NZZamSonntag8. September 2019
Sport 43
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H WENIG
/ SP / KEYSTONE
Zu gewinnen sei das beste Gefü hl der Welt, sagt sie:BelindaBencic an den US Open.(New York,5. September2019)
NurnocheinSchritt
NachschwierigenJahren scheintBelindaBencicmit22Jahren reiffüreinengrossenTi tel.Teenage-Wunder
wieMartinaHingis,Steffi GrafoderMonicaSelessindimTennisseltengeworden.Von Daniel Germann
A
lsMartinaHingisam31. März
1997 erstmals die Spitze der
Weltrangliste übernahm, da
war BelindaBencicgerade
drei Wochen alt. Und doch,
so zumindestgeht die Le-
gende, stand für ihrenVater
bereitsfest, dass seineTochter dereinst die
Nachfolgerinvon Hingiswerden sollte.Ivan
Bencic hat dieGeschichte zwarwiederholt
dementiert.Doch klar ist, dass Martina Hingis
die Karrierevon BelindaBencic inspiriert,
später auch beeinflusst hat – zuerst indirekt
über ihreMutter MelanieMolitor, die das jun-
ge Talent in ihrerTennisschule inWollerau
förderte, später auch direkt alsBeraterin im
Umfeldvon Bencic.
Und dochkönnten die Karrieren der beiden
SchweizerTennisspielerinnen nicht unter-
sc hiedlicher sein. Mit22 Jahren hatBencic
dieseWoche amUS Open ihren ersten Grand-
Slam-Halbfinal erreicht. Als Hingis in diesem
Alter war, hatte sie bereits fünf Major-Titel ge-
wonnen, war während 209Wochen die Num-
mer eins im Rankinggewesen und zum ersten
Mal zurückgetreten.
Der Schatten von Martina Hingis
Die Geschichte von BelindaBencic ist nicht
die Geschichte von Martina Hingis. Und doch
wird die Ostschweizerin denSchatten ihrer
prominenten Landsfrau bis heute nicht los:
weil sie mit Hingis die slowakischenWurzeln
und dieSchweizerWahlheimatteilt, weil sie
dieselbeTennisschule durchlief undweil auch
ihre Karriere unweigerlich der Spitze ent-
gegenzustreben schien, als sie mit17 erstmals
die Viertelfinals amUS Open erreichte. In den
Tagen vor dem ersten Halbfinal in NewYork,
als Bencic unter anderen die japanischeWelt-
ranglistenerste NaomiOsaka schlug,wurden
sie und auch ihrVater Ivan immerwieder auf
Hingis und derenMutter MelanieMolitor an-
gesprochen.Ivan Bencic sagte:«Wir sind
Melanie ewig dankbar.Belinda, aber auch ich
haben enormvon ihr profitiert. Alles, was ich
überTennisweiss, weiss ichvon ihr.»
Was er nicht sagte, möglicherweise aber im
Kopf gehabt hatte: DieBencics haben auch
aus denFehlerngelernt, die Hingis und ihre
Mutter gemacht hatten. ImFrühjahr 2003 trat
Martina Hingis zum ersten Mal zurück – offi-
ziellwegen einerFussverletzung, aber auch
weil der Alltag auf derTour siezermürbt
hatte. Roger Federer erzählte in NewYork, wie
oft dasReisen gerade in den erstenJahren der
Karriere eineLast gewesen sei, ihm seineKol-
legen zu Hausegefehlt hätten. Wenn dazu
noch derfrühe Ruhm kommt und der Druck,
diesen immerwieder neu bestätigen zu müs-
sen, kann das einen jungen Spieler, eine junge
Spielerin ausbrennen.
Bencic zeigte in denJahren nach ihremfrü-
hen Durchbruch alarmierende Signale. Sie
spielte zu oft, war mehrmalsverletzt,ver-
nachlässigte ihrenKörper und begann zu hin-
terfragen, was sie tat. DieRestriktionen, die
die WTA unter anderem nach dem tiefenFall
der AmerikanerinJenniferCapriati einführte
und die den Kalender junger Spielerinnenvor
dem18. Lebensjahr einschränken, bewahrten
sie davor, ähnlichfrüh in dieTour einzutau-
chen,wie es Hingisgetan hatte.
Martina Hingis galt alsWunderkind, als sie
1994 zweiWochen nach dem14.Geburtstag in
Zürich ihr erstes WTA-Turnier bestritt. Doch
es war zu dieser Zeit normal, dassTeenager
Grand-Slam-Turnieregewannen. Steffi Graf
war bei ihrem ersten Titel 18 Jahre alt, Arantxa
Sanchez-Vicario 17, MonicaSeles 16, Gabriela
Sabatini18, Serena Williams18. Das hat sich
geändert. Die letztenTeenager, die grosse Ti-
tel gewannen, waren 2004 MariaScharapowa
und SwetlanaKusnetsowa.JelenaOstapenko
siegte 2017 amFrench Open zweiTage nach
ihrem 20.Geburtstag. Und Bianca Andreescu
stand in der Nacht auf heuteSonntag mit
19 Jahren in ihrem ersten Final.
Doch Ostapenko, Andreescu oder auch
NaomiOsaka, dievor einemJahr kurzvor dem
- Geburtstag erstmals in NewYork siegte,
sind zuAusnahmengeworden. Die Liste der
Spielerinnen, die den ersten Major-Titel erst
in reiferem Altergewannen, ist länger: Sloane
Stephens war 24, Simona Halep 26,Caroline
Wozniacki 27, AngeliqueKerber 28, Li Na29,
Flavia Pennetta sogar33. Das jüngsteBeispiel,
wie sehrfrüher Ruhm belasten kann, ist Ash-
leighBarty. DieAustralierin nahm sich mit 19
eineAuszeitvom Tennis und spielte stattdes-
sen Cricket, ehe sie zurückkehrte und imJuni
mit 23Jahren inRoland-Garrosgewann. Am
Montag wird sie NaomiOsaka als Nummer
eins im Ranking ablösen.
