Frankfurter Allgemeine Zeitung - 13.09.2019

(lily) #1

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FREITAG, 13. SEPTEMBER 2019 Deutschland und die Welt FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG


Foto Laif


Als Torsten Sträter seine ersten Auftritte
auf Poetry-Slam-Bühnen hatte, war er An-
fang 40 und arbeitete in einer Spedition als
Disponent. Dieter Nuhr holte ihn mit
46 ins Fernsehen. Seitdem liest er von ei-
nem Tablet seine Texte vor – etwa bei „Ex-
tra 3“ oder bei „Nuhr im Ersten“. Auch die
Depressionen, die ihn über Jahre begleitet
haben, hat er so verarbeitet. Im Gesprächs-
podcast „Am Tresen“ redet der 53 Jahre
alte Sträter mit Timo Steppat über späten
Ruhm, Selbstentlarvung und sagt, warum
er nie aus dem Ruhrgebiet weggezogen ist.


Depressionen:Wenn du zu blöd bist, Fahr-
rad zu fahren, brichst du dir das Bein.
Krebs kriegst du aus genetischer Dispositi-
on oder weil du zu viel Frittiertes gegessen
hast. Bei Depressionen würde ich gerne sa-
gen: Hätte ich das mal gelassen mit den
ganzen filterlosen Zigaretten. Aber es ist
nicht so. Depressionen haben keinen
Grund. Ich weiß nicht, woher sie kom-
men. Ist mir aber auch scheißegal. Haupt-
sache, sie gehen wieder.


Humor:Ich habe keine Ahnung von Hu-
mor, ich habe nur meinen Humor. Ich
habe was geschrieben und schaue drauf
und weiß, ob es funktioniert oder nicht.
Als ich letztens dachte, ich hätte das Prin-
zip verstanden, meinte Dieter Nuhr zu
mir: Wenn du es verstanden hast – ändere
es. Und er hatte recht.


Nie aus dem Ruhrgebiet weggezogen:Ich
verlasse permanent meine Heimatstadt.
Ich sehe so viel von Deutschland. Da ist
mir fast egal, was die Homebase ist.


Selbstentlarvung:Ich freue mich immer,
wenn jemand öffentlich so etwas sagt wie:
Die Umvolkung findet statt. Etwas, das
gar nicht durch Fakten belegt ist. Damit
entlarven die sich selbst. Das ist die An-
mut der Idiotie.


Später Ruhm:Mit 25 war ich doof wie Brot
und hätte sicherlich angefangen, status-
symbolmäßig durchzuticken und hätte
mich wie der Tollste gefühlt. Aber wenn
du mal die 40 und dann auch die 50 über-
schritten hast, siehst du, dass nicht alles
Gold ist, was glänzt.


Den F.A.Z.-Podcast „Am Tresen“ können Sie über
iTunes, Spotify und alle gängigen Player abonnieren.
Mehr unter http://www.faz.net/amtresen.


