Neue Zürcher Zeitung - 08.09.2019

(John Hannent) #1

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NZZ am Sonntag8. September 2019
Sport

ASHLEY CAHILL/ ACTION PLUS/ IMAGO IMAGES

Séamus Colemanvom FC Everton liess sichvon Inge Jarl Clausen behandeln, bevor eszueinem Zerwürfniskam.(Dublin, 10.6.2019)

ARTUR WIDAK /NURPHOTO / GETTY IMAGES

«Die Übungen sind seine Geheimwaffe»: RadprofiMartin.(26. 2. 2019)

CLAUSBONNERUP/ IMAGO

Enttäuscht undverärgert: Radprofi Fuglsang.(9.7.2018)

ZweifelhafterWunderheiler


DerTherapeutInge Jarl Clausensagt,erretteprominenteSportlerausTiefsundrevolutionieredie


Sportmedizin.MancheseinerBehauptungenhalteneinemFaktenchecknichtstand.Von Sebastian Bräuer


M


an muss sich IngeJarl
Clausen als äusserst
selbstbewussten Mann
vorstellen.Der Norwe-
ger ist überzeugt, dass
selbst renommierte
Ärzte dieVerletzungen
vielerLeistungssportlervölligfalsch behan-
deln. Siekonzentrierten sich auf die beschä-
digtenKörperpartien, sagt er, also zumBei-
spiel auf denverspannten Rücken oder dasge-
prellte Knie. Dabei müssten sie dieMenschen
mit ihrergesamten Biografie in den Blick neh-
men. Masseure und Physiotherapeuten kriti-
siert er ebenfalls scharf: Ihre berührend-inva-
siven Behandlungen erhöhten das Risiko, sich
langwierig zuverletzen, statt es zu mindern.
Clausen hat eineMethodik entwickelt, die
seinerMeinung nach einen Paradigmenwech-
sel in der Sportmedizin darstellt: dasvegeta-
tiveTraining.Wer sich bei ihm inBehandlung
begibt, muss sich mit angewinkeltenBeinen
auf denRücken legen.Der Kopf ist leicht über-
streckt, derMundweit geöffnet, dieAugen
sindgeschlossen. Im erstenSchritt arbeitet
Clausen mit entspannendenAtemübungen.
Später provoziert er manchmal motorische
Verwirrungen. Die Sportler müssen dann,
immer noch auf demRücken liegend,Bewe-
gungen in ungewohnter Weisekombinieren,
also zumBeispiel gleichzeitig dasBecken
heben und dieSchultern kreisen. Im dritten
Teil werden Traumata thematisiert. Dabei
kann es sich um kürzlich erfolgte Stürze han-
deln, aber auch um Kindheitserfahrungen.
SeineÜberzeugungskraft ist enorm.Vor ei-
nigenJahren schickte Clausen demÖsterrei-
chischenFussball-Bund einen handgeschrie-
benen Brief. Daraufhin traf sich imAuftrag des
Verbandes der SportwissenschafterGerhard
Zallinger mit ihm, um ClausensBehandlung
an sich selbst zu erproben.Zallingers anfäng-
liche SkepsiswichBegeisterung,wie er auf
Anfrage bestätigt: «Ich war sehr erstaunt über
die Effekte auf denBewegungsapparat.» Er
liess sichvon Clausen ausbilden und gründete
einePrivatpraxis, in der er heutePrivatperso-
nenvegetatives Training anbietet.Zallinger,
derweiterhin auch mit der österreichischen
Fussball-Nationalmannschaft arbeitet, hält

