Neue Zürcher Zeitung - 08.09.2019

(John Hannent) #1

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ImFokus


DieSportwoche


«Federerverliertgege n Vater Zeit», titelte die
«Süddeutsche Zeitung», nachdem der
SchweizerTennisspielerRogerFedererim
US-Open-Viertelfinalverloren hatte. Weiter
unten im Text stand erläuternd, die Ameri-
kaner sagten:«Vater Zeit ist unbesiegt» –
damit drückten sie aus, dass die Karrieren
von Sportlern «nun mal nicht ewig dauern».
Bloss:Was ist die Zeit? Die Uhr? Und
warum ist sie nicht eineMutter?
Mutter Zeit undGevatter Tod?
Federer hatte im Match gege n Vater Zeit
(auf Bulgarisch:GrigorDimitrow)nach
Sätzen zweimalgeführt.Doch er liess sich
noch «die Butter vom Brot streichen»,wie
der VerteidigerFabianSchärsagte, nachdem
die SchweizerFussballer amDonnerstag
gege n Irland nur 1:1gespielt hatten.
Aber immerhin hatten dieSchweizer ein
Stück Brotgehabt.Der FC Zürich wäre nur
schonfroh, ein altesWeggli zu finden. Nach-
dem die ZürcherFussballervor zweiWochen

kämen zumSchluss, «dass es die Zeit objek-
tiv überhaupt nicht gibt», stand einst auf
focus.de – «das zu erkennen, istvielleicht die
grösste intellektuelleHerausforderung, mit
der dieMenschheit jemalskonfrontiert
wurde», sagte derGelehrteVesselinPetkov.
Immer mehr Experten und Philosophen
kommen zumSchluss, dass es denFCZ als
Spitzenklub objektiv überhaupt nicht gibt


  • das zu erkennen, istvielleicht die grösste
    intellektuelleHerausforderung, mit der
    Canepa jemalskonfrontiert wurde.
    So, die «Sportwoche» macht Urlaub.Ich
    werd e verreisen, zuMutter Natur, und mich
    und meinGesicht wappnengege n Väterc hen
    Frost. Immer mehr Amerikaner und Philoso-
    phenkommen zumSchluss, dassFerien nun
    mal nicht ewig dauern – das zu erkennen, ist
    vielleicht die grösste intellektuelleHeraus-
    forderung, mit der ich jemalskonfrontiert
    wurde. Aber diese1814400 Sekunden lasse
    ich mir nichtvom Pausenbrot streichen.


Visagist Magnin und Finalist Federer, oder: Pausenbrot!


gege n YB 0:4verloren hatten, sagte der
TrainerLudovicMagnin:«Wir werd en in drei
Wochen ein ganz anderesGesicht zeigen.»
Wie sieht eswohl heute aus, eineWoche
vor Fertigstreichung(das Gesicht, nicht das
Brot)?Der FCZ-SportchefThomasBickel
sagte einst, Magnin erfinde sich jedenTag
neu –wie ist es,wenn er dasGesicht eines
Spitzenklubs modelliert,wie es derFCZ laut
dem PräsidentenAncilloCanepaist? Ruht
der Visagist Magninwenigstens sonntags?
Und was machen Sie heute so?Federer
jedenfalls steht imUS-Open-Final.Denn in
Wahrheit ist dervierfacheVater unbesiegt.
Zeit? Gibt es nicht, so sagte es mein bester
Freund schonvor vielen Jahren. IhrenVater?
Nochviel weniger. Sie hilft uns, dasLeben
zu unterteilen, in Stunden undTage, sie gibt
uns Halt,wie der Abwehrchef einemFuss-
ballteam(das wär’s:VaterZeitin derVertei-
digung desFCZ), aber mehr ist da nicht.
Immer mehr Physiker und Philosophen

Von BenjaminSteffen


Bakery Jatta stand inDeutschland imZentrum einerKontroverse. Jetzt wurde der begabte Fussballer vom


Vorwurf freigesprochen, alsFlüchtling mitfalschen Angaben eingereistzu sein.Von StefanOsterhaus


N


icht ausgeschlossen, dass
BakeryJatta in den nächsten
Tagen einen Anruf erhält.Der
Anruferkönnte sich als Stefan
Kuntz vorstellen, erkönnte
Jatta erklären, dass er der
Trainer des deutschen U-21-Teams ist.
Womöglichwürde Kuntz Jatta für dessen
Auftritte mit dem Hamburger SV belobigen
und ihnfragen, ob er bereitstünde, das deut-
sche Nationaltrikot überzuziehen.Schon vor
einigenTagen hatKuntz öffentlich erklärt,
dass er den 21-JährigenAussenläufer für
einen begabtenFussballer hält – für einen,
dessen Qualitäten seinem Nachwuchsteam
guttunwürden.
Käme es so, dannwürde BakeryJatta ver-
mutlich für einenAugenblick innehalten.
Vielleichtwürde er sichvergegenwärtigen,
wie irr witzig die Dinge sind , die ihm in den
letztenWochenwiderfahren sind. DiePers-
pektive, für Deutschland zu spielen. Und das
erst ein paarTage, nachdem das Hamburger
Bezirksamt die Untersuchungen gege n ihn
eingestellt hat.Jatta warverdächtigtword en,
falsche Angaben zur Erlangung einesAufent-
haltstitels getätigt zu haben. Erst mittels
einerGeburtsurkundekonnte er seineVer-
sion bekräftigen.
Gerüttelt wurde an seinen Grundfesten –
an derIdentität desBakeryJatta. Vor gut
einemMonat kam die«Sport Bild» mit einer
Geschichte heraus, die spektakulärtönte.
Der Mann, der im HSV unter dem Namen
BakeryJatta reüssiere, heisse inWahrheit
Bakary Daffeh, sei ein Migrant aus Gambia
und nicht,wie er angebe, 21Jahre alt, son-
dern tatsächlich zweiJahre älter.Bereits in
Gambia und auch inSenegal habe er auf pas-
sablem Niveau gespielt, ehe er sich über die
Mittelmeerroute auf denWeg nach Europa
machte.
Der Vorwurf, den«Sport Bild»gege n Jatta
erhob, war also schwerwiegend.Zwar hat
Jatta nie einen Asylantraggestellt, dennoch
war das Alter des Mannesrelevant, um den
Aufenthaltsstatus nicht zugefährden. Ein
Minderjähriger, derJatta zum Zeitpunkt
seines Ankommens war,wird so sc hnell
nicht ausgewiesen.
Der Vorwurf, mit einer erfundenenIdenti-
tät eingereist zu sein, trifft hier erstmals
einenProminenten. Dabeigeht die Zahl der
Migranten, die sich in den letztenJahren
gege nüber deutschenBehörden nicht aus-
weisen konnten, inzwischen in die Abertau-
sende. Es war gängigePraxis, deren Angaben
zur Herkunft zu glauben oder siewenigstens
glauben zuwollen. Anders war es auch nicht
bei Jatta, der unter all den Neuankömmlin-
gen, die 2015 insLand strömten, mit einer
besonderenFähigkeit herausstach: Erkonnte
atemberaubend gutFussball spielen – so gut,
dass sich nicht nur der Hamburger SV, son-
dern auchWerder Bremen für seine Dienste
intere ssierte.

