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NZZamSonntag8.September 2019
Sport
DerRekordmeister
E
s sind nur noch ein paarMo
nate, dann begeht der HC Da
vos sein 100-JahreJubiläum.
Es gibtviel zufeiern undwür
digen. Die Historie des HCD ist
reich anHöhepunkten, 31mal
wurde erSchweizerMeister.
DieVergangenheit funkelt über den Davoser
Bergen in so betörenderSchönheit, dass die
Nostalgie dieGegenwart zu ersticken droht.
Dabei muss derRekordmeister sich neu erfin
den, erversucht das seitzehnMonaten, seit
im November der Trainer ArnoDel Curto nach
23 Jahren und sechsMeistertiteln zurücktrat.
Del Curto war mehr als ein Coach, er war eine
Lichtgestalt mit erdrückender Machtfülle und
auch ein Sinnstifter. Im HCD galt das Credo:
Wir haben Arno, also sindwir.
Es gab eine Zeit, da hatte der Glaube an den
Trainer beinahe etwasReligiöses, seineAura
wirkte auf die Spieler, den Anhang, die Spon
soren.Del Curto garantierteKompetitivität, er
stand für dasVersprechen, dass alles möglich
ist, auch der Titel, jedenFrühling.Solange
jedenfalls, bis seinSystem implodierte,weil
Spieler mehr oderweniger offenrebellierten,
als der Coach sich schwer damit tat, mit der
Zeit zugehen.Del Curto istVergangenheit im
HCD, er ist durch zwei Engadiner ersetztwor
den: den Manager Raeto Raffainer und den
Trainer ChristianWohlwend.Beide arbeiteten
zuletzt erfolgreich beiSwissIce Hockey, und
imFall von Raffainer lässt sich die neueAuf
gabe durchaus mit der altenvergleichen.
34 Seiten Strategie
Als Raffainer 2015 aus dem Nichts National
mannschaftsdirektorwurde, hatte derVer
bandkeinen Plan undkeineIdentität. Raf
fainer brach alteMuster auf, er profilierte sich
alsModernisierer mit ganzheitlichemDenk
ansatz. Er entwickelte dieVision, aufSchwei
zer Trainer zu setzen, und schärfte so dasPro
fil und dieWahrnehmung der Nationalteams
innert kurzer Zeit signifikant.Auch der HCD
braucht in der Sportabteilung eine neue Stra
tegie, eine neueVorgehensweise. Raffainer,
seitAugust im Amt, hat sie niedergeschrie
ben, auf 34 DIN-A4-Seiten. Sie sieht drei Pha
senvor, und an deren Ende soll derRekord
meisterwieder ein Titelkandidat sein. Etwas,
was er heute nicht ist.
Trainer der U-20-Nationalmann
schaft. Er soll die jungeMannschaft
weiterentwickeln, dieTalentever
edeln, das ist dieHoffnung. Er soll
ebenso zur Trumpfkarte des Klubs
werdenwie Raffainer, der darin be
griffen ist, ein Umfeld zu schaffen,
in dem es an nichtsfehlt. Die indi
viduelle Entwicklung junger Spie
ler soll zum Alleinstellungsmerk
mal des HCDwerden, eines sehr
erfolgsverwöhnten Klubs, der in
einer derart strukturschwachen
Region beheimatet ist, dass er
finanziell nicht mehr mit den
Schwergewichten der Liga mit
halten kann. Raffainer sagt
dazu: «Es muss unser Ziel sein,
dass jeder U-20-Nationalspie
ler nach Davos wechselnwill,
weil er hier die bestenPer
spektiven sieht.»
