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er Tag, an dem Herr Wittchow
sterben soll, beginnt für die Schü-
ler des elften Jahrgangs der Mar-
tin-Luther-King-Gesamtschule in
Dortmund-Dorstfeld wie jeder Donners-
tag: erste Stunde Chemie. Wolfgang Witt-
chow steht an der Tafel und blickt in die
Runde. Wo ist Ertu*?
Der Lehrer wundert sich. Eben, auf dem
Schulhof, hat er den 16-Jährigen noch ge-
sehen. Nach der Stunde trifft er den Jungen
erneut auf dem Pausenhof. Und als er um
kurz nach zwei zum Parkplatz geht, stürmt
Ertu auf ihn zu.Paul* geht es schlecht, Herr
- Name geändert.
Wittchow, Sie müssen kommen.Es ist der
- Mai 2019. Hinter Ertu geht ein anderer
Junge. Der Lehrer kennt ihn nicht. Witt-
chow folgt Ertu über einen winzigen Weg
zu einem Garagenhof. Wer nicht beim
Rauchen erwischt werden will, versteckt
sich hier.
Was der Lehrer nicht ahnen kann: Das
soll hier der Tatort eines Mordes werden.
Und er, Wolfgang Wittchow, 51 Jahre alt,
das Opfer.
So sieht es jedenfalls die Staatsanwalt-
schaft Dortmund und hat Ertu, Paul und
den dritten Jungen angeklagt. Sie sollen
gemeinschaftlich versucht haben, heim -
tückisch einen Menschen zu töten – den
Lehrer, von dem Ertu sich offenbar unge-
recht behandelt fühlte. Die Jungen hätten
zwei Hämmer dabei gehabt, um Wolfgang
Wittchow zu erschlagen.
In dem Hof sitzt Paul auf dem Boden,
an ein Garagentor gelehnt. Er hat die Ka-
puze seiner Jacke über den Kopf gezogen.
Mir ist schwarz vor Augen, Herr Wittchow.
Der Lehrer hat ein mulmiges Gefühl, er
stellt sich so hin, dass er Ertu und den frem-
den Jungen im Auge behalten kann. Bloß
nicht den Rücken zukehren, er will jeder-
zeit weglaufen können.
Über sein Handy ruft er im Schulsekre-
tariat an und bittet darum, einen Kranken-
wagen zu benachrichtigen. Dann sagt er
den drei Jungen, er gehe vor an die Ecke,
um die Rettungssanitäter zu den Garagen
lotsen zu können.
Ertu folgt ihm. Herr Wittchow, der Paul
braucht Sie! – Ertu, dann musst du den Ret-
tungswagen einweisen.Der Lehrer geht
zurück zu Paul. Auch Ertu kehrt um. Ertu,
einer muss den Sanitätern den Weg zeigen.
Wolfgang Wittchow sitzt in einem Café
im Propsteihof in Dortmund und erzählt,
wie er jenen 9. Mai erlebt hat. Seine Schil-
derungen klingen überaus glaubhaft und
decken sich mit den Ermittlungsergebnis-
sen; jedes Detail scheint sich dem Lehrer
eingebrannt zu haben. Wie der Rettungs-
wagen eintrifft und Ertu ihm berichtet, er
habe Paul Schokolade gegeben; wie er,
Wittchow, den Jungen noch für seinen Ein-
satz lobt. Du hast dich in dieser Situation
gut um Paul gekümmert.Wie Ertu ihn am
nächsten Tag fragt, was mit Paul sei, er
könne ihn nicht erreichen; und wie er, Witt-
chow, dann im Lehrerzimmer herumfragt,
ob jemand wisse, ob Paul im Krankenhaus
habe bleiben müssen.
Das mulmige Gefühl sei noch immer da
gewesen. Zu Kollegen sagt Wittchow: »Ich
dachte ja die ganze Zeit, die wollen mir
aufs Maul hau’n.«
Zwei Tage später, am 11. Mai, einem
Samstag, bietet Wittchow einen Nachhol-
termin für den Elternsprechtag an. Ein
Schüler erscheint mit seiner Mutter, sie zit-
tert. Der Junge erzählt, dass der Schwäche-
anfall eine Falle gewesen sei. Die drei hät-
ten den Lehrer in einen Hinterhalt locken
wollen, um ihn zu töten. Sie wollten Sie er-
schlagen, Herr Wittchow,sagt der Junge. Sie
hatten zwei Hämmer dabei.Dann verrät der
Schüler: Am Montag wollen sie es noch ein-
mal versuchen. Nach der neunten Stunde.
Weiche Knie habe er bekommen, sagt
Wittchow im Café. Ein sonst munterer
Mensch, hoch aufgeschossen, sportlich, kur-
ze Haare, Brille. Einer, den sonst nichts so
schnell aus der Fassung zu bringen scheint.
Er behält auch in diesem Moment die Ner-
ven, informiert zunächst die Schulleitung,
gemeinsam entscheiden sie: Sie wollen Ertu
in Sicherheit wiegen und bis Montag war-
ten, wenn er eine Klausur schreiben muss.
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Der Hinterhalt
Strafjustiz Drei Schüler sollen geplant haben, einen Lehrer
mit Hämmern zu erschlagen – wegen schlechter
Zensuren. Wie geht das Opfer damit um? Von Julia Jüttner
MARCUS SIMAITIS / DER SPIEGEL
Pädagoge Wittchow am mutmaßlichen Tatort: »Die wollen mir aufs Maul hau’n«