Märkische Realität
Arbeitslosigkeit in Brandenburg, in Prozent
BIP je Arbeitsstunde
der Erwerbstätigen, in Euro
BERLIN
BRANDENBURG
BERLIN
Potsdam
Cottbus
Rangsdorf Jüterbog
Mahlow
Herzberg
Dahlewitz
3,6 bis
unter 5,0%
5,0 bis
unter 6,4 %
6,4 bis
unter 7,8 %
7,8 bis
unter 9,2 %
9,2 bis
10,7 %
unter 38 €
38 bis
unter 42 €
42 bis
unter 46 €
46 bis
unter 50 €
50 € und
mehr
zum Vergleich Berlin: 8,0 %
zum Vergleich Berlin: 49,76 €
Quelle: Bundesagentur für Arbeit
Stand: Juli 2019
Quelle: Amt für Statistik Berlin-Brandenburg
Stand: 2016
La
usi
tz
und schwierig zu regieren. Eigentlich ist
Brandenburg dreigeteilt, nicht geogra-
fisch, sondern strukturell: Stadt, Land,
Kohle.
- Wohlstand an Berlins Peripherie
Der Spitzenmann der CDU trägt eine graue
Trekkinghose und ein Sportshirt. Er steht
an einem Bistrotisch, den seine Helfer ne-
ben einem Radweg positioniert haben. Pa-
pierfähnchen, Kugelschreiber, das Wahl-
programm liegen bereit. Gleich ist Schicht-
wechsel im nahen Rolls-Royce-Werk. Ingo
Senftleben, 45, ist auf der Pirsch.
Seit 26 Jahren fertigt Rolls-Royce Flug-
zeugtriebwerke in Dahlewitz, rund zehn
Kilometer südlich von Berlin. 2800 Be-
schäftigte arbeiten hier, der Personalpark-
platz ist groß und voll, die Autos sind groß
und eher neu. Niemand fährt mit dem Rad,
jedenfalls nicht heute Mittag.
Nach einer Viertelstunde merkt Senft-
leben, dass es eine bescheidene Idee war,
den Kontakt mit dem Wähler an diesem
Radweg zu suchen. Er gibt seiner Truppe
den Befehl zum Einpacken und Aufsat-
teln – auf zum nächsten Termin.
Sechs Wochen lang war Senftleben im
Sommer unterwegs, zu Fuß, im Paddel-
boot, auf dem Rad. »Bock auf Branden-
burg« hat er die Tour genannt, mit dem
Ziel, sich bekannt zu machen. An diesem
Freitag Anfang August radelt Senftleben
im Speckgürtel von Berlin. Die Fahrt führt
nach Rangsdorf, der Ort hat Anschluss an
den Autobahnring, ein Hauptgewinn. Neu-
bauten, sanierte Bauten, komfortable Rad-
wege, schicke Unterführungen, wenig deu-
tet noch auf die DDR-Zeit hin.
Orte wie Rangsdorf gibt es etliche an
der Berliner Peripherie. Sie sind begehrt,
weil die Arbeitsplätze in der Hauptstadt
mit dem Zug in 20 bis 60 Minuten erreich-
bar sind. Weil Konzerne hier Dependan-
cen eröffnet haben, wie MTU oder Daim-
ler. Weil Kitas und Schulen funktionieren,
der Ausländeranteil niedrig ist und die Kin-
der in der Regel Deutsch sprechen. Weil
ein Leben auf Westniveau möglich ist.
Einer von Senftlebens Begleitern berich-
tet, dass er in Rangsdorf wohne. In einer
Straße mit sieben neu gebauten Reihen-
häusern. Alle sieben Hausherren seien
zugezogen, alle aus Berlin.
Täglich pendeln 216 000 Brandenbur-
ger in die Hauptstadt. In manchen Dörfern
der Peripherie führt der Boom zu Wachs-
tumsschmerzen. In Mahlow, direkt an der
Nahtstelle zu Berlin, hat sich der Quadrat-
meterpreis für Bauland in zehn Jahren
mehr als verdreifacht, von 105 auf 340
Euro. In Potsdam, der puppenstubenschö-
nen Landeshauptstadt, sind die Preise bei
Neuvermietungen seit 2008 um 36 Pro-
zent gestiegen.
Brandenburg holt an manchen Wohl-
standsorten jene Gentrifizierung nach, die
München oder Hamburg vor Jahren durch-
gemacht haben. Staus, Lärm, Verdichtung,
Verteuerung: Unter Altbewohnern wächst
die Furcht vor dem Verlust der Heimat,
wie sie sie kennen.
