Der Spiegel - 31.08.2019

(lily) #1
Deutschland

schauen. »Auch das ist ein Mangel an Le-
bensqualität, der schmerzt: der Zerfall so-
zialer Bindungen.«
Brandenburger blickten viel zurück, sagt
Kammer, »von der Mentalität her sind wir
Menschen, die die Vergangenheit ernst
nehmen«. Die AfD nutzt das, schmeichelt
sich in das kulturelle Gedächtnis der Vor-
Wende-Erwachsenen ein, verteufelt den
Modernitätsdruck des Westens, ermöglicht
eine Rückbesinnung auf die alten Zeiten,
ohne Scham oder Skrupel.
Bei der Europawahl 2014 bekam die
AfD im Elbe-Elster-Kreis 3226 Stimmen;
im vergangenen Mai waren es 12 538. Ulf
Lehmann kann das nicht nachvollziehen,
aber er weiß, dass seinesgleichen die AfD
wählt, Kaufleute, Handwerker, Men-
schen ohne Not. »Wir müssen geistig
flüchten«, sagt Stephanie Kammer,
»wenn wir hören, wie viele aus un-
serem Bekanntenkreis mit der AfD
sympathisieren.«
Um halb vier bittet einer der AfD-
Organisatoren die Helfer zu sich, auch
sie tragen Ordnerbinden. »Lasst euch
nicht provozieren, lasst euch nicht in
Gespräche verwickeln«, mahnt der
Funktionär. Die Linke hat bei der Poli -
zei eine Demo angemeldet.
Als kurz nach vier die Reden von
fünf AfD-Politikern beginnen, sind
die Bierbänke leidlich gefüllt. Rund
80 Personen hören zu, die meisten
im Alter zwischen 50 und 75, einige
sind auf Motorrädern mit Dresdner
Kennzeichen angereist.
Keiner der fünf Redner stammt
aus Brandenburg, aber alle fünf wis-
sen, wie sich die Menschen in Herz-
berg zu fühlen haben. Sie werden auf-
gefordert, sich »die Würde, den Stolz
auf das von Eltern und Großeltern
Erreichte« nicht von den in Berlin
Regierenden nehmen zu lassen. Sie
erfahren, dass Italiens Innenminister
Salvini »im besten Sinne volkserhal-
tende Politik« betreibe. Sie hören,
dass das öffentlich-rechtliche Fernsehen
»Gehirnwäsche« versuche. Und Andreas
Kalbitz, der in München geborene Spitzen-
kandidat der brandenburgischen AfD, lie-
fert die Neuigkeit, dass im vorigen Jahr »17
Milliarden Euro von sogenannten Flücht-
lingen in ihre Heimatländer überwiesen
worden« seien – natürlich das Geld des
deutschen Steuerzahlers.
Das Publikum nickt häufig, klatscht ab
und zu. 90 Minuten lang erklären die fünf
Profi redner die »Altparteien« zu Feinden
des Volkes. Als sich danach die beiden
AfD-Direktkandidaten im Elbe-Elster-
Kreis vorstellen, haben sich die Bierbänke
schon gelichtet. Wenn es überhaupt mög-
lich sein sollte, dass in Brandenburg ein
Funke überspringt: An diesem Samstag in
Herzberg ist es nicht geschehen.


Das wäre auch ungewöhnlich für einen
Menschenschlag, den Fontane bei seinen
»Wanderungen durch die Mark Branden-
burg« als wenig begeisterungsfähig be-
schrieb – protestantisch-nüchterne Stoiker,
auch ohne kirchliche Bindung.
Im Vergleich zu den emotionalen Sach-
sen kochen die Gefühle hier auf Sparflam-
me. Das ist gefährlich, wenn die wahren
Befindlichkeiten nicht gesehen werden.
Trotz ist die Rache der Einsilbigen, er
drückt sich nun leise, aber massiv aus, mit
dem Kreuz in der Wahlkabine.
Mancherorts hat sich in Brandenburg
bis heute das Deutschland der Sechziger-
jahre konserviert. 2014 betrug der Auslän-
deranteil im Land 2,6 Prozent. 2018 waren

