Auch auf dem Lido wurde in diesem Jahr
viel über weiße Männer gestritten. Nicht
zuletzt dank Jurypräsidentin Lucrecia
Martel, die bestimmt, aber diplomatisch
Festivalleiter Alberto Barberabei öffentli-
chen Anlässen wiederholt in die Pflicht
nahm. Die 76. Filmfestspiele von Vene-
dig boten – wieder, muss man sagen –
reichlich Anlass zu Kontroversen: Mit
Haifaaal Mansour aus Saudi-Arabien und
der Australierin Shannon Murphy waren
nur zwei Frauen im Wettbewerb vertre-
ten, die sich zudem als Löwen-Anwärte-
rinnen nicht unbedingt aufdrängen. Da-
für ist der umstrittene Roman Polanski
im engeren Favoritenkreis, der sich mit
seinem Dreyfus-Biopic „J’accuse“ gute
Chancen ausrechnen kann.
Martel hat es sich mit ihrer Kritik an
Polanski gleich zu Beginn des Festivals
nicht leicht gemacht. Möglicherweise
wird sie nun aus politischen Gründen un-
terDruck stehen, „J’accuse“bei derPreis-
vergabe nicht zu übergehen. Anderer-
seits hat die argentinische Regisseurin
bei aller Kritik – auch an Barbera – stets
deutlich gemacht, dass die Juryentschei-
dung ausschließlich nach künstlerischen
Kriterien getroffen wird. Zur Hilfe
kommtihr amletzten Festivaltagwomög-
lichder Kolumbianer Ciro Guerramitsei-
nem englischsprachigen Debüt „Waiting
forthe Barbarians“,das aufdem gleichna-
migen Roman des Nobelpreisträgers J.
M. Coetzee basiert (der auch das Dreh-
buch schrieb).
Mark Rylance spielt den Verwalter ei-
nes entlegenen Wüstenpostens (gedreht
wurde im Atlasgebirge) am Rand des
„Empire“. Das Zusammenleben verläuft
friedlich: Er ist ein gutherziger Imperia-
list,dererst durchdie Ankunft dessadisti-
schen Colonel Joll (Johnny Depp) aus sei-
nem kolonialen Idyll gerissen wird. Die
Soldaten (darunter Robert Pattinson) er-
warten einen Angriff der „Barbaren“ und
gehen darum mit äußerster Brutalität ge-
gen die friedlichen Nomaden in den Ber-
genvor. AlsderVerwaltereine junge indi-
gene Frau (Gana Bayarsaikhan) in der
Siedlung aufnimmt, die verkrüppelt in
der Wüste zurückgelassen wurde, be-
ginnt er, an seiner Mission zu zweifeln.
Martel dürfte sich wohlwollend an ih-
ren Film „Zama“ erinnert fühlen, der
2017 in Venedig lief. Während ihr Kolo-
nialist aber ein niederer Beamter ist, den
selbst die Indigenen lächerlich machen,
bleibt Rylance’ Verwalter in seinem Al-
truismus ambivalenter. „Sie glauben, Sie
wärendergroßeGerechte“,sagtderColo-
nelvollerVerachtung.Erversteht,dasses
einen guten Kolonialisten nicht gibt: Alle
genießen das Privileg ihrer Macht.
Nach seinem übersinnlichen Gangster-
epos „Birds of Passage“ ist Guerra ein
auch in seinen Ambitionen großer Histo-
rienfilm gelungen, der sich dennoch nie
von der Landschaft oder seiner Ausstat-
tungüberwältigenlässt.Die Bildkomposi-
tionen von „Waiting for the Barbarians“
tendieren zum Lyrisch-Abstrakten, doch
die Gewalt ist erniedrigend und scho-
nungslos. So hinterlässt das Festival noch
einen starken Eindruck.
CDVORSCHAU
Samstagmorgen:Gehören auchSiezu de-
nen,dieschon jetzt, danach derunerträg-
lichenHitzeendlich schönes Wetterist,
bereitsdie langenTage unterfreiem Him-
melzu vermissen beginnen?ZumGlück
istauchdieses Wochenende nocheiniges
draußenlos. In der Suarezstraßezum Bei-
spielsteigt dieAntikmeile, bei der35Anti-
quitätenfachgeschäfte und100 Gasthänd-
lerSchönes, ExotischesundSeltenesaus
verschiedenenLändern, EpochenundSti-
lenfeilbieten, von BiedermeierüberArt-
déco biszu zeitgenössischem Upcycling.