ZÜRICH, 12. September. Ursula Biondi
war 16 Jahre alt, als die Zürcher Behör-
den sie einsperren ließen. Als „Erzie-
hungsmaßnahme“ steckte man sie im No-
vember 1966 ins Frauengefängnis Hin-
delbank im Kanton Bern. Ein Jahr ver-
brachte die junge Frau ohne jeden Kon-
takt nach außen in einer Zelle von acht
Quadratmetern. Ohne richterlichen Be-
schluss musste sie unbezahlte Arbeit ver-
richten. Eine Straftat hatte die in Zürich
geborene Italienerin nicht begangen.
Aber sie war von einem Schweizer
schwanger gewor-
den, der dem gelten-
den Heiratsverbot un-
terlag, weil die Schei-
dung von seiner frü-
heren Frau noch
nicht länger als ein-
einhalb Jahre zurück-
lag. Das Neugebore-
ne wurde Biondi
noch im Gebärsaal
zur Zwangsadoption entrissen. Erst nach
verzweifeltem Kampf bekam sie ihr in-
zwischen drei Monate altes Kind zurück.
„Das Unrecht und die Auswirkungen
der damaligen Behördenwillkür sind ver-
heerend. Die psychischen und physi-
schen Wunden, die mir während der
Wegsperrung zugefügt wurden, beglei-
ten mich bis an mein Lebensende.“ Dies
schreibt die 69 Jahre alte Ursula Biondi
im Schlussbericht der unabhängigen Ex-
pertenkommission, die im Auftrag der
Regierung in Bern eines der dunkelsten
Kapitel der Schweizer Geschichte aufge-
arbeitet hat: die sogenannte administrati-
ve Versorgung. Hinter dem bürokratisch-
verharmlosenden Begriff steckt ein Sys-
tem, das für ordentliche und gesittete
Verhältnisse in der Schweiz sorgen sollte
und erst 1981 ein Ende fand. Wer als „ar-
beitsscheu“, „liederlich“ oder „trunk-
süchtig“ galt, konnte von den Behörden
in Heime, Gefängnisse oder psychiatri-
sche Anstalten gesteckt werden. Nach
den Erkenntnissen der Forschergruppe
sind im 20. Jahrhundert mindestens
60 000 Personen in 650 Anstalten einge-
sperrt worden, ohne dass sie ein Straf-
delikt begangen hatten.
Mit dem Selbstbild der Schweiz als
Hort des friedlichen und konsensualen
Umgangs miteinander, des sozialen Aus-
gleichs und des humanitären Völker-
rechts hat diese jahrzehntelange Praxis
wenig bis nichts zu tun: „Wir müssen un-
ser Bild der Schweiz im 20. Jahrhundert
revidieren“, kommentierte der Basler
Historiker Martin Lengwiler den Bericht
der Kommission, die er als Vizepräsi-
dent mit angeführt hat. Es habe zum be-
hördlichen Alltag gehört, Personen weg-
zuschließen, deren Verhalten nicht den
vorherrschenden bürgerlichen Wert-
und Moralvorstellungen entsprach.
Die „fürsorgerischen Zwangsmaßnah-
men“ der Gemeinden und Kantone be-
gannen im 19. Jahrhundert. Sie dienten
dazu, Mittellose und Arbeitslose sowie
mutmaßliche Alkoholiker und Prostituier-
te von der Straße zu holen, die öffent-
liche Ordnung zu wahren sowie junge

Männer und Frauen umzuerziehen, die
in den Augen der Allgemeinheit als „mo-
ralisch verwahrlost“ galten. Ins Visier der
Behörden gerieten auch Gruppen wie
das fahrende Volk der Jenischen. Uneheli-
che Kinder waren ebenfalls der staatli-
chen Willkür ausgesetzt. Gabriela Merli-
ni, Tochter eines unverheirateten Paars,
wurde Mitte der sechziger Jahre im Alter
von 18 Monaten erstmals „versorgt“.
„Wir wurden nicht nur aus unserem sozia-
len Umfeld gerissen, sondern haben fol-
terähnliche Missbräuche erlebt“, erzählte
Merlini jüngst auf einer Pressekonferenz.
Obwohl die von Zwangsmaßnahmen
Betroffenen keine Straftaten begangen
hatten, wurde sie vielerorts zusammen
mit Straftätern inhaftiert. Die Forscher
stellten in ihren gut vierjährigen Untersu-
chungen fest, dass es in den verschiede-
nen Anstalten zu gravierenden Übergrif-
fen kam – von sexuellem Missbrauch bis
zu folterähnlichen Bestrafungen. Es gab
erzwungene Adoptionen, Sterilisationen
und Kastrationen. In etlichen Anstalten
wurden die Inhaftierten ohne ihre Ein-
willigung für Medikamententests miss-
braucht. Oft waren es die jeweiligen An-
staltsleiter, die über den Zeitpunkt für
eine Entlassung entschieden. „Viele Be-
troffene blieben auch nach der Entlas-
sung im Visier der Behörden und hatten
ein Leben lang mit der damit verbunde-
nen Stigmatisierung zu kämpfen“, heißt
es in dem fast 400 Seiten starken Schluss-
bericht. Statt die soziale Integration der
betroffenen Personen zu fördern, ver-
stärkten die behördlichen Maßnahmen

