42 KULTUR WELT AM SONNTAG NR.36 8.SEPTEMBER2019
Fünf Jahre ist es her, dass Wanda
mit „Amore“ und vor allem der
unwiderstehlichen Lässig-Hymne
„Bologna“ die deutschsprachige
Rockmusikwelt wachrüttelten.
Genauso „krachert“ ging es mit
„Bussi“ weiter, bei „Niente“
schlugen sie schon ruhigere und
gereiftere Töne an. Nun also
„Ciao!“. Dieses vierte Album
führt den melancholischen Un-
terton des Vorgängers fort:
Schmerz ist auch ohne Ironie
möglich; weniger Schnaps, dafür
aber immer noch viel „Baby“.
Wanda hoffen, „Ciao!“ sei ihr
„Revolver“. Und ja, es gibt mehr
Soundvariation: Mal funky, mal
grungig, mal schaut die Western-
gitarre vorbei. Aber der Gesang
von Marco Michael Wanda bleibt
unverkennbar und getränkt von
deliriöser Sehnsucht, was man
gut oder ab einem gewissen
Punkt auch nervig finden kann,
weil dadurch alles gleich tempe-
riert klingt. Bei „Vielleicht“ und
„Gerda Rogers“ kommen sie den
Beatles tatsächlich näher. Aber
wo sind die Gassenhauer? Und
welche tiefere Bedeutung hat es
wohl, dass Marco Wanda seine
speckige Lederjacke abgelegt hat
und jetzt ein Modell in Jeans
trägt? (Naomi Webster-Grundl)
PLATTENKRITIK
Wanda
Der „Rolling Stone“, Deutsch-
lands wichtigstes Musikmagazin,
erstellt die Plattenkritik exklusiv
für „Welt am Sonntag Kompakt“
WWWanda: "Ciao!"anda: "Ciao!"
(Four/Universal)
us einer Daguerreotypie
schaut uns Alexander von
Humboldt an, den die Zeit-
genossen den „zweiten Ko-
lumbus“ nannten – und
dessen Geburtstag am 14. September
zum 250. Mal wiederkehrt. Der betagte
Humboldt blickt mit Ernst auf die Welt
vor ihm, aber vor allem mit Augen wa-
chen Interesses, so als ob er eine Frage
erwarte. Der Eindruck dieser Zuwen-
dung wiederholt sich in vielen Portraits
als Fokus der Konzentration und als
Einladung, näher zu kommen.
An seiner physischen Präsenz war
dem in der Jugend kränkelnden Alexan-
der von Humboldt durchaus gelegen,
vor allem weil sie ihm die Möglichkeit
gab, sich extremen Bedingungen auszu-
setzen: „Die Tropenwelt ist mein Ele-
ment“, berichtete er aus dem heutigen
Venezuela, „und ich bin nie so ununter-
brochen gesund gewesen als in den letz-
ten zwei Jahren. Am Atabapo, wo die
Wilden stets am Faulfieber leiden, wi-
derstand meine Gesundheit unbegreif-
lich gut.“ Auch seine körperliche Ge-
genwart schenkte ihm die Faszination
seiner Mitmenschen. Während des re-
volutionären Frühjahrs von 1848 woll-
ten die Berliner ihn – mehr als den Kö-
nig – auf dem Balkon des Schlosses se-
hen. Und der fast 80-Jährige erschien,
um sich stumm zu verbeugen.
„Jeder Mann hat die Pflicht, in sei-
nem Leben den Platz zu suchen, von
dem er seiner Generation am besten
dienen kann“, schrieb er an einen Kolle-
gen in Frankreich. Nicht dem Vaterland
als Raum eines Volkes wandte sich Ale-
xander von Humboldt in jener Zeit der
patriotischen Exzesse zu. Sein Vater-
land war das Preußen des damals ent-
stehenden Bildungsideals, für das Er-
werb von Wissen Grundlage für die Ent-
stehung von Individualität werden soll-
te. Ihm und seinem älteren Bruder Wil-
helm, dem späteren Sprachphilosophen
und Gründer der Universität zu Berlin,
eine solche Bildung zu geben, galt den
Eltern als wichtigstes Lebensziel.
Dabei unterschätzten sie lange Ale-
xanders besondere Begabung, die eher
von Tieren, Pflanzen und Mineralien
eingenommen war als von den Texten
des klassischen Altertums. Kameralwis-
senschaft als Weg zu einem Verwal-
tungsamt sollte er deshalb studieren.
Doch ohne sich zu widersetzen, hat er
seinen Interessen an den konkreten
Dingen der Welt eine neue Form der
Wissenschaft abgewonnen, in der die
physische Nähe der Beobachtung un-
endliche Fragen, Spekulationen und Ge-
spräche inspirierte.