Samstagmittag:Und genau zum höchs-
ten Sonnenstand kommtauch der
höchste Bergder Hauptstadt zusich –
nein,nicht derTeufelsberg.Ausnahms-
weise handeltessich heute umeinen Vul-
kanin denAhrensfelder Bergen,dessen
Spitze alleBerge Berlins vorübergehend
überragensoll. BiszumAusbruch zumin-
dest.Sofeiert derBezirkMarzahn-Hellers-
dorfseinen 40 Jahre währenden Aufstieg
(oder so). AllesWesentlicheist unter
mahe40.berlin zufinden. Kultursenator
Ledererwird dort übrigens ehernicht zu-
gegen sein,der hatschondenBornholmer
Kleingärtnernzugesagt für eine Debatte
zurZukunftvonKleingärten inder
Hauptstadtab 11Uhr.DasProgramm(da-
waechstwas.de)zum Tagder offenen Gar-
tentür reichtvonpolitischer Debatte bis
Hula-Hoop,ist engagiert, verspricht aber
mehrBodennäheals dasMarzahner.
Samstagabend:Noch mal zurück zu
schwindelerregendenHöhen:Anna Ne-
trebkogibt heute Abend dieLecouvreur
inder Deutschen Oper (Restkarten!).
Demist eigentlichnichts hinzuzufügen.
Hiernoch Überzeugungsarbeitzu leis-
ten, würdehöchstens das Gedrängean
derAbendkasse erhöhen –und die
Schwarzmarktpreise der Tickets. Auf offi-
ziellemVertriebsweg liegen die aktuell
zwischen180 und240 Euro.Mehrgeht
aberimmer,sowieso.Apropos:ImNeu-
köllner Sowieso, dessen bloße Existenz
soweit abseitsallenMainstreams(Weise-
straße 24)mich jedes Malmit der Welt
versöhnlich stimmt,ist dieMusikweit
wenigervorhersehbar. Meistens improvi-
siert,kann sie Spurenvon Jazzüber [den-
kenSiesich was aus] zu experimenteller
Ad-hoc-Geräuschkomposition enthalten.
Soauchheute beimQuintettum Bishop,
Dyberg,Müller,Wiikund Fischerlehner.
Derselbe Geist bestimmtden Eintritts-
preis,irgendwozwischen 8und15Euro.
Sonntagmorgen:Kommenden Mittwoch
startet dasInternationale Literaturfestival
Berlin. Einen dramatischen Auftakt
machtesschonheute:Interessierte Pri-
vatpersonen undInstitutionen sindaufge-
rufen, Prosatexte oder Gedichte anOrten
ihrerWahlim öffentlichen Raumlautzu
lesen.Wem dasLustmacht, dieStadtde-
tektivischnach solchenLesungen zu er-
kunden,beachte auchdas Programm
zumTag-des-offenen-Denkmals.de. Das
verspricht, imGegensatzzurSuchenach
denStand-up-Lesungen,einehohe Tref-
ferquote. DieListe der teilnehmenden
Stättenumfasst80 Druckseiten.
Sonntagmittag:Detektivische Ambitio-
nenkann man auchim Auslandausleben.
Gemeintist natürlich diePrenzlberger
Experimentalmusik-Institutioninder Ly-
chenerStraße60. In seiner Installation
„Traces – Of“hat hier der KünstlerStefan
Roigkein Stück Musik versteckt, ge-
nauer:Indizienverstreut, Spuren und
Zeugenaussagen zusammengetragen.
Von 15 bis18UhristFinissage mit Kaf-
feekränzchen,wasden Austausch von
Verdachtsmomenten und Tathergangs-
theorienfördern sollte. MehrOhren hö-
renschließlich mehrals weniger.
Sonntagabendist die beste Zeit für einen
Spaziergang, zumalder immerfrüherein-
setzende Sonnenuntergangeinem alten
Avantgardeprojekt entgegenkommt:der
Errichtungder elektrischen Nacht. Nur
imDunkeln lässt sichdie Stadtvernünftig
mitKunstlicht in Szenesetzen.Und das
geschieht beimMural Festival,bei dem
eineAuswahlder größten Wandmale-
reienBerlins lichtgeflutet erstrahlen.
Durch den Nachtspaziergangsoll eine
spezielleApp führen, dieneben Standor-
ten auchHintergrundinfos zuden Wand-
bildernliefert,überberlinmuralfest.de
zubeziehen. Wer beimStöbern auf der
Seite übrigens überbeknackte Sexismen
oderMilitärmetaphorik stolpert,muss
sichnicht abschreckenlassen. DieWand-
bilder,um dieesgeht,haben mit derRhe-
torik der Veranstalterwenig zutun.