deren Ausgrenzung. Die Kommission
kommt daher zu dem Schluss, dass die
Zwangseinweisung die soziale Ungleich-
heit in der Schweiz verstärkt habe.
Auf dem Rechtsweg gegen die Inhaftie-
rung vorzugehen war auch für Erwachse-
ne kaum möglich. Schließlich agierten
die Behörden auf Basis einer äußerst
schwammigen Gesetzgebung, die ihnen
in der Durchsetzung ihrer außergerichtli-
chen Zwangsmaßnahmen viel Spielraum
ließ. „Den verschiedenen Gesetzes-
bestimmungen war gemein, dass sie den
Freiheitsentzug außerhalb des ordentli-
chen Rechtsrahmens ermöglichten und
auf moralischen Bewertungen beruh-
ten“, heißt es in dem Bericht. Denunzie-
rende Hinweise aus der gutbürgerlichen
Nachbarschaft reichten oft schon, um
eine unliebsame Person zu brandmarken
und in Bedrängnis zu bringen.
Wer sich gegen den Bescheid über den
Freiheitsentzug wehrte, landete wieder
bei der zuständigen Behörde, welche die
Beschwerde leichter Hand abweisen
konnte. „Administrativ versorgt“ wur-
den zu 80 Prozent Männer und zu 20 Pro-
zent Frauen. Letztere konnten einer In-
haftierung durch Heirat entgehen. Auf
diese Weise ist so manche (eigentlich un-
gewollte) Ehe zustande gekommen.
Innerhalb der Schweiz gab es zwar
Stimmen, die diese Praxis kritisierten.
Von einer breiten und starken innenpoli-
tischen Aufwallung konnte aber lange
keine Rede sein. Erst auf Druck aus dem
Ausland und aus Sorge um das Image des
Landes in der Welt rang sich der Schwei-

zer Gesetzgeber 1981 dazu durch, die
„administrative Versorgung“ zu been-
den. Zwei Jahrzehnte später entschuldig-
te sich die Regierung bei allen, denen
man ohne Gerichtsbeschluss die Freiheit
genommen hatte. Das Parlament verab-
schiedete 2014 das „Bundesgesetz über
die Rehabilitierung administrativ ver-
sorgter Menschen“. Als Geste der Wie-
dergutmachung wird ein „Solidarbei-
trag“ von 25 000 Franken gewährt.
Die Expertenkommission ist jedoch
der Ansicht, dass noch wesentlich mehr
getan werden müsse, um die Opfer zu
entschädigen. Infolge der einstigen
Zwangsmaßnahmen lebten viele Betrof-
fene unter prekären finanziellen Bedin-
gungen und seien psychisch und körper-
lich angeschlagen. Die Forscher plädie-
ren unter anderem dafür, den Opfern
Steuerschulden zu erlassen und eine le-
benslange Sonderrente zu zahlen. Als
Ort der Rehabilitierung und der Erinne-
rung sollte ein „Haus der anderen
Schweiz“ errichtet werden, in dem die
Thematik aus verschiedenen Perspekti-
ven dargelegt werden könnte.
Ob die Regierung diese Vorschläge
oder Teile davon annimmt, ist noch
offen. Die zuständige Justizministerin
Karin Keller-Sutter (FDP) sagte zu, die
Empfehlungen zu prüfen. Zugleich ver-
urteilte sie das frühere Vorgehen gegen
Personen, die mit ihrem Verhalten von
der Norm abwichen: „Der Staat hat nicht
die Aufgabe, seine Bürger zu bessern. Er
muss sie, ihre Freiheit und ihre Sicher-
heit schützen und stärken.“