Erist,dererist

Und Jatta machte sich gut. Innert kurzer
Zeit fand er sich zurecht im HSV, und nicht
nur das: Mit einemGehalt von einer halben
Million Euro alimentiert der junge Mann die
öffentliche Hand in nicht unerheblichem
Masse. Zudem gibt es kaum einen HSVler,
der nicht betont, was für einfeiner Kerl Jatta
sei. «Viele Menschen inDeutschlandwissen,
dass esvom erstenTag an nicht in Ordnung
war, was mit ihm passiert ist», sagt sein
Coach DieterHecking. Im Klub hegte nach
offiziellerLesart niemand ernsthafteZweifel
daran, dass es sich beiJatta nicht umJatta
handelnkönnte. Ebenso wenig wurde sein
Alter bezweifelt, obschonJatta, damals
17-jährig, bei einer medizinischen Unter-
suchung am Universitätsklinikum Eppendorf
bescheinigtword en war, dass seinWachstum
bereits abgeschlossen und er demzufolge ein
recht ausgewachsenerTeenager sei.
Dabeitönt manchesDetail derJatta-Saga
auch im Licht der neuen Erkenntnissefast
eine Spur zu märchenhaft.Der Freizei tfuss-
baller, der auf kargem Boden kickt, der nie in
einem organisiertenTeam gespielt haben
will, wird, kaum inDeutschland, zumProfi


  • zweifelsfrei eine emotionaleGeschichte,
    die aber niemals so hitzig diskutiertword en
    wäre, gäbe es nicht ein politisches Grund-
    rauschen. Erstrecht hitzigwurde die Diskus-
    sion, als dieGegner des HSV gleichreihen-
    weise für ihre Einsprüchegege n dieWertung
    ihrer Spielegege n die Hamburger gerügt
    wurden. Wenn aber beimGegner ein Spieler
    aufläuft, der möglicherweise nicht hätte
    auflaufen dürfen, liegt ein Einspruch im
    Intere sse des jeweiligen Klubs.
    Nun aberwurde ein sportrechtlicher Ein-
    wand politisiert:Wer den Einspruch für
    gerechtfertigt hielt,wurde von derGegen-
    seite flugs alsxenophob dargestellt,wer
    Jattas Version dagegen Glauben schenkte
    und die Klubs der Unmenschlichkeit zieh,
    wurde als naivverspottet.
    Dabei muss sich niemandwundern über
    den schrillenTonfall. DieDebatte um Migra-
    tion kennt inDeutschlandweder Mass noch
    Mitte. Insofern sind dieGedankenspiele des
    U-21-Trainers StefanKuntz der Situation
    durchaus angemessen. Kaum hatJatta glaub-
    haft machenkönnen, er selbst zu sein,
    winken ihm deutscheAusweispapiere im
    Schnellverfahren, um den DFB-Nachwuchs
    zu verstärken. Ein Nationaltrikot statt der
    Ausschaffung: Es wäre das wahrhaft mär-
    chenhafte Ende einer irrwitzigenGeschichte.


Bakery Jatta spielte als
Freizeitfussballer nie
in einem organisierten
Team.Kaumwar er in
Deutschland, wurde er
beim HSVProfi.

Er stammt aus Gam-
bia undreiste 20 15
über die Mittel-
meerroute nach
Europa. Aufgrund
seinerfussballeri-
schenFähigkeiten
wurden sowohl der
HSV als auch Wer-
der Bremen auf ihn
aufmerksam. Jatta
entschied sich
für den HSV, wo er
mittlerweile zum
Stammspieler avan-
cierte. Für die Ham-
burger hat er in
47 Spielen 7 Tore er-
zielt. In derlaufen-
den Saisonstand er
in jedemSpiel des
Zweitligisten in der
Startformation.

Bakery
Jatta

Sein Klub hegte nieZweifel: HSV-SpielerBakeryJatta.(Hamburg, 1. September2019)

IMAGO

Laut der « Süddeut-
schenZeitung»hat
RogerFederer
gegenVater Zeit
verloren. Aber sein
Gegner hiess Grigor
Dimitrow – un d gibt
es die Zeit objektiv
überhaupt?

USA TODAY SPORTS

/ REUTERS
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