dieMethodik für «revolutionär». Er sagt: «Die
Ergebnisse sind aussergewöhnlich.»
In derSchweizwendet derMentalcoach Kai
Sikorski Clausens Therapie an.Auch er pro-
bierte sie zunächst selbst aus, liess sich dann
von dem Norweger ausbilden und steht mit
ihmweiterhinregelmässig inKontakt. Sikor-
ski istGeschäftsführer bei der Firma Cyclome-
try in Dietikon. Er ist mit seinemLehrmeister
nicht immer einerMeinung. Sikorskikombi-
niert dessen Ansatz mit anderenBehandlun-
gen. ImGegensatz zu Clausen käme er nie auf
dieIdee, Masseuren und Physiotherapeuten
die Daseinsberechtigung abzusprechen. Aber
auch Sikorski sagt: «DieResultate desvegeta-
tiven Trainings sind beeindruckend.»
In Belgien hat Clausen ebenfalls einen An-
hänger:Der Fitnesstrainer Olivier Goetgeluck
aus Antwerpenwirbt mit seinerAusbildung
bei Clausen. In einem Interview, dasGoetge-
luck auf seinerWebsiteveröffentlicht hat,
hofiert er den Norweger wie einen Guru.

Ernüchterung undKritik
Leistungssportler sind oft besonders offen für
unkonventionelleBehandlungen. Siewollen
imVersuch, an die Spitze zukommen,keine
Chance ungenutzt lassen.Deswegen haben
Therapeutenwie Clausen einen grossen Zu-
lauf.Doch steht die Sportmedizin tatsächlich
amBeginn eines fundamentalenWandels?
Faktenchecks bei prominenten Sportlern,
die in derVergangenheit auf Clausenvertrau-
ten,wecken starkeZweifel. Im Umfeld der
Stars, mit denen der Norweger zu tun hatte,
macht sich im Nachhinein oft Ernüchterung
breit. Manche kritisieren den Therapeuten so-
gar offen.Soist es zumBeispiel beiJakob
Fuglsang, einem der besten Radprofis der
Welt. Der Dänegewann diesesJahr das Crité-

rium du Dauphiné und dasMonument Lüt-
tich–Bastogne–Lüttich. Clausen betreute ihn
laut eigenerAussage abDezember 2014, be-
gleiteteihn Anfang 2015 in ein Trainingslager
in Calpe und in derfolgendenSaison zu zahl-
reichenRennen. Er sei in Absprache mitFugl-
sangzeitweise sogar in dessen Nähegezogen.
Ein Sprechervon FuglsangsTeam Astana
bestätigt, dass Clausen in jenem Zeitraum mit
dem Dänen zusammenarbeitete. Er sagt je-
doch: «DassJakob dieBehandlung nichtfort-
setzte, spricht für sich. Es hat für ihn nicht
funktioniert.Jakob ärgert sich darüber, dass
der Therapeut immer noch behauptet, zu sei-
nem Erfolg beigetragen zu haben.» Erwolle
deutlich machen, dass dies nicht derFall sei.
Als er mit dieserAussagekonfrontiertwird,
beharrt Clausen darauf, seinerzeit einkompli-
ziertes Knieproblem Fuglsangs gelöst zu
haben. In derSaison 2015 habe sich der Däne
starkverbessert. Das habe am harten Training
und derexzellenten Betreuunggelegen – aber
auch amfast täglichenvegetativen Training.
Einmal sei er in einem Hotelflur einem
Astana-Manager über denWeg gelaufen. Die-
ser sei sehr zufriedengewesen und habe ihm
einenfestenJob inAussichtgestellt.
DassFuglsang heute schlecht auf ihn zu
sprechen ist, erklärt Clausen mit einerKom-
munikationspanne. Er habe einem dänischen
Journalistenvon derBehandlung erzählt. Die-
ser habeversprochen, das «geheimeWissen»
erst nach derTour deFrance 2015 zuver-
öffentlichen, sich jedoch nicht darangehal-
ten. Das habe zu grosserAufregunggeführt.
Clausen sagt: «Es tut mir sehr leid.»