An Widerständen gewachsen
Bencic sagte nach dem Sieggegen Osaka:
«Weil ich bereits mit16, 17 Ja hrengespielt ha-
be, denkenviele, ich sei älter, als ichwirklich
bin. Doch die Erfahrungen undRückschläge
helfen mir.Ich habe durch sieviel gelernt.
Mantendiert dazu, zu glauben, dass es in
einer Karriere immer nur aufwärtsgeht. So ist
es nicht.Ich denke, die meisten grossenAth-
leten musstenWiderstände überwinden und
schwere Zeiten durchleben. Mich haben diese
stärker und auch zu einer besseren Spielerin
gemacht.»
Die neueGeneration orientiert sich an
Serena Williams. Die Amerikanerin mag eine
Ausnahmeathletin sein. Am 26.September
wird sie 38 undgehört immer noch zu den
Besten.Doch auch ihreVita ist nichtfrei von
Rückschlägen undfreiwilligen oder unfreiwil-
ligen Pausen. Sie haben möglicherweise dazu
beigetragen, dassWilliams immer noch spielt.
Williams schöpft ihre Kraft aus den Siegen.
Zu gewinnen, sagtBencic, sei das besteGefühl
der Welt. «Wenn manverliert, dann fühlt man
sich miserabel.Doch die Emotionen,wenn
mangewinnt, sind noch intensiver undwie-
gen denSchmerz der Niederlagen mehr als
auf. Wenn man sie einmal erlebt hat, trägt es
einen auch durch die schlimmenMomente.
Du willst diesesGefühl wieder spüren.»
Für BelindaBencic endete dasUS Open in
der Nacht aufFreitag mit einer Niederlage
gegen Bianca Andreescu, undwie miserabel
sie sich fühlte, stand ihr insGesichtgeschrie-
ben.Doch es scheint eineFrage der Zeit, bis
sie den ersten grossen Titel gewinnt. Mit 22
Jahren stehtBencic noch immer am Anfang
ihrer Karriere, für Martina Hingis war die mit
22 im Prinzipvorüber. Schon deshalb lassen
sich die beiden Spielerinnen allen Parallelen
zum Trotz nichtvergleichen.
Weil ich bereits mit
16,17Jahrengespielt
habe,denken viele, ich
sei älter, als ich wirklich
bin. DieErfahrungen
helfen mir.»
Gleich in ihrer ers-
ten Pr ofisaison 2014
erreichteBelinda
Bencicam US Open
die Viertelfinals,
verbesserte sich im
Rankig um 179
Plätze und wurde
am Ende des Jahres
von der WTA als
Neuling des Jahres
ausgezeichnet.
BencicHochs
undTiefs
Kurz nachdemsie
am 22.Februar 2016
erstmals in die Top
Ten vorstiess(7),
begannen ihrekör-
perlichen Probleme.
Im Mai2017 unter-
zog sie sich einer
Handgelenkopera-
tion undstürzte
wegen derPause im
WTA-Ranking auf
Platz318 ab.
NaomiOsakaistimPrinzipnicht
dieZukunftdesFrauentennis,
sondernprägtdieSzenebereits
seit1Jahrmit.Vor12Monaten
katapultiertesiesichmitihrem
SiegamUSOpenimFinalgegen
SerenaWilliamsindieöffent-
licheWahrnehmung.Siegewann
danachauchdasAustralian
OpenundübernahmdieWelt-
ranglistenführung.Die21-jäh-
rigejapanisch-amerikanische
DoppelbürgeringiltalsAllroun-
derin,diedieSzeneinden
nächstenJahrenprägenkann.
DieZukunftdesFrauen-Tennis
Werdie
WTA-Tour
prägen
könnte
Vor einem Jahr gehörte Bianca
Andreescu noch nicht den Top
200 an und scheiterte am US
Open in der ersten Runde der
Qualifikation. Doch2019 war ein
herausragendes Jahr für die
19-jährige Kanadierin mit rumä-
nischenWurzeln. Mit einer Wild
Card ins Turniergekommen,
gewann sie in Indianapolis,
später im Herbst auch ihr Heim-
turnier in Toronto. Dazwischen
zwangen sie Schulterprobleme
auf denVerzicht der Sand- und
Hartplatzsaison.
Cori «Coco» Gauff qualifizierte
sich in Wimbledon überdie Qua-
lifikation für das Hauptturnier
und schlug dort in der ersten
Runde diefast 24 Jahre ältere
Venus Williams. Seither gilt sie
in den USA als Starder Zukunft.
Am US Open erreichte sie die
dritte Runde,wo sie allerdings
gegen Osaka chancenloswar.
Erst 15-jährig darf Gauff nur
reduziert auf der WTA-Tour
spielen.Die Amerikanerin wird
von RogerFederers Agentur
«Team 8» betreut.(gen.)
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