„Ich werde Pflanzen und
Fossilien sammeln, mit vor-
trefflichen Instrumenten as-
tronomische Beobachtungen
machen können. Das alles ist
aber nicht der Hauptzweck
meiner Reise. Und auf das
Zusammenwirken der Kräf-
te, den Einfluss der unbeleb-
ten Schöpfung auf die beleb-
te Tier- und Pflanzenwelt,
auf diese Harmonie sollen
stets meine Augen gerichtet
sein“, notierte er am 5. Juni
1799, dem Tag seines Aufbruchs zur
Amerika-Expedition. Ottmar Ette, einer
der führenden Humboldt-Kenner unse-
rer Zeit, betont, wie jenes „Zusammen-
wirken der Kräfte“ zu der Perspektive
wurde, welche Humboldts Forschung
bewegte und andere wie Charles Dar-
win auf den Weg ihres Denkens brachte.
Schon bei seiner ersten Anstellung
als Assessor für den Bergbau im Fichtel-
gebirge und Frankenwald hatte er bahn-
brechende chemische Einsichten mit
der Entwicklung neuer Instrumente
verbunden (etwa einem Vorläufer der
Atemschutzmaske), mit erstaunlicher
Profitmaximierung – und mit einer Re-
form der „Hülfskasse“ für Bergleute.
Später entstanden aus seiner Analyse
der tierischen Elektrizität neue Grund-
einsichten der Medizin, aus der Auf-
merksamkeit für den Erdmagnetismus
eine entscheidende Erweiterung der
Kosmologie und aus der Klimaanalyse
erste Vermutungen über menschenver-
ursachte Umweltzerstörung.
EIN TOLLER EINFALL„Man könnte in
acht Tagen nicht aus Büchern herausle-
sen, was er einem in einer Stunde vor-
trägt“ – sagte Goethe über den Redner
Alexander von Humboldt, dessen Vorle-
sungen in Berlin Stadtgespräch waren.
Die Ergebnisse seiner Forschung und
Reflexionen in kraftvoller Sprache, die
„das Gemüt ergötzt“, an ein Publikum
von Nichtspezialisten zu vermitteln,
sah er als einen „tollen Einfall“ und zu-
gleich als selbstverständliche, langfris-
tig vorzubereitende Verpflichtung an,
und auch hier bewährte sich das Prä-
senztalent. Es wirkte in der fünfbändi-
gen Summe seiner Weltbeschreibung
weiter, die unter dem Titel „Kosmos“
von 1845 bis 1862 veröffentlicht wurde
und mit 87.000 in Deutschland verkauf-
ten Exemplaren sowie mehreren Über-
setzungen zu einem wahren Bestseller
ihrer Epoche wurde.
Auch in seiner Zuwendung an die
Mitmenschen kannte Humboldt keine
Grenze zwischen den Hörern und Le-
sern, in deren Imagination er unmittel-
bare Resonanz fand, und der politischen
Sorge um andere, denen er nie begeg-
nen sollte. Öffentlich war er als aufklä-
rerischer Liberaler bekannt, was in Ber-
lin zur Folge hatte, dass er bei Hof allein
als gebildeter Unterhalter willkommen
war, und in Portugal, dass ihm die Kro-
ne aus Furcht vor der Verbreitung revo-
lutionärer Ideen die Einreise in ihre
südamerikanischen Kolonien verwei-
gerte – während die Monarchien in Ma-
drid und in Sankt Petersburg seine Rei-
sen großzügig unterstützten.
Tatsächlich teilte Alexander von
Humboldt 1822 dem Bruder Wilhelm
mit, dass er sich ein Leben als Forscher
in einem zukünftig republikanischen
Mexiko vorstellen könne. Das Erlebnis
eines Sklavenmarkts in Südamerika hat-
te ihn zu einem engagierten Fürspre-
cher des Abolitionismus gemacht, und
in Berlin setzte er den Ein-
fluss am Hof für die Aufhe-
bung verbleibender Struk-
turen der Leibeigenschaft
ein. Bei der Beschreibung
fremder Kulturen ge-
brauchte auch Humboldt
die heute verteufelte ethno-
zentrische Sprache seiner
Gegenwart, doch es steht
außer Frage, dass die Erfah-
rung von Alterität für ihn
ein Anlass erregten Interes-
ses war – und nie eine Klip-
pe der Herablassung.
Kein anderer Geist hat einer zuneh-
mend von akademischer Blässe bedroh-
ten Wissenschaft mehr Impulse zur be-
lebenden Erfüllung hinterlassen.
Über das Genie Alexander von Humboldts:
Geburtstagsgruß von Hans Ulrich Gumbrecht
A
Roter Brüllaffe Zeich-
nung von Alexander
von Humboldt
EICHBORN VERLAG
Dieser ganz
eigene Blick
ZugewandtAlexan-
der von Humboldt
ACTION PRESS
/EVERETT COLLECTION, INC.