Neue Zürcher Zeitung - 07.09.2019

(Ron) #1

12 MEINUNG & DEBATTE Samstag, 7. September 2019


Dasendlos scheinendeDrama um den Brexit hat dasVertrauen der Briten in diePolitik zerstört. STEFAN BONESS / IPON / IMAGO

Die Briten stehen

vor einer schweren Wahl

zwischen Extremen

Die beiden grossen britischen Parteien stellensich mit po larisierenden Chefs und radikalen


Programmen zur Wahl. Sie täten gut daran, sich zu mässigen. Nur so kann das durch den


Brexit schwer beschädigte Vertrauen wieder wachsen.Von Peter Rásonyi


Vertrauen.Vertrauen ist der Schlüsselbegriff, der die
politische Krise in Grossbritannien lösenkönnte.
Doch nichts wurde dieseWoche in den dramati-
schen Debatten im Unterhaus häufiger beklagt als
der Mangel anVertrauen. Es ist durch die erbitter-
ten Kämpfe rund um den Brexit und die Übernahme
der Macht durch zwei exzentrischeRandfiguren mit
radikalen Zielen und harten Methoden in den bei-
dengrossenParteieninWestminsterzerstörtworden.
«Wir müssen einenreibungslosen und geordne-
ten Abschied aus der Europäischen Union liefern
und eine tiefe und speziellePartnerschaft zu unse-
ren Freunden undVerbündeten in ganz Europa
schmieden», hatten dieKonservativen noch 20 17
in ihrWahlprogramm geschrieben.Auf dessen
Basis liessensich ihre Abgeordneten insParlament
wählen – auch dergegenwärtige Premierminister
BorisJohnson. Doch nichts davon ist heute zu se-
hen.Johnson liess sich imJuli mit demVersprechen
zum Parteivorsitzenden wählen, er werde Gross-
britannien am 31.Oktober aus der Europäischen
Union führen,koste es, was es wolle. Mit Brüssel
werden zum Schein Gespräche geführt, ohnedass
konstruktiveVorschläge gemacht werden.
Das Parlament wird vonJohnson während fünf
Wochen zwangsweise suspendiert,damit es den von
ihm zielstrebig anvisierten Brexit ohneAustritts-
vertrag, die konfrontativste aller Möglichkeiten,
nicht verhindernkönne. 21 altgedientekonserva-
tiveAbgeordnete, unterihnen zwei frühere Schatz-
kanzler, werden brutal aus derPartei ausgeschlos-
sen, weil sie dasVersprechen aus ihremParteipro-
gramm umsetzen und einen ungeordneten, ver-
tragslosenAustritt aus der EU verhindern wollen.
SelbstJohnsons Bruder hat am Donnerstag seinen
Rücktritt ausRegierung undParlament bekannt-
gegeben, weil er hinter diesemRadikalkurs nicht
mehr stehenkonnte.


Spiel mit gezinkten Karten


Johnson erklärt zuWochenbeginn leutselig vor sei-
nem Amtssitz an der Downing Street, er wolle auf
keinenFall Neuwahlen, und stellt zweiTage spä-
ter imParlament einen Antrag auf Neuwahlen, für
die er bereits seit dem erstenTag der Amtsüber-
nahme unverhohlen eine Kampagne führt. Er be-
hauptet beständig, ein neuer «Deal» mit der EU sei
auf gutenWegen, doch seine Unterhändler werden
mit leeren Händen nach Brüssel geschickt,wo man
von ernsthaftenVerhandlungen nichts weiss.
Am Donnerstag verkündeteJohnson drama-
tisch, er werde lieber tot in einem Grabenliegen,
als die von einerParlamentsmehrheit gewünschte
Verschiebung des EU-Austritts in Brüssel zu bean-
tragen. Doch hatte derselbe Mann nicht seinerzeit
als Londoner Bürgermeister auch schon grossartig
erklärt, er werde sich vor dieBagger werfen, sollte
jemalseine dritteLandebahnamFlughafen Heath-
rowgebautwerden?AlsdieentsprechendeAbstim-
mung dann im Unterhaus anstand,liess er sich als
AussenministeraufStaatskostenfüreinigeStunden
nach Afghanistan fliegen, um der Schmach einer
persönlichenStimmabgabefürebendieseStartbahn
zu entgehen. Niemand traut mehrJohnsonsWort,
wasvieledergegenwärtigentaktischenRänkespiele
inWestminsterbegründet.DerMannhatinRekord-
zeit das Amt des Premierministers beschädigt.
Nicht viel besser sieht es beiLabour aus. Der
Parteiführer Jeremy Corbyn beteuert beständig,
er wolle einen ungeregelten Brexit verhindern.
Aber warum hat Corbyn dann nicht vor Monaten
schon demAustrittsvertrag zugestimmt, den die
konservative PremierministerinTheresa May mit
der EU ausgehandelt hatte? Er hätte den Briten
nicht nur PremierministerJohnson ersparenkön-
nen, sondern auch die Gefahr eines vertragslosen
Austritts mitsamt seinen wirtschaftlichenFolgen,
der nach Schätzung derBank of England kurzfris-
tig zu schwerenVerwerfungen,Versorgungsengpäs-
sen undeinem Einbruch des Bruttoinlandprodukts
um 5,5 Prozent führen werde.
Tatsächlich spielt auch Corbyn mit gezinkten
Karten. Er strebt den Brexit an, um ungehindert
von EU-Regeln seinenradikalen Plan einer sozia-
listischen Neuordnung desLandes durchzusetzen.
Dazu gehören Ideen wie dieVerstaatlichung von
Versorgungsunternehmen,dieTeilenteignung mitt-
lerer und grösserer Unternehmen und von privaten
Hauseigentümern sowie markante Steuererhöhun-
gen für Unternehmen und Grossverdiener.