es 4,7 Prozent. Wenn heute ein Haus neu
bezogen wird, kann es sein, dass es auf die
Frage nach den Nachbarn heißt: »Det sin
Fremde«, obwohl sie nur aus dem nächs-
ten Ort stammen.
Die Ethnologin Juliane Stückrad hat
sich die Lebenswelt der Brandenburger ge-
nauer angeschaut. Für ihre Doktorarbeit
studierte sie das Schimpfen der Bewohner
des Elbe-Elster-Kreises, beginnend 2004
mit den Demonstrationen gegen die Hartz-
IV-Gesetze. Ihre Erkenntnisse veröffent-
lichte die gebürtige Eisenacherin 2010 un-
ter dem Titel »Ich schimpfe nicht, ich sage
nur die Wahrheit«. Heute ist ihre »Ethno-
graphie des Unmuts« aktueller denn je.
Schimpfen, so schickt Stückrad voraus,
sei in der DDR überlebenswichtig gewesen:
»Einem Fremden hat man sich angenähert,

indem man ihm seinen Unmut über All-
tagsprobleme mitteilte. An seiner Reaktion
stellte man fest, wo er politisch steht.«
Die friedliche Revolution erlebten die
Menschen in den Elbe-Elster-Dörfern an-
ders als in den Großstädten. »Es herrschte
weniger Euphorie über geglückte Demons-
trationen, die andernorts die Bürger über
die Beschwernisse des Wandels trug«, sagt
die Forscherin. Dissidenz war nicht verbrei-
tet auf dem Land, das Potenzial der Auf-
lehner gering. »In der Provinz fand keine
Revolution statt, sondern nur eine Wende.«
Es folgte ein von der Politik beförderter
»Dezivilisierungsprozess«, in dem Bahn-
schienen abgebaut, Kulturhäuser geschlos-
sen und Kaufläden dichtgemacht wurden:
»Es ist ein umständliches Leben mit
einem Kind, wenn das Kind das ein-
zige im Dorf ist.« Stückrad hat diese
Erfahrung gemacht, als sie für ein
paar Jahre in einem Dorf nahe Herz-
berg lebte.
Zum Schimpfen gab es reichlich
Anlass, etwa für jene, die sich »wie
Stehaufmännchen von einer Arbeits-
beschaffungsmaßnahme zur nächs-
ten hangelten«. Bei den Hartz-IV-
Protesten sei dann erstmals jene
öffentliche Wut zu hören gewesen,
die durch die AfD jetzt ein Sprach-
rohr gefunden habe: »Diese Wut
zeigt, zusammen mit dem Alltags -
rassismus, wie dünn die zivilisatori-
sche Schicht ist«, sagt Stückrad.
Dabei seien die Erwartungen vie-
ler Menschen eigentlich bescheiden:
»Ein Gesprächspartner wünschte
sich zum Beispiel einen sicheren Ar-
beitsplatz mit eigenem Spind und
vielleicht noch einer Dusche.«


  1. Angst im Kohlerevier
    Lothar Judith ist kein Ossi, das hört
    man nach zwei Sätzen. Judith
    kommt aus Wanne-Eickel, er ist Ge-
    werkschafter, 1998 ging er für den
    DGB nach Berlin, 2003 dann nach
    Cottbus, mitten hinein in Brandenburgs
    Kohlerevier.
    »Cottbus ist schön, es gibt Theater, Kul-
    tur, mehr Kneipen als im Ruhrgebiet. Ich
    bin gern hier.« Vielleicht hilft es, aus dem
    Pott zu kommen, um sich in Cottbus wohl-
    zufühlen. Zweifellos ist die Stadt hübsch
    restauriert, rundherum sind auf den rena-
    turierten Tagebauflächen Seen entstanden.
    Nur die Rechtsextremen nerven, sagt
    Judith. Rund 400 gebe es in der Stadt, und
    es gibt sie länger als die AfD. Deshalb hat
    sich 1999 der Cottbuser Aufbruch gebildet;
    von dessen Förderverein ist Judith zweiter
    Vorsitzender. Wenn Neonazis am 15. Fe -
    bruar aufmarschieren, um des Bombenan-
    griffs auf Cottbus 1945 zu gedenken, dann
    kennt der DGB-Mann nur ein Ziel: »Wir
    sind auf der Straße mehr als die.«


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HERMANN BREDEHORST / DER SPIEGEL
Herzberger Ehepaar Kammer, Lehmann
»Wir müssen geistig flüchten«
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