Der Spiegel - 31.08.2019

(lily) #1

sonalien gemeldet ist. Tatsächlich existierte
am vergangenen Donnerstag in der Passda-
tenbank in ganz Russlands kein Eintrag mit
dem Namen, Geburtsdatum und Geburts-
ort, den der Antragsteller angegeben hat.
Ein Grund dafür könnte sein, dass der
Reisepass nach der Ausreise des Mannes
aus der Datenbank entfernt wurde. Auch
der Abgleich der Personalien mit älteren
Versionen der Passdatenbank ergibt kei-
nen Treffer. Im Führerscheinverzeichnis
der Russischen Föderation findet man den
Mann auch nicht. Alles nur Zufall?
Wahrscheinlich nicht. Denn die Pass-
nummer weist den Weg zu einer Einheit
des russischen Innenministeriums, die in
der Vergangenheit auch die Dokumente
für identifizierte Agenten des russischen
Militärgeheimdienstes ausstellte. Das sind
ernsthafte Hinweise darauf, dass die GRU
hinter dem Mord im Kleinen Tiergarten
stecken könnte.
Andererseits gibt es Indizien, die dafür
sprechen, dass Sokolov kein hauptamt -
licher GRU-Mitarbeiter ist. Vielleicht war
er nur deren Werkzeug. Er trägt mehrere
Tätowierungen: eine Schlange auf dem
rechten Unterarm, eine Krone und einen
Panther auf dem linken Oberarm. Russi-
sche Quellen betrachten es als unwahr-
scheinlich, dass die GRU ihren festen Mit-
arbeitern diese Tattoos erlaubt hätte, sie
wären zu einfach wiederzuerkennen.
Seinen Weg nach Europa wählt der als
Wadim Sokolov reisende mutmaßliche Kil-
ler jedenfalls über den Flughafen Charles
de Gaulle in Paris, dann verliert sich seine
Spur. In dem im Visumantrag angegebenen
Zweisternehotel, einer etwas abgewirtschaf-
teten Absteige im Touristenviertel Marais,
will der Rezeptionist ihn nie gesehen haben.
Sokolov stattet sich mit einer Glock 26
mit Schalldämpfer aus. Er reist nach Berlin
und mietet sich in einem Hotel ein. Bei
der Festnahme stellt die Polizei eine grö-
ßere Menge Bargeld sicher. Den Flug zu-
rück nach Russland hat Sokolov für einen
Tag nach der Tat gebucht.
Nachdem er dreimal auf Selimchan Khan-
goshvili geschossen haben soll, versteckt
sich Sokolov in einem Gebüsch und zieht
sich um. Sein Fahrrad wirft er in die Spree,
ebenso wie seinen mit Steinen beschwerten
Beutel. Im Wasser findet die Polizei auch
eine Perücke und einen Barttrimmer.
Der Wadim Sokolov, der kurz nach dem
Mord einem Berliner Haftrichter vorge-
führt wird, sieht nicht mehr ganz so aus,
wie der Mann auf dem Visumantrag. Er
trägt nur noch einen Oberlippenbart.


Maik Baumgärtner, Matthias Gebauer,
Christo Govez, Roman Lehberger,
Christine Longin, Claas Meyer-Heuer,
Sven Röbel, Alexandra Rojkov,
Fidelius Schmid, Wolf Wiedmann-Schmidt
Mail: [email protected]

M


ehrere Hundert Rechtsextreme
zogen durch die Straßen Athens.
Sie trugen Banner und schwenk-
ten Flaggen, hielten brennende Fackeln,
brüllten Parolen oder trommelten, so ist
es in Videos von diesem Tag zu sehen.
Es war der 27. Januar 2007, die »Patrio-
tische Allianz« hatte eingeladen, ein grie-
chisches Bündnis rechtsextremer Organi-
sationen um die neonazistische Partei Gol-
dene Morgenröte.
Mittendrin waren Gäste aus Deutsch-
land: Udo Voigt, zu der Zeit NPD-Chef,
war mit einer Gruppe angereist, insgesamt
14 Personen. Es waren Führungsleute der
NPD und der Jungen Nationaldemokraten
(JN), wie die Nachwuchsorganisation der
Partei damals hieß. Auch die deutsche
Gruppe trug Fahnen, Fackeln – und ein
Banner: »Heute schon im Kampf, für die
Idee von morgen!« stand darauf, Komma-
fehler inklusive.
Laut einem Dokument aus der deut-
schen Botschaft in Athen gehörte ein ge-
wisser Andreas Kalbitz zu dieser Gruppe
aus »14 deutschen Neonazis«, wie sie
darin bezeichnet werden. Geschrieben hat
das Dokument die Verbindungsbeamtin
des Bundeskriminalamts (BKA).
Kalbitz, heute 46, führt den Kampf für
die Idee von morgen inzwischen woanders:

Er ist Spitzenkandidat der AfD in Branden-
burg. Seine Partei könnte bei der Landtags-
wahl am Sonntag stärkste Kraft werden.
Der Politiker behauptet, er sei nicht
rechtsextrem. Immer wieder musste er
nach Medienberichten aber zugeben, im
rechtsextremen Milieu unterwegs gewesen
zu sein, immerhin mehr als die Hälfte sei-
nes Lebens. In den vergangenen Jahren
hat er außerdem ein Ex-Mitglied der NPD
und Sympathisanten der rechtsextremen
Identitären Bewegung eingestellt.
Obwohl die NPD auf einer »Unverein-
barkeitsliste« der AfD steht, durfte Kalbitz
bis heute in der Partei bleiben, wo er seinen
politischen Einfluss immer weiter ausbau-
te. Er gilt als Strippenzieher im völkischen
»Flügel«, jener parteiinternen Plattform
rund um den Thüringer AfD-Landeschef
Björn Höcke, die vom Verfassungsschutz
als »Verdachtsfall« geführt wird.
Das Dokument zeigt einmal mehr, wie
tief Kalbitz in der rechtsextremen Szene

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Deutschland

Mit Fackeln und Fahnen


AfDDer brandenburgische Spitzenkandidat Andreas Kalbitz
reiste 2007 zu einem Neonazi-Aufmarsch in die
griechische Hauptstadt – gemeinsam mit NPD-Funktionären.

LOUISA GOULIAMAKI / AFP

Die Athen-Reise war
nicht Kalbitz’
einziger Berührungs-
punkt mit der NPD.

Aufmarsch von Rechtsextremen in Athen im Januar 2007, AfD-Mann Kalbitz: »Heute schon
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