— Eine längere Fassung dieser Wochen-
end-Kolumne von Thomas Wochnik fin-
den Sie unter checkpoint.tagesspiegel.de.
LIDOLichtspiele
Der Sonntag
im Tagesspiegel
„Ich bin professioneller Alkoholiker“
Michael Marcus Fitzthum, Sänger der
Wiener Band Wanda, spricht mitUlf Lippitz
undMarius Buhlüber Kitsch, die FPÖ und
seine Zeit als Möbelpacker.
Letzter Sommer in der Bucht
Am Rummelsburger See steht ein Obdach-
losencamp. Nun soll es einem Erlebnis-
park weichen.Robert Klageswar vor Ort.
Er hat rumgemacht
Vor 500 Jahren brach Magellan auf zu den
Gewürzinseln Südostasiens.Kai Müller
porträtiert den fanatischen Seemann.
Erlebniswert
Airbnb verspricht mit seinen Experiences
authentische Begegnungen mit Einheimi-
schen.Marius Buhlhat es ausprobiert.
WOCHNIKSWochenende
Parallelen zum 20. Jahrhundert.Eine Szene aus Castorfs Inszenierung von „La forza del destino“. Foto: DAVIDS/Christina Kratsch
Er trinkt erst einmal einen doppelten Es-
presso und dann noch einen. Zwei Jahre ist
er raus aus der Volksbühne, und der Phan-
tomschmerz über die verlorene Intendanz
und Heimat scheint bei einigen seiner ehe-
maligen Mitarbeiter und bei seinen nibe-
lungentreuen Fans größer zu sein als bei
ihm selbst. Frank Castorf (68) kommt mit
dem Unterwegssein klar. An der Deut-
schen Oper Berlin hat am Sonntag seine
Inszenierung von Giuseppe Verdis „La
forza del destino“ Premiere. Mit Ramm-
stein drehte er einen Film, wo es dann auch
um Richard Wagner geht. Den Bayreuther
„Ring“ hat er 2013 geschmiedet.
Herr Castorf, wir sitzen hier in einem
braun getäfelten Raum, in einem Bespre-
chungszimmer der Deutschen Oper. Das er-
innert hier an die Volksbühne.
Ach, irgendwie habe ich vergessen, wie
es da aussieht.
Sie kennen so viele Theater von innen. Wie
nehmen Sie das wahr, worauf kommt es da
an?
Manche Häuser sind mir nah, wie das
Schauspielhausin Hamburg oderdasBer-
liner Ensemble. Na ja, man sitzt da und
trauert der Kantine hinterher, der wun-
derschönen AusstattungvonHeleneWei-
gelmitden wunderschönen Bauhaus-Mö-
beln und den Fotos von den Gastspielen
in der ganzen Welt, das ist ja alles schon
lange weg, heute nur noch so ein heller
Raum. Die Deutsche Oper verbindet sich
für mich eigentlich mit dem Schahbesuch
von 1967, die Jubelperser droschen auf
die Demonstranten ein, um die Ecke
wurde Benno Ohnesorg erschossen. Die
Gegend ist mir immer noch fremd, der
Berliner kennt ja traditionell nur seinen
Kiez. Wenn du im Prenzlauer Berg
wohnst, gehste nicht nach Köpenick.
Der Ernst-Reuter-Platz und die Bismarck-
straße haben ja auch sozialistische Dimen-
sionen.
Das ist die Berliner Boulevardgröße, die
man in anderen deutschen Städten gar
nicht hat, der 17. Juni, die Heerstraße,
die Stalinallee. Ich kenne die Charlotten-
burger Gegend nicht sehr gut, aber ich
freue mich, dass die Schillerklause und
der Diener überlebt haben.
Die alten Theaterabsturzkneipen ...
MankommthierherundkönnteauchinEs-
sen sein oder in Köln. Man sieht die Ver-
wüstungen des Kriegs und den Ge-
schmack beim Wiederaufbau. Fehlgelei-
tete Architektur, wie auch am Alexander-
platz.AberderwarschonbeiDöblinwin-
dig. Wahrscheinlich hängt es unbewusst
mit der Volksbühne zusammen, dass ich
sage, ichbinauch gerne nichtin Berlin.
Das sitzt noch quer, das ganze Volksbüh-
nending?
Ach nein, es ist einfach weit, weit weg.
Ich bin Berliner, aber ich war nie ein be-
geisterter Berliner.
