Beobachter - 13.09.2019

(nextflipdebug5) #1
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ie frisch Pensionierten sind be-
gehrt wie nie. Der Bundesrat will
mit jeder neuen Reform Anreize
setzen, dass sie möglichst bis 70 weiter-
arbeiten. Die Bürgerlichen und die
Wirtschaftsverbände propagieren AHV-
Alter 67. Und die Firmen fürchten, dass
ihnen bis in zehn Jahren eine halbe
Million Fachkräfte fehlen. Nur wenn die
Babyboomer länger arbeiteten, könne
die Misere abgewendet werden.
Die Wirtschaft aber tut wenig, um
Mitarbeitende über die Pensionierung
hinaus zu halten, das zeigt eine Um-
frage bei einigen grossen Arbeitgebern.
Bei den SBB sind es 74 von gut 32 000
Mitarbeitenden, beim Industriekon-
zern Sulzer 6 von gut 1000, beim Kanton
Zürich 8 von 17 000 Lehrpersonen.
Die Swisscom wollte sich «lieber
nicht» an der Umfrage beteiligen. Das
durchschnittliche Pensionierungsalter
liege bei 62 bis 63 Jahren. Nur Mitar-
beitende mit speziellen Fähigkeiten
arbeiteten länger, aber auch das nur in

Ausnahmefällen. Bei der Migros sind es
immerhin 730, also 0,8 Prozent der
Belegschaft. Allerdings gilt beim Detail-
händler für alle Pensionsalter 64.
Ein nur wenig besseres Bild zeich-
nen die Statistiken des Bundes. Die
Schweiz weist bei den 55- bis 64-Jähri-
gen eine der höchsten Beschäftigungs-
quoten weltweit aus. Arbeitsamer sind
nur die Menschen in Japan, Schweden,
Neuseeland und Island. Bei den Pensio-
nierten schafft es die Schweiz aber
nicht einmal auf OECD-Durchschnitt.

Pensionierte arbeiten Teilzeit. Die Rea-
lität sieht noch schlechter aus, denn die
Statistik beschönigt die Lage. Danach
erzielen 20 Prozent der 65- bis 74-Jäh-
rigen ein Erwerbseinkommen, aktuell
180 000 Menschen. Etwas mehr als die
Hälfte davon haben aber ein Pensum
von weniger als 50 Prozent. Als er-
werbstätig gilt bereits, wer eine Stunde
pro Woche arbeitet oder unentgeltlich
im Fami lienbetrieb tätig ist. Länger

erwerbs tätig bleiben häufig Selbstän-
dige – aus verschiedenen Gründen.
Rund ein Viertel der Beschäftigten im
AHV-Alter zählt zu dieser Kategorie.
Fehlanzeige auch bei Programmen,
die die Altersarbeit fördern. Sulzer etwa
hat keins. Man betreibe «aktive Nach-
folgeplanung, und der Bedarf an Weiter-
arbeit ist meist nicht gegeben».
Die SBB haben zwar ein Modell zur
Weiterbeschäftigung bei reduziertem
Beschäftigungsgrad in «gegenseitigem
Einvernehmen», aber nur gut 0,2 Pro-
zent der Mitarbeitenden sind über 65.
Die Migros kennt sogenannte Bogen-
karrieren zwischen 58 und 70 Jahren.
Dabei geben ältere Mitarbeitende
Verantwortung ab und reduzieren ihr
Pensum. Trotzdem sei bei vielen An-
gestellten der Wunsch grösser, den
neuen Lebensabschnitt anzutreten, als
derjenige, im Job zu bleiben.
Dass so viele mit dem Erreichen des
AHV-Alters ihren Job aufgeben, hat
auch finanzielle Gründe. Es lohnt sich

RENTE. Alle sollen über das Pensionsalter hinaus arbeiten,
fordern Wirtschaft und Politik. Aber sie tun wenig,
damit sich das für Pensionierte lohnt.

Arbeit im


Alter nützt nur


dem Staat


24 Beobachter 19/2019
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