen hat, an der Hirnerstraße 1 in
    Sendling-Westpark, vom Waldfriedhof
    nur durch die Fürstenrieder Straße ge-
    trennt.
    Die Anastasia-Kapelle wurde 1932 nach
    dem Plan des späteren Stadtbaurats Her-
    mann Leitenstorfer errichtet, der kurz zu-
    vor das Alte Technische Rathaus an der
    Blumenstraße erbaut hatte, das erste
    Hochhaus der Stadt. Vielleicht bezweckte
    die Stadt, den Gläubigen damit einen Ori-
    entierungspunkt im doch sehr weitläufi-
    gen Waldfriedhof zu bieten. Der Bau aus
    Stein wurde von Kardinal Michael von
    Faulhaber am 8. Juni 1933 geweiht, knapp
    ein halbes Jahr nach Hitlers sogenannter
    Machtergreifung.
    Vor allem die älteren Gemeindemitglie-
    der von St. Hedwig verbinden mit der Ka-
    pelle besondere Erinnerungen. Besonders
    für die Vertriebenen, die nach Kriegsende
    in München zwar eine neue Heimat fan-
    den, aber zunächst keine Kirche, war die
    Kapelle wichtig. Viele Menschen aus dem
    damaligen Waldfriedhofviertel feierten
    dort lange Zeit den Gottesdienst, ein ge-
    drungener Holzbau mit Glaswänden an
    den Seiten und ein paar Bänken im Inne-
    ren bot ihnen Schutz vor Wind und Wetter.
    Von 1960 bis 1962, als die neue Pfarrkirche
    fertig wurde, hielt die Pfarrei St. Hedwig
    in der Kapelle ihre Messen. Danach geriet
    die Anastasia-Kapelle etwas in Vergessen-
    heit. Sie hat keinen Stromanschluss und
    damit auch kein Licht, verströmt ihren
    Zauber aber dennoch, wenn die Gläubigen
    zur Maiandacht dorthin kommen, ein Mal
    im Jahr.
    Florian Thurmair, heute 65 Jahre alt,
    der als kleiner Bub mit seinen Eltern oft
    zum Gottesdienst in die Kapelle ging, erin-
    nert sich noch gut an die besondere Atmo-


sphäre, die schon auf dem Weg durch den
verschneiten Waldfriedhof entstand. Sei-
ne Eltern Georg und Maria Luise, beide
Schriftsteller und maßgeblich am „Gottes-
lob“ beteiligt, dem Gebet- und Gesangs-
buch der deutschsprachigen Katholiken,
kamen mit ihren Kindern oft vom Loretto-
platz in die Kapelle. Auch er fände es
schön, wenn das Gotteshaus öfter zugäng-
lich wäre.
Bereits vor sieben Jahrzehnten, kurz
vor dem Anschlag auf die Fresken, hatte
man gefordert, die Kapelle zu öffnen. Im
Münchner Merkurschrieb Richard Braun-
gart am 10. September 1948: „Die Bilder
sind nichts für zarte Nerven, denn die Aus-
druckskraft des Mimischen und der Ges-
ten, die an die ekstatischen Maler der Spät-
gotik erinnert, geht zuweilen bis an die
Grenzen des Erträglichen.“ Diese Darstel-
lungen seien jedoch „Dokumente unserer
harten Zeit“, heißt es weiter in der Zei-
tungsmeldung, „und man muß bedauern,
daß diese bedeutende, umfangreiche

Schöpfung den meisten unbekannt blei-
ben wird, da die Kapelle nicht allgemein zu-
gänglich ist. Läßt sich das nicht ändern?“
Vielleicht schon. Und vielleicht gelingt
es auch, eine Kostbarkeit wieder zum Le-
ben zu erwecken, die derzeit verstaubt
und leicht angefressen in der Kapelle liegt:
die Orgel, deren satter Ton einst die Gottes-
dienste begleitete. Blasebalg, Windlade
und Pfeifen stehen über der Sakristei in ei-
ner eigenen Kammer, sind aber „sehr
stark verschmutzt“, wie der Münchner Or-
gelbauer Andreas Wittmann konstatierte.
Weil es sich bei dem Instrument um eine
Rarität handelt, ein Werk des seinerzeit
führenden Orgelbauers Carl Schuster, hat
sich Wittmann bereit erklärt, die Orgel zu
reparieren, ohne seine Arbeitszeit zu be-
rechnen. Die Materialkosten schätzt er auf
etwa 2000 Euro, das will die Kirchenge-
meinde durch eine Spendenaktion zusam-
menbringen. Klaus Eckardt, Leiter des
Gospelchors von St. Hedwig, hat die Reihe
„Musik + Worte“ initiiert, bei der Musiker
kostenlos auftreten, zum Beispiel am
Sonntag, 15. September, sowie am 22. Sep-
tember, jeweils 17 Uhr. Ihren großen Auf-
tritt hat die Anastasia-Kapelle aber bereits
an diesem Sonntag, 8. September, beim
Tag des offenen Denkmals. In Kooperati-
on mit der Pfarrei St. Hedwig lädt der Ge-
schichtsverein Hadern die Münchner von
10 bis 16 Uhr zum Besuch ein. Robert Dre-
her von den Städtischen Friedhöfen bietet
um 11 und um 15 Uhr eine Führung an.
So holt man ein Kleinod aus dem Dun-
kel des Vergessens – und zeigt, wie ein
Künstler nach dem Krieg Deutschlands
dunkle Vergangenheit bewältigt hat.