Streit in Everton
Ein einmaliges Missgeschick? Dagegen
spricht, dass Clausens Engagement beimPre-
mier-League-KlubFCEverton ebenfalls im
Streit endete.Besonders intensiv hatte er dort
mit demVerteidigerSéamus Colemangearbei-
tet, wobei dieAussagen über die Dauer der
Tätigkeitweitauseinandergehen.
Clausen sagt, er sei während fünf Spiel-
zeiten in Evertongewesen. DanielDonachie,
Direktor der medizinischen Abteilung beim
FCEverton, erklärt dagegen auf Anfrage: «Er
hat etwa einenMonat mit unsgearbeitet.»

Bei einem Spieler sei dieBehandlung er-
folgreichgewesen, sagtDonachie. Allerdings
war der Effekt kurzfristiger Natur.Der Medizi-
ner sagt, er habe Clausen Zugang zu den Spie-
lerngewährt,weil er ein offenerMensch sei.
Clausen sei zudem bereitgewesen, ohneGe-
halt zu arbeiten. Er habe bei ihm,Donachie,
zu Hausegewohnt. ImRückblick bereut der
Mediziner seine Offenheit: «Er machte haar-
sträubendeBehauptungen, die ich fürfalsch
halte.» Noch mehr ärgerte er sich, dass sich
Clausen hinter seinemRücken um einenJob
beworben habe.Der Norweger habe einem
Manager desFCEvertongeschrieben, dass er
demTeam helfenkönne,Meister zuwerden.
Dafür müsse er jedochfest eingestelltwerden.
Donachie hatte das Engagement des Thera-
peuten nicht mit der Klubspitze abgesprochen
und musste dort nach dessenVorstoss müh-
sam dieWogen glätten.Der Mediziner fühlte
sichvon Clausen hintergangen und betont,
den Spielern sei es gleichgegangen. «Erwird
nicht mehr nach Everton eingeladenwerden.»
Clausen bestätigt, in Everton einenFunk-
tionär angesprochen zu haben. Allerdings sei
es nicht um eineBewerbunggegangen, son-
dern um einen allgemeinenAustausch über
den Paradigmenwechsel in der Sportmedizin.
Doch auch das sei ein grosserFehlergewesen.
Wieder sagt Clausen: «Es tut mir sehr leid.»
Der Therapeut betreut laut eigenerAussage
weiterhin mindestens einen erfolgreichen
Radprofi.Der Ire Dan Martin sei süchtig nach
vegetativem Training, sagt Clausen. Er arbeite
schon seit 2013 mit Martin zusammen und ha-
be ihm beigebracht, dieÜbungen auch allein
anzuwenden:«Sie sind seineGeheimwaffe.»
Nach einem Sturz an derTour deFrance 2018
habe er ihmvia Skypegeholfen.
Sofern das stimmt, lief es tatsächlich im
Verborgenen ab. Ein Sprechervon Martins
MannschaftUAE Team Emirates sagt:«Wir
kennenHerrn Clausen nicht, er arbeitet nicht
mit uns zusammen.»
Eine therapeutischeBetreuungvon Rad-
profis ohne dasWissen derTeamleitung ist
ungewöhnlich. Dass sie in Einzelfällen auf in-
formellerEbene funktioniert, auch aus der
Ferne, scheint möglich. Aber eineRevolution
der Sportmedizin istvia Skype kaum denkbar.

Im Umfeld der Stars, mit
denen der Norweger zu
tun hatte, macht sich oft
Ernüchterung breit.
Manchekritisieren den
Therapeuten offen.

Der 60-jährige Nor-
weger wurde laut
eigener Aussage
von Wilhelm Reich
inspiriert, einem
Schüler Sigmund
Freuds. Reichist
einer derBegründer
der Körperpsycho-
therapie, doch viele
seiner Methoden
wurden ausserhalb
seinerFangemeinde
von der Wissen-
schaft nicht akzep-
tiert. Clausen lebt in
Kiefersfelden in
Bayern und betreut
Athleten in mehre-
ren Sportarten.

IngeJarl
Clausen
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