Dostojewski, Richard Wagner, die Franzo-
sen und jetzt Verdi – haben Sie eine Pas-
sion für das 19. Jahrhundert? Sie haben
diese Stoffe immer wieder auf die Bühne
gebracht. Zufall?
Das 19. Jahrhundert stand in einer gewal-
tigen Aufbruchsituation,dasspiegelt sich
zum Beispiel bei Victor Hugo, aber auch
bei Rimbaud und Verlaine, die so modern
waren, dass Brecht sich bei ihnen be-
diente. Man wusste damals in Europa
nicht, wie sich der Kontinent entwickeln,
wie frei, wie demokratisch, wie diktato-
risch er sein würde. Richard Wagner saß
1848 mit seinem Freund Michail Baku-
nin in Dresden und bastelte Bomben.
Und so jemand entwickelt die Vorstel-
lung vom Gesamtkunstwerk. Der
Mensch auf der Bühne ist da nicht bloß
eine singende Größe, sondern auch eine
realistische Figur. Das ist für mich schon
die Nenngröße.
Mögen Sie denn Verdis Musik, mögen Sie
Belcanto, das Italienische?
Meine erste Operninszenierung war in
Basel sein „Otello“. Die Entäußerung des
Menschen beim Singen, durch den Atem
- das ist eine eigene und hohe Kunstform,
das beherrschen die wenigsten. Davor
habe ich große Hochachtung als Schau-
spielregisseur. Ichkann ja nichtohneKon-
zept, ohne meine Sicht auf die Dinge ar-
beiten, aber der Respekt vor Sängern und
Dirigenten ist groß. Das Singen geht vor.
Liebe, Mord aus Versehen, Krieg, Flucht,
Rache, ständig wechselnde Schauplätze:
Die Handlung von „La Forza del destino“,
uraufgeführt 1862 in St. Petersburg und spä-
ter noch einmal umgeschrieben für Mai-
land, lässt sich kaum nacherzählen, und
ohne Musik wäre es womöglich bloß Kol-
portage.
Ja, es ist natürlich eine romantische Ge-
schichte um den edlen Wilden Don Al-
varo, der sich in das adlige Mädchen ver-
liebt, deren Vater die Beziehung ablehnt
und durch irgendwelche höheren Mächte
umsLebenkommt.Die aristotelische Ein-
heit von Raum und Zeit und Handlung ist
außer Kraft gesetzt. Spanien, Italien,
man wandert ständig umher, es herrscht
Krieg auf den Schlachtfeldern und in den
Seelen der Menschen. Die Oper beruht
auf dem Theaterstück „Don Alvaro o la
fuerza del sino“ des spanischen Herzogs,
Schriftstellers und Politikers Ángel de
Saavedra, der als Liberaler selbst ständig
auf der Flucht war durch Europa. Die
Handlung ist ständig unterbrochen und
angehalten, nicht anders als bei „Les Mi-
sérables“ von Victor Hugo.
Die Sie am Berliner Ensemble auf die
Bühne gebracht haben.
Wenn mandie politisch-historischen Hin-
tergründe mitbedenkt, dann wird die Sa-
che klarer. Und dann geht es auch um Re-
ligion, um die katholische Kirche. Bei der
Leonora in der „Macht des Schicksals“ ist
esähnlich wiebei derMargarethe inGou-
nods„Faust“,den ichan derOper inStutt-
gart gemacht habe. Beide warten auf die
Himmelfahrt fürwenigGeld. DerKatholi-
zismus hat die hohen Kathedralen, und
wenn man da drin steht, hat man das Ge-
fühl, es muss noch etwas anderes geben
als unseren Alltag in der Demokratie.
Man schaut hoch und denkt, es ist wun-
derschön. Verdis Musikversuchteine As-
soziation für das Empfinden eines klei-
nen Menschen zu finden, der einen Dom
betritt.
Sie haben auf Kuba Voodoo erlebt und sich
intensiv mit Dostojewskis Religiosität der
Orthodoxie beschäftigt. Und jetzt also der
Katholizismus?
Dostojewski ist die andere Seite, Byzanz.
Was ich am Katholizismus liebe: Da ist
der Mensch, der ständig sündigt, es im-
merzutut, denken Siean GeorgesBataille
und seine Ausschweifungen, und dann
von Gott die Vergebung bekommt. Und
sofort wieder nach der Gnadenzufüh-
rung anfängt, als Mensch zu leben. Dage-
gen der ständige protestantische Druck,
ein Leben lang vor Gott gut und gläubig
zu sein! Dieser Katholizismus auch in der
Musik ist ein Aufbruch in eine andere
Sinnlichkeit, das gefällt mir. Und wir ha-
ben diese großartigen Sänger.