Er plant, alleAgenten mit
entsprechendenTalenten im
Portfolio einzuladen, ihnen
die neue, eben fertiggestellte
Trainingshalle zuzeigen und sie zu
ermuntern, ihre Klienten zum HCD zu
schicken. Es ist eingewitzter Plan, aber
dieKonkurrenz ist enorm.Juniorenförde
rungist dasSchlagwort der Stunde in der
Branche, man hört es in Zug, inGenf, in
Lugano, in Ambri. EswirdÜberzeugungs
arbeit brauchen dafür, dass Davos in diesem
Bereich diePremiumdestination imLand ist.
DochAggressivität auf dem Transfermarkt,
das ist Phase 2.
- Phase 3.Davos ist eine stolze Organisation,
siewill ambitioniert bleiben. InvierJahren
will der HCDwieder ein ernsthafter Titelkan
didat sein. Dafür braucht es Kreativität, denn
auchwenn 2021 die Stadionsanierung abge
sc hlossen ist,wirdDavos budgettechnisch
nicht zu dentop vier der Liga zählen.Dome
nig sagt:«Wir müssen unsvon derIdeever
abschieden, dasswir alle zwei, dreiJahre
Meisterwerden. Ein Titel proJahrzehnt ist
realistischer, aber diesePerspektivehaben
wir. DieLigawirdausgeglichener. Und für
dasProdukt ist das gut.»
Emanzipation ohneVerrat am Erbe
Raffainer undWohlwend stehenvor der der
zeit vielleicht grösstenHerausforderung im
Schweizer Eishockey: den HCD neu zu erfin
den und aus demSchattenDel Curtos heraus
zutreten. Die beiden habenviel verändert im
Klub, es gibt jetztKommunikationsweisungen
und Trainingspläne. DasSommertraining
wurde verändert und individualisiert. Das
neueRegime emanzipiert sichvon Del Curto,
aber esverrät das Erbe nicht.Wohlwend sagt,
er verspüre «vielDemut und Dankbarkeit». Er
sagt auch: «Die Intensität undLeistungsbe
reitschaft ist enorm.Jeder ist bereit,konstant
über dieLeistungsgrenzen hinauszugehen.
Arno hat dieseKultur implementiert.»
Es ist nicht das einzigeVermächtnisDel
Curtos, das im HCD hochgehaltenwird. Davos
dürfte das schnellsteTeam der Liga stellen –
Del Curtos Flair fürLauf undTempohockey
istgeblieben. Es nährt dieHoffnung, dass
2020 nicht nur dieVergangenheitgefeiert
werden kann.Sondern auch dervielverspre
chendeBeginn einer neuen Epoche.
Del Curto war mehr
als ein Coach, erwar
eine Lichtgestalt
mit erdrückender
Machtfülle undauch
ein Sinnstifter.
SaisonstartimSchweizerEishockey
Am Freitag nimmt die National
League ihren Spielbetrieb auf.
Einen klaren Titelfavoriten gibt
es nicht. Der Meister SC Bern hat
im voraussichtlich letzten Jahr
der Schaffenszeit des finnischen
Trainers Kari Jalonen mehrere
ernsthafteWidersacher. Die
ZSC Lions haben sich mit dem
schwedischen Weltmeistercoach
Rikard Grönborg neuformiert
und stellen noch immer das
vermutlichtalentiertesteund
breiteste Kader der Liga. Der EHC
Biel, der dieBerner imFrühjahr im
Play-off-Halbfinal beinahe elimi-
niert hätte, meldet Ansprüche an
und hatseine Equipe noch einmal
aufgewertet. Der Lausanne HC
eröffnet sein neues Stadionbijou
und hat sich durch eine Reihe
kostspieliger Akquisitionen als
ernsthafter Titelkandidat profi-
liert. Pikant: Die beiden Grossv er-
diener und Nationalspieler
Christoph Bertschy und Joël
Vermin befinden sich in einem
Rechtsstreit mit ihrem Agenten
Georges Müller. Der Zwist um die
Vermittlungsprovisionenkönnte
noch für Unruhesorgen – über
Lausanne hinaus.
