Der Spiegel - 31.08.2019

(lily) #1

Als Wolfgang Wittchow an diesem Mon-
tag in die Schule kommt, begegnet er Ertu
auf dem Korridor. Zwei uniformierte
Beamte des Polizeipräsidiums Dortmund
führen ihn ab.Schönen guten Tag, Herr
Wittchow.Am Abend ist der 16-Jährige
wieder auf freiem Fuß, er bestreitet die
Vorwürfe. Die Ermittlungen beginnen.
Die Staatsanwaltschaft ist heute davon
überzeugt, dass Ertu und der Freund, der
ihn begleitete, an jenem 9. Mai im Gara-
genhof nur darauf warteten, dass Witt-
chow ihnen den Rücken zukehrte, um ihn
dann zu erschlagen. Und weil das nicht
klappte, wollten sie nach Ansicht der An-
kläger einen weiteren Versuch starten:
Wittchow sollte vor dem 15. Mai sterben.
Für diesen Tag hatte der Lehrer Ertus
Vater in die Schule bestellt. Es ging um
den Notendurchschnitt des Jungen und sei-
ne Perspektive an der Schule.
Nach Ansicht der Staatsanwaltschaft
hatte Ertu über die Tat seit Monaten nach-
gedacht, er hatte demnach den idealen Tat-
ort ausgekundschaftet, eine Skizze ange-
fertigt, die beiden Hämmer besorgt und
sich um ein Alibi bemüht. Auf seinem
Handy hatte er ein Foto des Lehrers ge-
speichert. Er soll sogar Pläne geschmiedet
haben, wie man Wittchows Leichnam ent-
sorgen könnte, und am 9. Mai gemeinsam
mit seinem Kumpel den Tatort inspiziert
und den Tatplan besprochen haben.
In den Vernehmungen räumten die bei-
den mutmaßlichen Helfer ein, dass Witt-
chow bestraft werden sollte, weil sich Ertu
von diesem ungerecht behandelt gefühlt
habe. Die Hämmer hätten sie sich in den
Hosenbund gesteckt, gab der Freund zu Pro-
tokoll. Als sich der Lehrer dem simulieren-
den Paul genähert habe, soll Ertu ihm mit
einer Kopfbewegung signalisiert haben zu-
zuschlagen. Doch er habe das nicht getan.
Am Nachmittag dieses Tages schreiben
die beiden Freunde einander via Whats App.
Den Dialog kann man als Verabredung zu
einem zweiten Anlauf interpretieren: Man
wolle etwas machen, und zwar vor dem
nächsten Mittwoch. Denn an dem Tag wolle
der Lehrer mit Ertus Vater sprechen.
Ertu strebte das Abitur an, doch Witt-
chow sah dessen Versetzung in die zwölfte
Klasse gefährdet. Zu viele Fehlzeiten, zu
viele Beurlaubungen für angebliche Behör-
dengänge, zu schlechte Zensuren. Immer
wieder habe er sich mit Ertu zusammen-
gesetzt, sagt Wittchow. Er habe dem Jun-
gen erklärt, dass er sein Verhalten ändern
und vor allem seine Leistungen verbessern
müsse, um nicht sitzen zu bleiben. Ertu,
du hattest im Halbjahreszeugnis drei Fün-
fen. – Ich schaff das, Herr Wittchow. – Nein,
Ertu, das schaffst du in den wenigen Wo-
chen nicht mehr.Zuletzt habe Ertu die
Schule wechseln wollen, er habe keinen
Hehl daraus gemacht, dass er den Lehrern
die Schuld für seine schlechten Noten gebe.


Aber auch eine seiner besten drei Noten
bekam er von Wolfgang Wittchow.
Nach seiner kurzzeitigen Festnahme
muss Ertu noch einmal in der Schule er-
scheinen: Es geht um seinen Schulverweis.
In einem Klassenzimmer versammeln sich
die Schulleiterin, Ertu mit seinem Vater,
zwei Polizeibeamte, ein Sozialpädagoge,
zwei türkischstämmige Lehrerinnen als
Dolmetscherinnen, Eltern- und Schüler-
vertreter – und Wolfgang Wittchow. Es ist
sein ausdrücklicher Wunsch, dabei zu sein.
»Es ist meine Schule, ich bin da seit mehr
als 20 Jahren«, sagt er. »Ich lasse mich von
so jemandem nicht verjagen.«
Für Wittchow beginnt eine schwierige
Zeit. Er unterrichtet noch zwei Tage lang,
dann merkt er, dass er doch eine Auszeit
braucht. Es gibt Schüler, denen er einiges
zutrauen würde. Ertu gehörte nicht dazu.
Eine Woche lang zieht sich Wittchow
aus dem Schulalltag zurück, er will Kraft