Die heilige Anastasia wird bei orthodoxen
undkatholischen Christen gleichermaßen
verehrt. Sie starb um das Jahr 304 in Sirmi-
um, dem heutigen Sremska Mitrovica in Ser-
bien, den Märtyrertod. Die Überlieferung be-
sagt, Anastasia habe sich in Rom um gefan-
gene Christen gekümmert und sei dabei
selbst ergriffen worden. Man verurteilte sie
zum Tode und trieb sie in einem leckgeschla-
genen Boot aufs Meer hinaus. Weil es aber
nicht unterging, wurde sie verbrannt. Eine
Reliquie von ihr wurde im Kloster Benedikt-
beuren schon zu frühgotischer Zeit verehrt,

sie wurde zumeist bei Kopf- und Nervenlei-
den angerufen. Die 1753 vollendete Anasta-
sia-Kapelle im Kloster, ein Juwel des Rokoko,
entstand als Dank für das „Kochelseewun-
der“ von 1704. Österreichische und Tiroler
Truppen wollten das Kloster überfallen und
planten, über die gefrorene Loisach, den
Kochelsee und das Moor anzugreifen. Am


  1. Januar jedoch, am Vorabend des Fest-
    tags der heiligen Anastasia, kam ein starker
    Föhnwind auf, der innerhalb von Stunden
    Tauwetter bewirkte. Der Angriff war geschei-
    tert, das Kloster gerettet. BN


Pasing– Da ist einiges zusammengekom-
men in der Sommerpause für die Sitzung
des Bezirksausschusses Pasing-Ober-
menzing am kommenden Dienstag,


  1. September. Beginn im großen Sit-
    zungssaal des Bürgerzentrums an der
    Landsberger Straße 486 ist um 19 Uhr.
    Die ohnehin schon ehrgeizige Tagesord-
    nung wird noch länger durch die stolze
    Anzahl von 20 Anträgen und Anfragen
    aus den Fraktionen. Es geht darin unter
    anderem um Maßnahmen gegen Schot-
    tergärten (CSU), eine Machbarkeitsstu-
    die für eine Seilbahn von Germering via
    Freiham und Pasing nach Laim, 100 neue
    Bäume pro Jahr für Pasing und Obermen-
    zing (beide SPD), den unverzüglichen Wie-
    dereinbau der Poller zwischen dem Geh-
    und Radweg in der Lieferzufahrt Pasing
    Arcaden (Grüne) und um den Bau eines
    Beachvolleyballplatzes an der Würm
    (Freie Wähler/ÖDP). czg


Laim– Das Baureferat gestaltet die Bus-
haltestelle „Agnes-Bernauer-Straße“ in
mehreren Schritten barrierefrei um und
erneuert den Fahrbahnbelag. Von Mon-
tag, 9. September, bis Ende des Monats
verbleibt auf der Nordseite der Agnes-
Bernauer-Straße zwischen Sigl- und Frie-
denheimer Straße stadtauswärts nur ei-
ne Fahrspur. Das Linksabbiegen aus der
Agnes-Bernauer- in die südliche Frieden-
heimer Straße ist in dieser Zeit nicht mög-
lich. Von 30. September bis Mitte Okto-
ber verbleibt dann auf der Südseite der
Agnes-Bernauer-Straße stadteinwärts
nur eine Fahrspur. Danach gehen die Ar-
beiten bis Ende Oktober weiter. gru