Sie sprachen von Ihrer Konzeption für die
„Macht des Schicksals“. Wie kann man
sich das vorstellen?
DerStoff kommtaus dem spanischen Erb-
folgekrieg des 18. Jahrhunderts, und da-
für suchen wir eine Übersetzung. Es war
eine europäische Auseinandersetzung,
bis hin zu den Schlesischen Kriegen der
Preußen, die Engländer und die Franzo-
sen waren beteiligt. Hitlers Versuch, mit
Mussolini und Franco Achsen durch Eu-
ropa zu ziehen, kann man als Parallele se-
hen–und 1943befreien die Alliierten Ita-
lien. Curzio Malaparte beschreibt diese
Zeit eindringlich in seinen Romanen „Die
Haut“ und „Kaputt“.
Eine Verbindung von Verdi also ins 20.
Jahrhundert, in den Zweiten Weltkrieg?
Damals war Europa auch in Bewegung,
man wusste eben nicht, ob Appeasement
die richtige Politik ist – was ist die Ant-
wort auf totalitäre Strukturen? Was wird
in Zukunft passieren in der Ukraine? Wie
geht unsereinfantilisierteGesellschaftda-
mit um? Nehmen Sie die Klimapolitik:
Welchen Einfluss haben relativ kleine
Länder wie Schweden oder Deutschland,
was machen die Riesen, Indien, Brasi-
lien, Russland, China, die USA? Kann
man überhaupt etwas machen?
Dostojewski musste in die Verbannung,
Wagner war auf den Barrikaden, Verdi
wurde zum Nationalheiligtum ...
Auch Hugo wurde verbannt, Verdis „Na-
bucco“ ist ein musikalischer Aufschrei
zur Revolution. Diese Menschen haben
sich über Kunst definiert, hatten aber im-
mer auch eine soziale Bindung.
Sind das vielleicht Ihre Helden?
Ach, ich weiß nicht. Als ich damals 1992
Intendant der Volksbühne wurde, haben
viele gesagt: Die besten Zeiten liegen hin-
ter ihm. In Karl-Marx-Stadt oder Anklam
hatte man tatsächlich eine andere Form
von politischer Bedeutung mit Kunst.
Das gab es später so nicht mehr.
Solche Opposition lässt sich in einem demo-
kratischen Staat nicht erreichen.
Schwer. Als ich 1989 in München Les-
sings „Miss Sara Sampson“ inszenierte,
hatten wir ja die Hoffnung, dass das
Stück wegen offenkundiger Pornografie
verboten würde.
Was nicht klappte. Es gab aber schönen
Tumult damals beim Theatertreffen-Gast-
spiel in der Freien Volksbühne. Wie auch
einige Jahre zuvor, als Hans Neuenfels hier
an der Deutschen Oper „Die Macht des
Schicksals“ zum Skandal machte. Teile des
bürgerlichen Publikums waren außer sich,
es war ein Toben und Gebrüll, eine irre
Wutausschüttung. Das Haus bebte.
Es ist immer spannend, wenn Menschen
sich entäußern, sich angestoßen fühlen.
Es kann auch ein sinnlicher, fast ein eroti-
scher Akt sein.
Warten wir mal den Sonntagabend ab.
Ich bin dann auch schnell wieder weg,
ich muss am Montag nach Südamerika.
Am Bühneneingang steht nach der Pre-
miere ein Wagen mit laufendem Motor?
(lacht) So ungefähr.
— Das Gespräch führte Rüdiger Schaper.
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Privileg der Macht
AndreasBuschefreut sich über einen
starken Schlussspurt in Venedig
Foto: Mike Wolff
Die Frankfurter Paulskirche – ein Denkmal, aber wofür? – Seite 29
KULTUR
Gesamtkunstwerk.Frank Castorf probt in
der Bismarckstraße. Foto: Davids/Kratsch
48 Stunden Berlin
„Dieser Katholizismus gefällt mir“
Im Westen was Neues: Frank Castorf inszeniert zum ersten Mal an der Deutschen Oper.
Ein Gespräch über Verdis „Macht des Schicksals“, Berliner Architektur – und ein wenig Volksbühne
SONNABEND, 7. SEPTEMBER 2019 / NR. 23 938 WWW.TAGESSPIEGEL.DE/KULTUR SEITE 27
NICOLE VON KLENCKE
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