Vor allem aber drängt der EV
Zug an die Spitze, der letztjährige
Play-off-Finalist. Das Budget für
die erste Mannschaft wurde noch-
mals um eine mittleresechsstel-
lige Summe erhöht. Mit Leonardo
Genoni (Bern) wurde der beste
Viele Herausforderer für den PrimusSC Bern
Torhüter der Liga engagiert, mit
Gregory Hofmann (Lugano) der
letztjährige Torschützenkönig.
Die Zuger haben unter dem Trai-
ner Dan Tangnes einforsches
Saisonziel ausgegeben, den
Gewinn allerdrei Ti tel (Meister-
schaft, Cup, Champions Hockey
League), aberes korrespondiert
mit derRealität: Alles andere als
der erste Meistertitel seit 19 98
gälte in Zug als Enttäuschung.
(nbr.)
Einsame
Spitze
31
Meistertitel hat der
HC Davos gewonnen.
Der erste Verfolger
Bern kommt auf 16.
2015
feierte der HCD die
letzte Meisterschaft.
Es war die Abschieds-
saison der Koryphäe
Reto von Arx.
8
Auswärtsspielein
Folge muss derHCD
aufgrund des Sta-
dionumbaus zu Sai-
sonbeginn zunächst
bestreiten.
strampeltsichfrei
- Phase 1.
DieSaison
201 9/20 mar
kiert den Neustart. ImVor
jahrverpasste Davos erstmals
seit demWiederaufstiegvon
1993 dasPlayoff. Es ist ein
Szenario, das sich nichtwie
derholen darf. Raffainer sagt:
«Wir streben die Playoffs mit
aller Macht an.» Esgehtweni
ger um die Playoffs an sich, als
vielmehr darum,Vertrauen zu
schaffen in das neue Manage
ment und den neuen Trainer.
Beide brauchenvor allem Zeit.
Der HCD lässt sich nicht über
Nachtrenovieren.
Raffainerweiss das, es ist der
Grund dafür,weshalb er sich im
Sommer auf einen Transfer einge
lassen hat, dem er sonst niemals
zugestimmt hätte: Er schickte den
unzufriedenen, aber hochtalen
tiertenVerteidigerJulian Payr,18,
nach Ambri, und erhielt imGegen
zug den 31Jahre alten Dutzend
verteidigerLorenz Kienzle. Es ist
ein Wechsel, der Davos morgen
schlechter macht. Aber heutevielleicht
etwas besser. Eszeigt,wie viel Bedeutung der
HCD und Raffainer der Anfangsphase dieser
neuen Ära beimessen.
Der Klub brauchtGoodwill, internwie
extern, denn dieKonstellation ist heikel: Raf
fainer undWohlwend sindfreundschaftlich
verbunden, der Manager war bei derHochzeit
des Trainers einst Trauzeuge.Der Vorwurf des
Nepotismus steht schnell im Raum, nur dann
allerdings,wenn der Erfolg ausbleibt. Darum
braucht der HCD die Playoffs.Denn eine
Carte blanche,wie Del Curto sie hatte, besit
zen die neuen Macher nicht.Selbst derPrä
sident GaudenzDomenig, ein ZürcherWirt
schaftsanwalt, sagt:«Wahrscheinlichwerde
ich bei sechs Niederlagen am Stück heute ner
vöser, als das bei Arno derFall war.»Del Curto
hatte das Playoffkein einziges Malverpasst. - Phase2.Wohlwend hat die Stelle erhalten,
weil er sich einenRuf als fähigerAusbildner
erarbeitet hat. Er coachte imNachwuchs des
HC Lugano und war zuletzt dreiJahre lang
Zehn Monate nach dem Abgang der Li chtges talt ArnoDel Curto versucht sich
der Rekordmeister HC Davos neuzu erfinden.Es ist ein kniffligerBalanceakt in
voraussi chtlich drei Phasen.Von NicolaBerger