Der Spiegel - 31.08.2019

(lily) #1

didatenpärchen nach dem anderen auf die
Bühne trat, schwebte der Name »Kühnert«
immer als Option über allem. Er war der
unbekannte Faktor, von dem klar war, dass
er alles verändern würde, wenn er denn
anträte – weil er so bekannt ist wie kaum
ein anderer aktiver Genosse. Und weil er
mit knapp 80 000 Jusos im Rücken ange-
treten wäre, was fast einem Fünftel der
SPD-Mitgliedschaft entspricht.
Seitdem klar ist, dass Kühnert nicht
antritt, ist das Kandidatenfeld so gut wie
komplett. Zwar läuft die Bewerbungsfrist
erst am Sonntag ab, doch es ist nicht über-
mäßig wahrscheinlich, dass bis dahin noch
größere Kaliber auf den Plan treten. Min-
destens acht Duos wollen sich bewerben,
wie viele am Ende die formalen Hürden
nehmen, wird sich bis Sonntag zeigen. Am
Mittwoch präsentieren sich die Kandida-
ten in der ersten von 23 Regionalkonferen-
zen ihrer Partei. Es wird um mehr gehen


als nur die SPD und ihre Zukunft. Es wird
auch darum gehen, ob und wie es mit der
Großen Koalition weitergeht.
In der Union verfolgen sie seit dem
Rücktritt von Andrea Nahles vor drei Mo-
naten misstrauisch alles, was sich bei den
Genossen tut. CDU wie CSU fürchten,
dass sich ein Kandidatenduo mit einem kla-
ren Bekenntnis gegen die Große Koalition
durchsetzen und die Partei dann umge-
hend aus dem ungeliebten Bündnis führen
könnte. Wäre Kühnert eingestiegen, wäre
das zur realen Gefahr geworden.
Doch nun, nach seinem Verzicht, müs-
sen sie sich in der Union womöglich deut-
lich weniger Sorgen machen als gedacht.
Schaut man sich das bisherige Bewerber-
feld an, stehen die Chancen für die Koali-
tion sogar so gut wie seit Monaten nicht
mehr. Plötzlich erscheint wieder denkbar,
was zwischenzeitlich angesichts mieser
Wahlergebnisse, Umfragewerte und inne-
rer Auflösungserscheinungen der SPD
schon ausgeschlossen zu sein schien: dass
diese Koalition am Ende doch die gesamte
Legislatur durchhalten könnte. Ausgerech-
net der GroKo-Feind Kühnert hätte dann
dazu beigetragen, die Koalition zu retten.
Wie konnte es dazu kommen?
Zurück in diesen kargen Raum in der
Parteizentrale, wo Kevin Kühnert zu erklä-
ren versucht, warum sich seine Entschei-
dung so lange gezogen hat. Er sagt, er habe
warten wollen, »wie sich das Bewerberfeld
entwickelt und ob es zu einer Situation
kommen könnte, in der die Ausgangslage
so ist, dass ich die politische Notwendigkeit
über meine eigenen Interessen hätte stellen
müssen«. Das klingt nicht, als spräche da
die größte Nachwuchshoffnung der SPD.
Das klingt, als spräche da ein alter, müder
Funktionär, der sich im äußersten Notfall
noch mal einen Ruck gegeben hätte. Es ist
ein Satz, der eher zu Franz Müntefering
passt als zu Kevin Kühnert.
Tatsächlich deutet einiges darauf hin,
dass Kühnert sich verkalkuliert hat. In der
Partei ist zu hören, dass er zwischenzeit-
lich intensiv an einem Bündnis mit Gene-
ralsekretär Lars Klingbeil gearbeitet habe:
Klingbeil als Chef, er selbst als Teil des
Teams, hinter dem Spitzenduo. Fehlte nur
noch eine Frau, doch Klingbeil fand keine
passende. Am Ende gab er auf. Damit war
auch Kühnerts erste Option dahin.
Dass er selbst nicht für den Vorsitz kan-
didieren sollte, muss ihm recht früh klar
geworden sein. Kühnert ist klug genug, um
sich auszumalen, was ihm vor allem von
den vielen strukturkonservativen Genos-
sen da draußen im Land entgegengehalten
worden wäre: Junge, du hast noch Zeit,
geh doch erst mal was arbeiten oder mach,
noch besser, dein Studium fertig!
Als Teil eines Team Klingbeil hätte er
der Partei zeigen können, dass er bereit
ist, sich einzureihen. Nun muss er vielen