Neuwahlen unvermeidlich


In den dreiJahren seit demAustrittsreferendum
hat bisherkeine Variante eines Brexits eine Mehr-
heit imParlament erhalten.Auch der neuePre-
mierminister hat in seiner erstenParlamentswoche
nichts als Niederlagen einstecken müssen und seine
Mehrheit verloren. In einer so verworrenen Situa-
tion sind Neuwahlen normalerweise das erprobte
demokratische Mittel,um den Knoten zu lösen und
der Politik wieder eine Richtung zugeben. Dazu
wird es in den nächsten Monatenauchkommen,
wenn einmal dieParteien alle ihre taktischenWin-
kelzüge und Kniffe ausgeführt haben. Doch dies-
mal ist ungewiss, ob der Urnengang zur erhofften
Neuorientierung führen wird. Die Bürger stehen
vor einer äusserst schwerenWahl.


Auf der einen Seite mag es vielen Briten ver-
lockend erscheinen, miteiner Stimme für dieKon-
servativen den Brexit endlich hinter sich zu brin-
gen –koste es, was es wolle.DieTories sind die ein-
zige Partei, die bei einemWahlerfolg denAusstieg
aus der EUrasch umsetzen will und kann. Sie sind
unterJohnson gewissermassen die BrexitParty im
Grossformat geworden, die nur ein Ziel verfolgt,
den sofortigen EU-Austritt ohneRücksicht auf
Verluste. Das ist nach den jahrelangen, sinnlosen
Querelen eine sehr attraktivePerspektive, die John-
son den Sieg einbringenkönnte.Aber waskommt
danach?Was wird ein BorisJohnson aus demVer-
einigtenKönigreich machen, wenn er fünfJahre
lang an der Spitze einer zur BrexitParty zugespitz-
ten KonservativenPartei regiert? EinerPartei, in
der ein traditionellerTory undWirtschaftsliberaler
wie der letzte Schatzkanzler Philip Hammond oder
Nicholas Soames, der Enkel vonWinston Chur-
chill, keinen Platz mehr haben? EinerPartei, die
das Volk gegen das eigeneParlament aufhetzt und
dieses willkürlich suspendiert, um den Machtinter-
essen desVorsitzenden zu dienen?
Auf der anderen Seite muss manLabour seine
Stimme geben, wenn man mitgrösstmöglicher Er-
folgschance eineRegierungJohnson stoppen und
die wirtschaftlichenFolgen eines vertragslosen EU-
Austrittsvermeiden möchte. Doch mit einer Stimme
für Labour gibt man auch eine Stimme für die sozia-
listischeRevolution desJeremy Corbyn.Auch diese
dürftedieWirtschaftinsTrudelnbringen;siewirdnur
von einer kleinen Minderheit der Briten gewünscht.
Wer den Brexit-Albtraum dadurch zu beenden
hofft, dass die Briten in einer zweitenVolksabstim-
mung ihre Meinung ändern und für denVerbleib in

Ein ziellosesWeiterdümpeln


der Brexit-Frage


nach derWahl wäre


ein Horrorszenario –


für die Menschen,


für dieWirtschaft und


für die parlamentarische


Demokratie.


derEUstimmenwerden,derkanndieLiberaldemo-
kraten oder in Schottland die Nationalisten wählen,
die sich klar dafür aussprechen.Angesichts der Un-
fähigkeit des Parlaments gibt es gute Argumente
für eine neueVolksbefragung mit klug gewählten
Optionen. Doch die Befürworter laufen nicht nur
Gefahr, die Opposition zu spalten und in derKon-
sequenz wegen des Mehrheitswahlrechts denKon-
servativen und dem harten Brexit zumDurchbruch
zu verhelfen. Sie fördern auch das Risiko, dass sich
die seit dreiJahren bestehende Blockade imParla-
ment fortsetzt. Denn die kleinenParteienkönnten
nur in einerKoalition mitLabour Einfluss nehmen,
und derenFührung wünscht einen nie genau defi-
niertenAustritt. Ein ziellosesWeiterdümpeln der
Brexit-Frage nach derWahl wäre ein Horrorszena-
rio – für die Menschen, für dieWirtschaft und für
die parlamentarische Demokratie.
Niemand weiss, wie dieseWahl ausgehen wird.
EntscheidendfürdieZukunftdesVereinigtenKönig-
reichs wird sein, dass die Bürger danach dasVer-
traueninihrepolitischenInstitutionenzurückgewin-
nen können.Dafür muss die künftigeRegierung, wer
auch immer sie stellen wird, ihre eigenenradika-
len Ambitionen mässigen und auf dieVerlierer zu-
gehen.Weder ein harter, konfrontativer Brexit noch
die plötzliche Absage des Brexits odersozialistische
Experimente à la Corbyn habeneine breite Mehr-
heit der britischen Gesellschaft hinter sich. Setzen
sich extremePositionen durch, werden sie die Spal-
tungen in der Gesellschaft nur noch vertiefen, das
Land vor eine ungeahnte Zerreissprobe stellen und
den möglichen Zerfall desVereinigtenKönigreichs
befördern.Dessen sollte sich jeder Sieger der nächs-
ten Wahl bewusst sein. Es steht viel auf dem Spiel.
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