Torsten Sträter am Tresen


Knapp zwei Wochennach einem Schiffsun-
glück vor der kalifornischen Küste, bei
dem 34 Personen ums Leben kamen, ha-
ben Einsatzkräfte am Mittwoch den letz-
ten Leichnam gefunden. Wie der Sheriff
des Bezirks Santa Barbara mitteilte, konn-
ten sieben der stark verbrannten Leichen
aber weiterhin nicht durch den Abgleich
genetischen Materials identifiziert wer-
den. Aus bislang ungeklärter Ursache war
auf der Conception am frühen Morgen des


  1. Septembers Feuer ausgebrochen. Ein
    Besatzungsmitglied und 33 Passagiere, die
    unter Deck schliefen, kamen ums Leben.
    Vier weitere Besatzungsmitglieder und
    der Kapitän retteten sich durch einen
    Sprung vom Oberdeck. Wie sie später zu
    Protokoll gaben, hatten die Rauchmelder
    kein Warnsignal abgegeben. Nach der
    amerikanischen Bundespolizei (FBI) und
    der Nationalen Behörde für Transportsi-
    cherheit (NTSB) kündigte am Mittwoch
    auch die Küstenwache Untersuchungen zu
    einem der schwersten Bootsunglücke in
    der Geschichte Kaliforniens an. (ceh.)
    Im Kampf gegen Alkoholismushat ein
    russisch-orthodoxer Priester aus einem
    Kleinflugzeug über der Stadt Twer nord-
    westlich von Moskau 70 Liter Weihwasser
    ausgegossen, wie lokale Medien am Don-
    nerstag berichteten. Bei offener Luke
    habe der Geistliche das Wasser aus einem
    goldenen Kelch aus etwa 300 Meter Höhe
    über der Kleinstadt ausgeschüttet. Das sol-
    le den betroffenen Bewohnern helfen,
    nüchtern zu werden und nicht mehr zur
    Flasche zu greifen, sagte er demnach. Die
    Aktion finde schon seit 2006 statt, und er
    hoffe auf Erfolg. In vielen russischen Städ-
    ten wird jedes Jahr Mitte September auf In-
    itiative der Kirche der „Tag der Nüchtern-
    heit“ begangen. Damit wolle man die Men-
    schen über die Gefahren des Alkohols auf-
    klären. In Russland sterben jährlich Tau-
    sende Menschen an den Folgen übermäßi-
    gen Alkoholkonsums – Tendenz steigend.
    In diesem Jahr starben schon rund
    4300 Menschen in Russland an der Sucht,
    17 Prozent mehr als im Jahr zuvor. (dpa)
    Eine arabische Prinzessinist in Paris zu
    zehn Monaten Haft auf Bewährung verur-
    teilt worden. Das Strafgericht verhängte
    zudem eine Geldstrafe von 10 000 Euro ge-
    gen die Tochter des saudi-arabischen Kö-
    nigs Salman, Hassa Bint Salman, weil sie
    einen Handwerker misshandeln und de-
    mütigen ließ. Ihr Anwalt kündigte Rechts-
    mittel gegen den Schuldspruch an. Mit
    dem Urteil ging das Gericht über den An-
    trag der Staatsanwaltschaft hinaus. Sie hat-
    te sechs Monate Haft auf Bewährung und
    eine Geldstrafe von 5000 Euro gefordert.
    Die 42 Jahre alte Prinzessin wurde in Ab-
    wesenheit verurteilt, sie wird per Haftbe-
    fehl gesucht. Ihre Anwälte hatten die Vor-
    würfe zurückgewiesen. Die ältere Schwes-
    ter des mächtigen saudi-arabischen Kron-
    prinzen Muhammad Bin Salman war 2016
    mit einem Handwerker in Streit geraten,
    der in ihrer luxuriösen Pariser Wohnung
    einen Waschtisch reparieren sollte. Auslö-
    ser war ein Handy-Foto, das der Handwer-
    ker nach eigenen Angaben für seine Repa-
    raturen machte, als die Prinzessin das Bad
    betrat. Sie dachte offenbar, er habe sie im
    Spiegel fotografiert und wolle das Bild ver-
    kaufen. Das Gericht hielt die Darstellung
    des Handwerkers für glaubhaft. Danach
    wies die Prinzessin ihren Leibwächter an,
    den Arbeiter zu schlagen und stundenlang
    festzuhalten. Der Leibwächter wurde zu
    acht Monaten Haft auf Bewährung und
    5000 Euro Geldstrafe verurteilt. Er hatte
    die Gewalt ebenfalls bestritten. (AFP)


