Der Spiegel - 31.08.2019

(lily) #1

W


enn ein Staat an der Schwelle zur Rezession einen
Überschuss von 45 Milliarden Euro erwirtschaftet,
wie es Bund, Ländern, Gemeinden und Sozialversi-
cherungen in den ersten sechs Monaten dieses Jahres gelun-
gen ist, läuft etwas grundsätzlich verkehrt. Das gilt vor allem
für die Diskussion darüber, ob die schwarze Null aufzugeben
oder die Schuldenbremse zu lockern sei, um ein kreditfinan-
ziertes Konjunkturprogramm zu lancieren, mit dem sich die
Regierung dem Abschwung entgegenstemmen soll. Allein
der Bund nahm im ersten Halbjahr über 17 Milliarden Euro
mehr ein, als er ausgab. Geld ist im Überfluss da.
Neue Schulden sind also nicht nötig, um staatliche Inves-
titionen hochzufahren, mit denen Straßen erneuert, Brücken
repariert oder Schienen verlegt werden können. Die Forde-
rung ist dennoch seit Jahren ein ständiger Wiedergänger, weil
Kredite wegen der Nullzinspolitik
gerade billig sind. Das Problem ist
nur: Schon jetzt bekommt der Staat
die bereitgestellten Mittel nicht aus-
gegeben. Seit Jahren bleibt er am
Ende des Jahres auf Geld sitzen, das
eigentlich für Investitionen bereit-
steht. Mal sind es ein paar Hundert
Millionen Euro, mal deutlich über
eine Milliarde. Gleichgültig, um
welche Summe der Etatposten auch
aufgestockt würde, es würde nichts
bringen, das Geld bliebe übrig.
Die Gründe für den Investitions-
stau sind bekannt: In den Planungs-
und Genehmigungsbehörden des
Staates fehlen Fachleute, die die
Vorhaben auf den Weg bringen
könnten. Selbst wenn dieser Eng-
pass über Nacht behoben würde, träfen die Aufträge auf eine
weitgehend ausgelastete Bauwirtschaft. Hoffnungen, zusätz-
liche Investitionen würden die Wirtschaft kurzfristig stabili-
sieren, sind deshalb vergebens. Dennoch bleibt es eine Dauer -
aufgabe für die Politik, die Ursachen für die Ausgabehem-
mung zu beseitigen.
Bislang trifft der Schwächeanfall der deutschen Wirtschaft
in erster Linie den Exportsektor. Eine Ursache hierfür ist
der von US-Präsident Donald Trump angezettelte Handels-
streit. Staatliche Ausgaben würden den darunter leidenden
Unternehmen kaum weiterhelfen. Was würde ihnen ein
Konjunkturprogramm nützen, das auf die Verbesserung der
heimischen Infrastruktur abzielt? Dadurch würden sie die
Maschinen oder Autos, die sie im Ausland nicht mehr abset-
zen können, auch nicht los. Und die Bundesregierung kann
sie ihnen ebenfalls nicht abkaufen.
Was also ist zu tun? Der enorme Überschuss in einem
Halbjahr, in dem sich die Wirtschaft schon auf Schrumpfkurs
befindet, belegt, dass die öffentliche Hand offenbar zu tief
in die Portemonnaies der Bürger und in die Kassen der Un-
ternehmen langt. Ablesen lässt sich das an der Steuerquote.
Sie gibt an, wie viel von der Jahreswirtschaftsleistung der
Staat an Steuern für sich beansprucht. Mit 23,7 Prozent im

vergangenen Jahr nähert sich die Maßzahl einem Rekord -
niveau. Seit 2010, als der Staat zum letzten Mal eine merk -
liche Entlastung gewährte, stieg sie um 2,3 Prozentpunkte
an. Selbst wenn die Konjunktur besser liefe, wäre es also
Zeit, dass der Staat Bürgern und Unternehmen wieder etwas
zurückgäbe. Würde er sich mit dem gleichen Anteil wie vor
neun Jahren begnügen, dürften sie sich über eine Steuerent-
lastung von rund 78 Milliarden Euro freuen.
Doch schon weniger würde helfen. Finanzminister Olaf
Scholz (SPD) könnte beispielsweise Abschreibungsvergüns-
tigungen für Unternehmen auf den Weg bringen. Sinnvoll
wäre auch eine Absenkung der Körperschaftsteuer, zumal
die USA einen solchen Schritt schon vollzogen haben und
Großbritannien und Frankreich nachziehen wollen. Beide
Maßnahmen dürften die Investitionen der Wirtschaft stärken,
was die Nachfrage stabilisierte. Zu-
dem könnte Scholz den Abbau des
Solidaritätszuschlags um ein Jahr
vorziehen. Ein fertiger Gesetzent-
wurf liegt vor. Scholz brauchte nur
eine Jahreszahl zu ändern und 2021
durch 2020 ersetzen. Profitieren
würden mehr als 90 Prozent der
Steuerzahler, vor allem kleine und
mittlere Einkommensbezieher. Sie
hätten mehr Geld, um sich etwas
zu leisten. Die Kosten für den Bund
von knapp zehn Milliarden Euro
erscheinen angesichts der Über-
schüsse verkraftbar.
Um einen absehbaren Verfas-
sungskonflikt zu entschärfen, könn-
te Scholz ein Jahr später auch die
restlichen Steuerzahler vom Soli
befreien. Der Schritt käme dem Großteil der Unternehmen
zugute, die meisten bezahlen mit der Einkommensteuer auch
den Soli. Sein Kabinettskollege, Arbeitsminister Hubertus
Heil (SPD), könnte ebenfalls Hilfe leisten, indem er die Bei-
träge zur Renten- und Arbeitslosenversicherung senkt. Beide
Sozialkassen erwirtschaften üppige Überschüsse. Auch diese
Maßnahme würde gleichermaßen Arbeitnehmer und Unter-
nehmen entlasten.
Dass Konsumenten und Firmen das Geld einfach sparen,
erscheint angesichts des niedrigen Zinsniveaus unwahrschein-
lich. Selbst wenn sie dafür vermehrt Güter aus dem Ausland
kaufen würden, wäre das nicht schlimm, im Gegenteil. Ihre
Nachfrage würde die Wirtschaftslage dort stabilisieren. Außer -
dem ließe sie den deutschen Leistungsbilanzüberschuss
schrumpfen, was die Partnerländer schon lange von Deutsch-
land erwarten.
Ein Steuer- und Abgabenrabatt wäre also eine wirksamere
Versicherung gegen die Rezession als ein schuldenfinanziertes
Konjunkturprogramm. Selbst wenn der Schrumpfkurs aus-
bliebe, wären die Maßnahmen nicht vergebens. Die deutsche
Wirtschaft ist in einem Zustand, in dem sie einen zusätzlichen
Schub in jedem Fall gut gebrauchen könnte.
Christian Reiermann

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Geld im Überfluss


AnalyseAllen Rezessionssorgen zum Trotz fährt der Staat einen hohen Überschuss ein.
Ein Konjunkturprogramm auf Pump ist überflüssig, besser sind niedrige Steuern.

DER SPIEGEL Nr. 36 / 31. 8. 2019


Deutschland

Haushalts-
überschuss


  1. Halbjahr 2019,
    in Mrd. €


Bund

17,7


Länder
12,7

Sozial-
versicherung
7,7

Kommunen
7,1

Quelle: Destatis
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