tanken für die bevorstehende Fahrt mit
der Jahrgangsstufe. Er fühlt sich überrollt
von dem Rückhalt, der auf ihn einbricht:
Kollegen, Schüler, Freunde, Nachbarn,
ehemalige Schüler melden sich bei ihm. Er
kommt mit der Beantwortung kaum hin-
terher. »Wann erlebt man das schon als
Lehrer?«, fragt Wittchow. »Vielleicht beim
Abschied von der Schule, wenn sich die
Wege trennen. Aber da ist die Stimmung
ohnehin golden verbrämt und bierselig.«
Nach der einwöchigen Pause startet
Wittchow mit seiner Elften zur Schulreise
nach Osnabrück – ohne Ertu. Es ist für
alle eine wichtige Reise. Wittchow zeigt
Fotos davon auf seinem Handy.
Er habe die Freude an seinem Job nicht
verloren, sagt er, habe nicht mehr Miss-
trauen gegenüber seinen Schülern entwi-
ckelt oder seinen politischen Kurs verlas-
sen. Über Rechtsgesinnte, die den Fall in-
strumentalisieren wollen, um Stimmung
gegen Migranten zu machen, schreibt
Wittchow auf Facebook, die Tat habe
nichts mit Migrationshintergrund oder
religiösem Bekenntnis zu tun, sondern mit
Charakter.

Dabei ist sich Wittchow von Beginn an
sicher: Das war kein Dummejungenstreich.
Und er hört von einem Schüler nach dem
Scheitern des mutmaßlichen Mordver-
suchs, dass ein Bild kursiert, das Ertu zeigt.
In dessen Hand hat jemand einen Hammer
projiziert und darüber einen Schriftzug
montiert: »Free Ertu«.
Gewalt gegen Lehrer ist – laut einer Um-
frage des Lehrerverbands VBE – beson-
ders in Nordrhein-Westfalen ein Problem:
35 Prozent der befragten Schulleiter in
NRW berichteten, dass es an ihrer Schule
in den vergangenen fünf Jahren körperli-
che Übergriffe gegen Lehrer gegeben habe.
55 Prozent wurden direkt beschimpft,
bedroht, beleidigt, gemobbt oder belästigt,
17 Prozent von ihnen über das Internet dif-
famiert oder genötigt.
Aber ein Mordversuch? Das ist zum
Glück außergewöhnlich.
Laut VBE würden auch Fälle nicht ge-
meldet, weil Schulleitungen um den guten
Ruf fürchteten und Schulbehörden die
Meldung von Vorfällen nicht wünschten.
Sich wegducken – so ein Typ ist Wolf-
gang Wittchow nicht. Vor mehr als
20 Jahren kam er an die Martin-Luther-
King-Gesamtschule, die damals noch
einen anderen Namen trug. Er hatte in
Wilhelmshaven sein Referendariat been-
det, es war seine erste feste Anstellung als
Lehrer. Wittchow, der als Kind ein alt-
sprachliches Gymnasium besucht hatte,
träumte von einem Job an einer Eliteschu-
le und fühlte sich dann doch genau hier
»sauwohl«, wie er sagt: auf einer Brenn-
punkt-Schule in Dortmund-Dorstfeld, mit
mehr als 700 Schülern, von denen fast
70 Prozent einen Migrationshintergrund
hätten.
Gewalt ist seit vielen Jahren Thema.
Wittchow erzählt, dass es Verabredungen
zu Massenschlägereien gegeben habe, dass
er bei Schulveranstaltungen als Türsteher
gedient und zur Abschreckung zwei Brü-
der aus der Boxerszene engagiert habe.
Einmal sei ihm eine Autoscheibe einge-
schlagen worden. Bis heute weiß er nicht,
von wem und warum. »Berufsrisiko«, sagt
er und lacht. Angst davor, in die Schule zu
gehen, zu unterrichten, Kinder und Ju-
gendliche aufs Leben vorzubereiten, habe
er auch jetzt nicht.
Der Prozess wird, so ist zu erwarten, in
einigen Monaten beginnen, noch hat das
Landgericht die Anklage nicht zugelassen.
Ertu und Paul werden vor Gericht als Ju-
gendliche behandelt, der 18-Jährige gilt als
Heranwachsender. Die Verhandlung vor
der Jugendkammer des Landgerichts Dort-
mund könnte im Interesse der Jugend -
lichen teilweise unter Ausschluss der Öf-
fentlichkeit stattfinden. Wolfgang Witt-
chow will als Nebenkläger auftreten.
Mail: [email protected]

DER SPIEGEL Nr. 36 / 31. 8. 2019 43


Deutschland

Beschuldigter Ertu
Versetzung gefährdet
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