mli. FRANKFURT, 12. September. Briti-
sche Astronomen haben zum ersten Mal
Wasserdampf in der Atmosphäre eines
extrasolaren Gesteinsplaneten nachgewie-
sen, der seinen Heimatstern in einer po-
tentiell bewohnbaren Zone umkreist. Bis-
lang wurde Wasser nur in der Hülle von
Gasplaneten aufgespürt. Der 110 Licht-
jahre entfernte Exoplanet K2-18b, der vor
vier Jahren mit dem Weltraumteleskop
Kepler entdeckt wurde, umkreist einen
roten Zwergstern im Sternbild Löwe. Er
hat den doppelten Durchmesser und die
achtfache Masse der Erde. Auf seiner
Oberfläche herrschen vermutlich ähn-
liche Temperaturen wie auf der Erde. So
könne es durchaus möglich sein, dass dort
flüssiges Wasser existiert, vermuten die
Forscher um Angelos Tsiaras, vom Univer-
sity College in London.
Sicher scheint zumindest, dass K2-18b
eine Atmosphäre besitzt, die Wasser-
dampf, mit einer gewissen Wahrschein-
lichkeit auch Wasserstoff und Helium ent-
hält. Wie hoch der Wasseranteil in der
Atmosphäre ist, können die Astronomen
allerdings nicht sagen. Wie Tsiaras und sei-
ne Kollegen in der Zeitschrift „Nature
Astronomy“ berichten, haben sie zur Ana-
lyse der Atmosphäre den Exoplaneten mit
dem Weltraum-Teleskop „Hubble“ beob-
achtet, während dieser achtmal vor sei-
nem Heimatstern vorüberzog und diesen
etwas verdunkelte. Bei jedem Transit regis-
trierte eine der empfindlichen Kameras
von „Hubble“ das Licht des Zwergsterns.
Aus den gewonnenen Spektren und mit
Hilfe eines speziellen Algorithmus konn-
ten die Wissenschaftler schließlich auf die
chemische Signatur der Atmosphäre von
K2-18b schließen und Wasserdampf
identifizieren.
Die Frage, ob auf K2-18b Leben exis-
tiert, lassen die Forscher unbeantwortet.
Zumindest dürften es Organismen nicht
gerade leicht haben. Rote Zwergsterne
sind äußerst aktiv und produzieren Strah-
lungsausbrüche, die allenfalls nur äußerst
robuste Lebensformen überleben können.
Die Entdeckung, so Tsiarias, „führt uns
näher zur Antwort auf die grundlegende
Frage: Ist die Erde einzigartig?“