enttäuschten Fans erklären, warum er das
Rennen vom Rand aus verfolgen wird.
Dass der aktuelle Juso-Chef überhaupt
eine solche Rolle spielt, hat auch mit dem
Zustand der Parteilinken zu tun. Sie befin-
det sich in einer sonderbaren Lage. Ihre
Themen haben in der Partei Konjunktur
wie lange nicht, die SPD fährt auf vielen
Feldern einen Linkskurs, wie er Oskar La-
fontaine zur Ehre gereicht hätte. Die Ge-
nossen wollen das Rentenniveau bis 2040
einfrieren und den Mindestlohn auf zwölf
Euro erhöhen. Sie setzen auf Friedenspoli-
tik und wollen die Vermögensteuer reakti-
vieren. Linke Politik ist in der SPD mittler-
weile Mainstream – jedenfalls schreien die
Konservativen vom »Seeheimer Kreis«
nicht einmal mehr auf, wenn die Hartz-
Reformen korrigiert werden sollen.
Doch die inhaltliche Dominanz des lin-
ken Flügels geht personell mit einem bes-
tenfalls mittelmäßigen Angebot einher.
Und weil weit und breit keine klare Num-
mer eins erkennbar ist, fühlten sich in den
vergangenen Wochen diverse Repräsentan-
ten des linken Flügels berufen, selbst für
den Vorsitz zu kandidieren. Mittlerweile
sind es so viele, dass sie sich wichtige Stim-
men wegnehmen könnten.
Von den bislang acht Duos sind sechs
tendenziell links. Klare Favoriten gibt es
unter ihnen nicht. Parteivize Ralf Stegner
und die Politikwissenschaftlerin Gesine
Schwan etwa sind zwar innerhalb wie au-
ßerhalb der SPD bekannt – aber stehen sie
für einen Aufbruch? Und Karl Lauterbach,
der mit der Umweltexpertin Nina Scheer
antritt, ist zwar politisch eine Marke, wird
aber von vielen eher als Kauz wahrgenom-
men. Vor allem gibt es nicht einmal unter
den linken Teams eine einheitliche Linie
zur Großen Koalition.
Schwan und Stegner etwa wollen nicht
zwangsläufig raus aus der GroKo. Scheer
und Lauterbach sind da schon klarer, sie
wollen das Bündnis beenden. Irgendwo
dazwischen stehen Staatsminister Michael
Roth und die Familienpolitikerin Christina
Kampmann. Man kann nicht sagen, dass
die GroKo-Befürworter es mit einer furcht-
einflößenden Phalanx zu tun hätten.
Auf der anderen Seite des sozialdemo-
kratischen Spielfelds stehen Klara Geywitz
und Olaf Scholz. Niemand verkörpert so
sehr die Große Koalition wie der Bundes-
finanzminister. Auch von dem Duo aus der
sächsischen Integrationsministerin Petra
Köpping und dem niedersächsischen In-
nenminister Boris Pistorius ist kein fronta-
ler Anti-GroKo-Kurs zu erwarten: »Es ist
keine politische Position, nur zu sagen: Wir
steigen jetzt aus«, sagt Pistorius.
Zwar bleibt das Rennen bis zuletzt un-
berechenbar, denn am Ende stimmen die
Mitglieder über den Parteivorsitz ab. Die
Frage, wie sich ein Duo zur Großen Koali-
tion positioniert, wird für die Entschei-

DER SPIEGEL Nr. 36 / 31. 8. 2019 25


Deutschland

THOMAS KOEHLER / PHOTOTHEK.NET / IMAGO IMAGES / PHOTOTHEK
Free download pdf