Der Spiegel - 31.08.2019

(lily) #1

In den vergangenen Jahren sei das im-
mer gelungen, sagt Judith, und so ist selbst
durch die Gewerkschaftsbrille über Bran-
denburgs zweitgrößte Stadt nicht viel zu
mäkeln. Sechs Prozent Arbeitslosigkeit,
damit könne man leben.
Wenn da nur nicht dieses Datum wäre:
2038! Das letzte Jahr, in dem in der Lau-
sitz Kohle abgebaut werden soll.
Auf dem Altmarkt im Zentrum von
Cottbus kreuzten sich im Mittelalter die
Handelsrouten, Mitte August sitzt Bran-
denburgs Ministerpräsident auf einer Bank
und lässt sich die Wangen pudern. Das
ZDF ist für eine Live-Schalte ins »Morgen-
magazin« angerückt. Und Dietmar Woid-
ke wird zum x-ten Mal sagen, dass der
Kohleausstieg und die 17 Milliarden Euro
Strukturhilfen »eine riesengroße Chance
für die Region« seien.
Im Rahmen des Kompromisses zum
Ende des Bergbaus hat das Bundeskabi-
nett im Mai rund 40 Milliarden Euro ge-
billigt, gut 40 Prozent davon sollen die
Lausitz vor dem Sturz ins Bodenlose be-
wahren. Denn klar ist: Außer Kohle ist
nicht viel rund um Cottbus.
Ein junger Elektriker, der im Tagebau
arbeitet und 2038 das Rentenalter noch
nicht erreicht haben wird, drückt vor der
ZDF-Kamera seine Skepsis aus. Noch gebe
es kein Gesetz, nichts Konkretes.
Nach dem Ende der Sendung bleibt
Woidke, diskutiert mit Passanten, die ihm
versichern, nicht AfD zu wählen, aber
trotzdem unzufrieden sind, über Verkehrs-
verbindungen, Funklöcher, Schulausfall.


Der Sozialdemokrat, 57, Doktor der Agrar-
wissenschaften, Bauernsohn und beken-
nender Christ, ist in der Lausitz geboren,
hat zugesehen, wie die Textilindustrie
nach der Wende vollabgewickelt wurde,
wie das ganze Familien traumatisierte. Er
gilt als spröde, aber vermag zum Wahlvolk
eine unaufdringliche Nähe herzustellen.
Er nickt, er tätschelt.
Sechs Stunden später, in Potsdam, im
Büro der Staatskanzlei, geht ihm der Auf-
tritt des Elektrikers wieder durch den Kopf.
Viele Milliarden Euro werden in die Lau-
sitz fließen, etwa um dort künftig Medizi-
ner auszubilden oder regenerative Energie
zu entwickeln. »Aber der Kohleausstieg
wird für die Menschen nur gelingen, wenn
wir Industriearbeitsplätze schaffen«, sagt
Woidke. Arbeit für Elektriker.
Im Bergbau wird gut verdient, »die Ver-
lustangst ist groß«, weiß der Regierungs-
chef, »wo kann man sonst 3000 Euro net-
to nach Hause bringen?« Die Leute, so
Woidke, wollten etwas sehen und anfassen
und nicht nur versprochen bekommen.
Seit sechs Jahren führt er das Land, sei-
ne populären Vorgänger Manfred Stolpe
und Matthias Platzeck verfolgten das Kon-
zept des fürsorgenden Staats, verteilten
das Geld mit der Gießkanne, häuften
18 Milliarden Euro Schulden an. Als ange-
sichts sinkender Einwohnerzahlen eine
Schrumpfkur anstand, fühlten sich die Bür-
ger missachtet, betrogen.
Zuletzt erwirtschaftete der Finanzminis-
ter indes einen Haushaltsüberschuss von
600 Mil lionen Euro. »Wenn das absehbar

gewesen wäre, hätten wir eher angefangen
zu investieren«, räumt Woidke ein.
Investieren in Lehrer, Richter und Poli-
zisten, in Bahnstrecken und Busse, in
Datenleitungen und Forschungsprojekte.
Woidke ist spät dran, aus den schlechten
Umfrageergebnissen hat er ablesen kön-
nen, wie sehr das Vertrauen in seine Re-
gierungskunst gesunken ist.
In einem Land, in dem seit Ewigkeiten
alle Impulse von oben oder von außen ka-
men, wäre es vielleicht an der Zeit, die
Leute, 30 Jahre nach dem Mauerfall, mal
selber machen zu lassen. Diese Vision hat
jedenfalls Karsten Eule-Prütz, seit andert-
halb Jahren Bürgermeister von Herzberg.
Alles werde von Potsdam kontrolliert,
alles müsse genehmigt werden, klagt der
ehemalige Polizist. »Ich müsste drei Kräfte
einstellen, die die Förderprogramme ab-
grasen und Anträge stellen – aber ist das
sinnvoll?« Gerade auf dem Land nehme
die Politik den Kommunen die Luft, selber
zu entscheiden und initiativ zu werden.
Eule-Prütz hat es jüngst wieder erlebt.
Das Freibad, 50 Jahre alt, muss dringend
saniert werden. Der Förderantrag wurde
abgelehnt. Jetzt versucht es die Stadt
selbst, mit einer Spendenaktion und mit
250 000 Euro aus dem laufenden Haus-
halt. Das hat er so beschlossen.
Schwimmen zählt für den Bürgermeis-
ter zur Daseinsvorsorge. »Wenn ich dafür
kein Geld mehr ausgeben darf, können wir
hier ganz dichtmachen.« Alfred Weinzierl
Mail: [email protected]

DER SPIEGEL Nr. 36 / 31. 8. 2019 41


JENS-JESKE.DE
Ministerpräsident Woidke in Rüdersdorf: »Die 17 Milliarden Euro Strukturhilfen sind eine riesengroße Chance für die Region«
Free download pdf