reb. DÜSSELDORF, 12. September. Über
die sogenannte Schulfahndung haben die
Frankfurter Generalstaatsanwaltschaft
und das Bundeskriminalamt einen Mann
aus Unna in Nordrhein-Westfalen identifi-
zieren können, der seine kleine Nichte se-
xuell missbraucht und Bilder über das In-
ternet verbreitet haben soll. Den entschei-
denden Hinweis bekamen die Ermittler
nur wenige Stunden nachdem in dem Fall
die Fahndung begonnen hatte. Wie je-
weils meist im Frühjahr und im Spätsom-
mer werden Bilder, auf denen die Gesich-
ter von Missbrauchsopfern gut zu erken-
nen sind, an Schulen im ganzen Bundes-
gebiet oder in einzelnen Ländern ge-
schickt. Das geschieht in Etappen, am
Dienstag wurden die Bilder den Schulen
in Nordrhein-Westfalen über den landes-
eigenen Server geschützt zugespielt.
Zwei Lehrer einer Grundschule in
Unna erkannten das Kind, wenig später
konnte der mutmaßliche Täter, der 45 Jah-
re alte Onkel des Mädchens, identifiziert
und festgenommen werden, wie die Behör-
den am Donnerstag mitteilten. Nach bishe-
rigen Erkenntnissen hat der Tatverdächti-
ge in den Jahren 2016 bis 2018 das damals
sechs beziehungsweise sieben Jahre alte
Mädchen mehrfach missbraucht. Aufnah-
men der Taten stellte er ins Darknet.
Der Erfolg verdeutliche abermals, wie
wichtig das zielgruppenorientierte Instru-
ment Schulfahndung sei, betonte die
Frankfurter Generalstaatsanwaltschaft.
Erst vor wenigen Tagen hatte Sven Schnei-
der vom Cybercrime-Kompetenzzentrum
des Landeskriminalamts Nordrhein-West-
falen in der Frankfurter Allgemeinen
Sonntagszeitung gesagt, die Schulfahn-
dung sei in der Hälfte der Fälle erfolg-
reich. Allerdings meldeten sich immer
noch nicht alle angeschriebenen Schulen
zurück. „Die Rückmeldequote ist befriedi-
gend, aber von 100 Prozent leider noch
weit entfernt“, kritisierte Schneider.

RISHONLEZION,12. September.Israa
Gharib studierte Englisch in Bethlehem
und arbeitete als Kosmetikerin. Sie ver-
liebte sich in einen Mann und machte die
Beziehung im Internet öffentlich. Kurz
danach war die Einundzwanzigjährige
tot. Mutmaßlich waren es ihre Verwand-
ten, die sie Ende August in den Tod trie-
ben. In Ramallah demonstrierten darauf-
hin 200 Personen. Sie verlangten, dass
endlich etwas gegen Übergriffe auf Frau-
en getan wird. Die palästinensischen Be-
hörden versprachen, das Strafgesetzbuch
einer Überprüfung zu unterziehen.
Am Donnerstag teilte die palästinensi-
sche Generalstaatsanwaltschaft in Ra-
mallah mit, dass drei Personen des Mor-
des angeklagt wurden. Nach den Worten
des Staatsanwalts Akram al Khatib erga-
ben die Ermittlungen keine Hinweise auf
einen „Ehrenmord“. Gharib sei von ei-
nem Balkon am Haus ihrer Familie gefal-
len. Gestorben sei sie allerdings an den
Folgen von Schlägen, die ihr zuvor zuge-
fügt wurden. Es gebe zudem Hinweise,
dass sie körperlicher und psychischer Ge-
walt durch ihre Familie ausgesetzt war.
Israa Gharib war schon Anfang Au-
gust mit schweren Verletzungen in ein
Krankenhaus in der Nähe von Bethle-
hem gekommen, nachdem ihre Verwand-
ten sie offenbar misshandelt hatten. Kurz
vorher hatte Gharib, die auf Instagram
über Mode schrieb, ein Video von einem
Treffen mit ihrem mutmaßlichen Freund
verbreitet. Er soll um ihre Hand angehal-
ten haben. Das könnte der Auslöser gewe-

sen sein: Denn auch wenn ihre Eltern an-
geblich der Verbindung nicht im Wege
standen, sollen Gharibs Brüder und Cou-
sins vehement dagegen gewesen sein.
Von ihrem Krankenhausbett aus ver-
breitete Gharib über Instagram noch
eine Nachricht: „Ich bin stark und habe
einen Willen, und wenn ich den Willen
nicht hätte, dann wäre ich gestern schon
gestorben.“ Man solle ihr eine erfolgrei-
che Operation wünschen, fügte sie hin-
zu. Für ihre Brüder und Cousins war das
womöglich eine weitere Provokation.
Noch im Krankenhaus soll sie abermals