Planegg– Ob man das eigene Dirndl für
die nächste Wiesn nähen lernt, die Kin-
der in eine Weihnachtswerkstatt schickt,
wo sie sich auf die nicht mehr allzu in der
Ferne liegenden Feiertage vorbereiten
und ihre kreativen Ideen umsetzen kön-
nen, oder lernt, wie man Igeln bei der
Überwinterung hilft: Das Programm der
Volkshochschule im Würmtal von Sep-
tember 2019 bis Januar 2020 verspricht
wieder ein breites Spektrum an Aktivitä-
ten für Jung und Alt.
Aus etwa 800 Angeboten kann ausge-
wählt werden, und mit großer Sicherheit
ist dabei auch für jeden Geschmack et-
was dabei. Neben bewährten Klassikern
wie Kursen zu Tastaturschreiben, Tanz-,
Sprach- und EDV-Kursen sowie einem
großen Gesundheitsprogramm stehen
auch ungewöhnliche Kurse wie ein Harry-
Potter-Kochkurs für Erwachsene, der in
der Backversion auch für Kinder angebo-
ten wird, auf dem Programm. Mithilfe
der magischen Rezepte aus den Büchern
werden in den Kursen Eulenkekse und
Apfelstrudel gebacken und dazu Butter-
bier getrunken.
Außerdem kann man sich bei einem
Bummel durch das Kreuzviertel und die
Maxvorstadt auf die Spuren der alten
Münchner Kaffeehaus-Kultur machen
oder sich bei einem der mehr als 40 ange-
botenen Yogakurse dem Sonnengruß wid-
men.
Ganz im Sinne aktueller Debatten wer-
den auch Kurse angeboten wie „Orte des
Wandels – mit Lebensmitteln und Ernäh-
rung die Welt verändern“, bei dem die
Teilnehmer Initiativen und Orte in Mün-
chen kennenlernen, die sich für nachhalti-
ge Ernährung und Landwirtschaft einset-
zen. „Politik vor Ort – Engagieren im Ge-
meinderat“ möchte zum politischen En-
gagement anregen und die Bürger der
Würmtal-Gemeinden darüber infor-
miert, wie man sich lokalpolitisch einset-
zen kann. Und schließlich wäre man
nicht in der Münchner Region, wenn
nicht auch ein Kurs zum Bierbrauen ange-
boten werden würde.
Für die Veranstaltungen der VHS kann
man sich jederzeit schriftlich anmelden,
die Anmeldungen sollten jedoch mindes-
tens eine Woche vor Kursbeginn vorlie-
gen. Eine Anmeldung ist für alle Kurse
und Seminare nötig. Programmhefte
sind in der VHS-Geschäftsstelle, Am
Marktplatz 10 a in Planegg, sowie in den
Rathäusern und Bibliotheken erhältlich.
Infos über das Gesamtprogramm, Termi-
ne und Preise gibt es im Internet unter
http://www.vhs-wuermtal.de. Bundesweit fin-
det am Freitag, 20. September, außer-
dem die „Lange Nacht der Volkshochschu-
len“ statt. carlotta roch

Mit einer Spendenaktion
soll die Restaurierung
der Orgel finanziert werden

Aus dunkler Zeit


Adolf Hitler als einer der Henker, die Jesus auf seinem Kreuzweg quälen: An diesem Sonntag ergibt sich die seltene Gelegenheit,
Max Lachers Fresken in der Anastasia-Kapelle im Waldfriedhof zu sehen. Nun soll sie stärker ins Bewusstsein der Münchner gerückt werden

Angriff mit Tinte: So berichtete die SZ am



  1. November 1948 über den Anschlag
    auf Max Lachers Fresken.


Im Wald geborgen, für den Besuch bereit:
Pater Devis Don Wadin will die Anastasia-Kapelle
öfter öffnen – vielleicht bald schon unter
den Klängen der Orgel, die restauriert wird.

Barrierefreie


Bushaltestelle


Frühchristliche Märtyrerin


SZ-Serie · Folge 8
Was wurde aus
der Anastasia-Kapelle?

Ein großes Pensum


abzuarbeiten


Der Scherge trägt Braunhemd und hat Hitlers Züge: Drei Jahre nach Kriegsende hat der Künstler Max Lacher einen Teil der Fresken hochpolitisch gestaltet. FOTOS: CLAUS SCHUNK


Eulenkekse


und Igelhöhlen


Die Würmtal-Volkshochschule
präsentiert ihr Winterprogramm

AUS DEN AUGEN,
NOCH IM SINN

ZENTRUM UND WESTEN


DEFGH Nr. 207, Samstag/Sonntag, 7./8. September 2019 PGS STADTVIERTEL R9

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