Der Spiegel - 31.08.2019

(lily) #1

M


itte August ging in der Deut-
schen Botschaft in Nigeria der
Antrag auf ein Arbeitsvisum
ein. Godwin Essien, 27, möch-
te nach Deutschland, und die branden -
burgische Firma Creactiv möchte ihn. Das
Unternehmen demontiert und verkauft
alte Industrieanlagen, Essien soll den Ex-
port nach Afrika ankurbeln.
Godwin Essien kennt Brandenburg, er
weiß, was ihn dort erwartet. Ein Jahr lang
hat der Nigerianer in Herzberg, beim
Fußballverein VfB, den Bundesfreiwilli-
gendienst absolviert. Er hat auf der Ge-
schäftsstelle geholfen, er war Co-Trainer
mehrerer Jugendteams und Stürmer in der
Herrenmannschaft, 26 Tore in 38 Spielen.
Seit das Freiwilligenjahr vorüber und
Essien wieder in Nigeria ist, sind sie beim
VfB von der Idee besessen, den Fußballer
zurückzuholen. »Nicht allein wegen seiner
Tore«, betont Vorstand Frank Lehmann,
»sondern weil er ein toller Mensch ist und


eine große Bereicherung für unser Vereins-
leben.«
Ein Schwarzafrikaner für Brandenburg,
das klingt wie ein Märchen, ein kitschiges,
wo es hier doch reichlich Gegenden gibt,
in denen die ausländerfeindliche AfD zur
Mehrheitspartei aufgestiegen ist. Der Vor-
gang passt nicht ins Klischee.
In den vergangenen Wochen erfuhr das
Land Theodor Fontanes viel Aufmerksam-
keit, weil die Rechte hier so stark ist und
die seit 29 Jahren den Ministerpräsidenten
stellende SPD so angeschlagen.
Unermüdlich verweist die Regierung
auf die positive Wirtschaftsentwicklung:
dass die Zahl der Arbeitslosen sich in den
vergangenen zehn Jahren von 164 000 auf
83 000 praktisch halbiert hat; dass 2018
die Zahl der Insolvenzen von Selbststän-
digen um knapp ein Viertel gesunken und
der Export um drei Prozent gestiegen ist.
Und dennoch präsentiert sich Branden-
burg als ein Land, in dem die Stimmung

viel schlechter ist als die Lage – manche
sagen, sie sei sogar schlechter als in den
brutalen Neunzigern, als die Menschen zu
Zigtausenden erst ihre Jobs, dann ihre
Selbstachtung und schließlich das Ver -
trauen in den Staat verloren.
Im Jahr 30 nach dem Mauerfall zählen
sanierte Fassaden nicht mehr. Im Jahr 30
kümmert viele Bürger nicht die Wahrheit
der anderen, sondern ihre eigene Wahr-
heit. Und die kann heißen, dass nur jeder
fünfte Betrieb Tariflohn zahlt; oder dass
Klagen gegen Hartz-IV-Bescheide nirgend-
wo so lange dauern wie in Brandenburg,
fast zwei Jahre; oder dass, in der Lausitz,
die Angst vor dem Verlust des Arbeitsplat-
zes an den Nerven zerrt.
Brandenburg ist ein Flächenland, deut-
lich das größte der neuen Bundesländer,
und in der Mitte ein fremder Kern:
die Hauptstadt. Deshalb ist es unter den
neuen Ländern das wohl vielschichtigste,
heterogenste – schwierig zu verstehen

38 DER SPIEGEL Nr. 36 / 31. 8. 2019

OLIVER KILLIG / DPA

Stadt, Land, Kohle


Brandenburg30 Jahre nach dem Mauerfall profitiert die Mark vom Boom der Hauptstadt.


Doch je weiter man sich von Berlin entfernt, umso sichtbarer wird
das Trauma der Neunzigerjahre – und die Sehnsucht der Menschen nach Sicherheit.

CDU-Spitzenkandidat Senftleben in Großkmehlen: »Seit Jahren wird auf Schrumpfen regiert«
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