von Verwandten geschlagen worden
sein, wie eine Krankenschwester beob-
achtet haben will. Zu einer Operation an
ihrer offenbar verletzten Wirbelsäule
kam es jedenfalls nicht mehr. Gharib ver-
ließ das Krankenhaus, möglicherweise
gegen den Rat ihrer Ärzte.
Palästinensischen Medienberichten
zufolge starb Gharib wenig später in ih-
rem Wohnort Beit Sahour nahe Bethle-
hem. Sie sei vom Balkon gefallen, als sie
vor einem Angriff ihrer Brüder floh,
heißt es. Freunde Gharibs äußerten sich
schockiert über den Tod: „Hass und Neid

kommt von den Menschen, die dir am
nächsten sind“, schrieb eine von Gharibs
mutmaßlichen Bekannten auf Twitter.
Vergangene Woche traten drei Forensi-
ker der Strafbehörden aus Protest zu-
rück, angeblich, weil Beweise unterschla-
gen wurden, was Staatsanwalt Khatib je-
doch bestritt. Die Rücktritte hätten mit
dem Fall Gharib nichts zu tun. Nach An-
gaben palästinensischer Frauenverbände
wurden in diesem Jahr schon 18 Frauen
von Familienmitgliedern getötet. Sie wer-
den in Verbindung mit sogenannten Eh-
renmorden gebracht. Nach dem Tod Gha-
ribs hatte ihre Familie den Zusammen-
hang bestritten und von „psychischen
Problemen“ der jungen Frau gesprochen.
Der Direktor eines Frauenhauses in Beth-
lehem gab jedoch an, Gharib habe keine
psychischen Probleme gehabt, das sei,
wie so oft, nur vorgeschoben, um die Ge-
walt gegen eine Frau zu verschleiern.
Die palästinensischen Behörden ha-
ben Gharibs Familie verboten, mit Me-
dien zu sprechen. „Ehrenmorde“ seien
kein besonders verbreitetes Problem in
Palästina, ließ die Staatsanwaltschaft
dazu wissen. Nach Polizeiangaben gab es
2017 insgesamt 34 Morde, davon seien
vier Opfer weiblich gewesen, bei zwei
Frauen ging es um die „Ehre“ der Getöte-
ten. 2018 waren es demnach drei Morde
im Kontext sogenannter Ehre, in diesem
Jahr war es bislang ein Mord. Über Dun-
kelziffern wird nichts gesagt. Ein Ge-
richt soll nun entscheiden, ob Gharibs
Fall im Kontext der „Ehre“ zu sehen ist.

„Mit 25


war ich doof


wie Brot“


Kurze Meldungen


Ist der Planet K2-18b


eine Wasserwelt?


Missbrauchstäter


per Schulfahndung


identifiziert


Administrativ versorgt

Einfach weggesperrt:Frauengefängnis Hindelbank im Kanton Bern, aufgenommen im Jahr 1970 Foto Keystone Schweiz


Ursula Biondi


Von der Familie in den Tod getrieben


Der Tod von Israa Gharib facht die Diskussion um „Ehrenmorde“ in Palästina an / Von Jochen Stahnke


Noch bis 1981 sperrten


Schweizer Behörden


Personen ein, wenn sie


vermeintlich der Norm


nicht entsprachen. Nun


beginnt das Ringen um


Wiedergutmachung.


Von Johannes Ritter


Nein zur Gewalt:Frauen protestieren nach Israa Gharibs Tod in Ramallah. Foto AFP


Im Gespräch:Slam-Poet und Kabarettist
Torsten Sträter Foto Marina Pepaj

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