An der dicht befahrenen Hauptstraße
Richtung Mahlow ist kein Durchkommen.
Senftleben steigt vom Rad. »Wir rennen
dem Wachstum hinterher, statt es zu len-
ken«, sagt er. Das Land Brandenburg und
der Stadtstaat Berlin haben einen Landes-
entwicklungsplan vereinbart: Nur ausge-
wählte Regionen der Peripherie dürfen
Bauland ausweisen. »Diesen Vertrag wür-
de ich sofort kündigen«, sagt Senft leben.
Die Regierung argumentiert, man wolle
keine Zersiedelung. Doch der CDU-Mann
hält dagegen: »Ich will nicht zersiedeln,
sondern den Druck rausnehmen aus dem
Wohnungsmarkt, den sich viele nicht
mehr leisten können.«
Sein Rezept: die Orte, die der Plan aus-
schließt, besser an den Nahverkehr anbin-
den und dann dort bauen lassen. Senftle-
bens Fazit: »Seit Jahren wird Brandenburg
auf Schrumpfen regiert, das hat die Ent-
wicklung gehemmt.«
- Ödnis auf dem Land
Die Alternative für Deutschland (AfD) hat
zu einem Volksfest eingeladen. Es ist Sams-
tagnachmittag, auf dem hübsch restaurier-
ten Marktplatz von Herzberg hat die Par-
tei eine Bühne aufgebaut, Biertische, Bier-
bänke, einen Schankwagen, ein paar Zelte,
in denen Flyer verteilt werden, eine Hüpf-
burg und einen Tisch, an dem sich Kinder
bunt anmalen lassen können. Die junge,
blonde Frau an der Schminkstation trägt
eine weiße Armbinde mit der Aufschrift
»ORDNER«.
Herzberg, knapp 10 000 Einwohner,
liegt im Süden Brandenburgs. Leipzig ist
näher als Berlin. Doch die Zugverbindung
in beide Metropolen ist mies. In Herzberg
sitzt die Verwaltung des Elbe-Elster-Krei-
ses, das garantiert immerhin rund 800 Ar-
beitsplätze. Diverse demografische und
ökonomische Studien bewerten das land-
wirtschaftlich geprägte Elbe-Elster als men-
schenleer, überaltert, abgehängt.
Ulf Lehmann, Elektromeister in Herz-
berg, entwirft ein anderes Bild. Die letzten
Jahre habe sich wieder ein Markt für Häu-
ser und Wohnungen gebildet, es werde
neu gebaut, die Auftragslage sei sehr gut.
Das Wachstum sei aus einem anderen
Grund begrenzt: »Nach der Wende brach
die Zahl der Lehrstellen ein, woraufhin
die jungen Leute abwanderten. Jetzt wür-
den viele Betriebe wieder gern ausbilden,
aber wir finden keine Lehrlinge mehr.«
Lehmanns Ehefrau Stephanie Kammer
hat 1997 in Herzberg Abitur gemacht. Von
den 90 Schulabgängern blieben 3 im Ort,
alle anderen suchten ihr Glück in der
Ferne, auch Kammer ging zum Studium
nach Berlin. Die Sozialisation im Westen
hatte bei vielen Folgen. Kleidung, Auto,
Sprache, in kurzer Zeit hätten etliche der
Fortgezogenen ihren Habitus verändert,
sagt Kammer. Man wurde sich fremd.
Die Dagebliebenen bekamen die Frage
zu hören, warum sie nichts aus sich ma-
chen wollten, hier könne man doch nichts
werden. »Dieses Minderwertigkeitsgefühl
steckt in den Menschen ganz tief drin, das
ist Teil ihrer Identität geworden«, sagt
Kammer.
Nach dem Studium ging sie nach Herz-
berg zurück und eröffnete 2003 einen
Buchladen. Ein Unternehmensberater at-
testierte ihr, das sei in diesem Ort doch
betriebswirtschaftlicher Unsinn. »Meine
Rückkehr wurde mit Unvernunft gleich -
gesetzt«, sagt die Geschäftsfrau, die heute
einen Regionalverlag besitzt.
Am schlimmsten, glaubt die inzwischen
vierfache Mutter, habe es die Eltern ge-
troffen, deren Kinder fortgezogen sind.
Sie wurden Großeltern, aber sie konnten
ihren Enkeln nicht beim Aufwachsen zu-
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Deutschland