Neue Zürcher Zeitung - 21.08.2019

(John Hannent) #1

Mittwoch, 21. August 2019 WIRTSCHAFT 23


Mit Abgaben auf Flugtickets ist dem Klima


weniger geho lfen als mi t technologischer InnovationSEITE 25


In Autogaragen ging es früher laut und schmutzig zu,


heute müssen Automechaniker computeraffin sein SEITE 26


Ronaldo kann sich nicht nur über seineTore,sondern auchüber sein Einkommen freuen. MASSIMO PINCA / REUTERS

Weshalb die Stars absahnen können


Wer sich über Spitzenbezüge empört, sol lte zuerst das eigene Verhalten hinterfragen


HANSUELI SCHÖCHLI


Der Mensch will wissen, wo er steht.Das
zeigt sich schon in der Schule. Quittiert
die Lehrerin die Prüfung zum Beispiel
mit einer 4–5, würde man diese Note
gerne imVergleich zumResultat der
Klassenkollegen einordnen. Im Erwach-
senenleben giltÄhnliches in Sachen
Einkommen. DerVergleich mit anderen
kann für manchesogar wichtiger sein als
die absolute Einkommenshöhe.
In vielenLändern sind die Einkom-
mensungleichheiten seit den1980erJah-
ren gestiegen, wieDaten des globalen
Ländervereins OECD zeigen. Eine Ana-
lyse derPariserWirtschaftshochschule
von diesemFrühjahr über 38 europäi-
scheLänder illustriert, dass die Einkom-
men des obersten Prozents besonders
stark gewachsen sind.
SchweizerDaten zu den Haushalts-
einkommen und den Lohneinkommen
für diePeriode seit den1990erJahren
zeigen einerelativ stabileVerteilung für
das Gros der Bevölkerung, doch ganz
oben ging auch in der Schweiz diePost
ab.Während die mittleren Löhne innert
zwanzigJahren um 22% zulegten, betrug
die Zunahme im obersten Prozent etwa
50%,im oberstenPromille rund 90%und
im obersten Zehntelspromille gar160%.


Wie in der Tierwelt


Dassauch untereund mittlere Einkom-
men gewachsen sind, besänftigt längst
nicht alle.Aus evolutionsbiologischer
Sicht ist beim Menschen wie beim Affen
diePosition in der Hackordnung undda-
mit derrelative Status entscheidend für
dasFortkommen.Das erklärt verbrei-
tete Neidgefühle und die Lust, «die dort
oben» auf den Boden zurückzuholen.
Auch nach demVolks-Javon2013 zur
«Abzocker-Initiative» sprach sich in Um-
fragen immer noch etwa die Hälfte für
weitere Staatseingriffe bei Cheflöhneaus.
Auf der Klaviatur der Neidgefühle gegen
dieReichsten spielt auch dieVolksinitia-
tive derJungsozialisten(«99%-Initia-
tive»), die eine höhere Besteuerung der
Kapitaleinkommen fordert.
Die Ursachen hinter den Einkom-
mensschüben ganz oben sind nicht
immer ganz klar und auch nicht in allen
Sektoren die gleichen. Zu den oft ge-
nanntenPauschalkandidaten zählen die
Globalisierung undTechniksprünge. In
dieser Lesartkönnen heute die besten
Unternehmer, Manager,Anwälte, Musi-
ker oder Sportler dankTechnik und
Marktöffnungen ihreDienste einfacher
weltweit verkaufen.


Ein zentraler Faktor in gewissen
Märkten ist dasVerhalten der Nach-
frager: Diese sind bereit, für die mut-
masslich Besten viel mehr zu zahlen als
für die etwas weniger Guten. Ist zum
Beispiel ein Manager,Arzt, Anwalt oder
Sportler 5%«besser» als einKonkur-
rent, kann dies im Ergebnis (und damit
auch im Marktwert) einen weit grösse-
ren Unterschied ausmachen.
Besonders augenfällig ist dies im
Sport. Der Sieger derTour deFrance
von diesem Sommer, derKolumbianer
Egan Bernal, war nur etwa 1% schneller
als derMann aufRang 20, ein Spanier
namensJesús Herrada. Doch die Num-
mer 20 weckt kaum Interesse, was sich
im Marktwert niederschlägt. Eine Illus-
tration des Interesses liefert die Schwei-
zer Mediendatenbank: Der Sieger Ber-
nal brachte es seit AnfangJuli auf fast
700 Nennungen, die Nummer 20 erhielt
nur eine einzige schäbigeRanglistenzeile.
Die Medien liefern imWesentlichen
ein Abbild der Gesellschaft und ihrer
mutmasslichen Interessen. Eine viel-
sagende Episode schrieben diesen Som-
mer diekoreanischenFussballfans. Über

60000 Anhänger waren ins ausverkaufte
Stadion in Seoul gepilgert, um ein un-
bedeutendesTestspiel des italienischen
SpitzenklubsJuventusTurinmit sei-
nem Starstürmer CristianoRonaldo zu
sehen.Juventus hatte demVeranstalter
zugesagt, dassRonaldo mindestens eine
Halbzeitspielen würde. Doch derStar
verwiesaufseine Müdigkeit, weshalb das
Spiel ohne ihn über die Bühne ging.
Laut der «Korea Times» lancierten
in derFolge mehrereAnwaltskanzleien
Sammelklagen gegen dieVeranstalter
zurRückforderung der Eintrittspreise;
die teuersten Billettekosteten umge-
rechnet über 300Fr. DieRede ist auch
von Entschädigungen für das «seelische
Leid» derFans. Eine der Kanzleien hatte
nach wenigenTagen schon 20 00 Anmel-
dungen für ihreSammelklage erhalten.

Medien alsBes chleuniger


Die Mediensind klassische Beschleuni-
ger der Ungleichheiten. In der Schwei-
zer Mediendatenbank erschienRonaldo
in den letzten zwölf Monaten in fünf-
bis zehnmal so vielen Artikeln wie an-

dereStammspieler vonJuventus – die
ebenfalls gestandene Spitzenfussbal-
ler sind. Ein ähnliches Bild zeigt sich
in den sozialen Netzwerken. Bei Insta-
gram zum Beispiel hatRonaldo fünf-
bis zwanzigmal so viele Abonnenten
wie andere Spitzenspieler seines Klubs.
Die massive Zunahme der Medien-
kanäle seit den1980erJahren brachte
in den populären Sportarten stark er-
höhteTV- und Sponsorengelder und
verstärkte die Ungleichheiten deutlich.
Die Einnahmen im europäischen Klub-
fussball habensichalleinin den letzten
zwanzigJahren etwa versiebenfacht,
was sich besonders stark auf Löhne und
Marktwerte der Stars auswirkte.
In anderen Märkten produziert der-
weil das Internet zumTeil Netzwerk-
effekte, die ebenfalls starke Ungleich-
heiten fördern. So gilt für soziale Netz-
werke wieFacebook oder Buchungs-
plattformen wie booking.com: Jemehr
Leute diese Angebote nutzen, desto
attraktiver werden diese Plattformen
auch für andere. Dieses Matthäus-Prin-
zip («wer hat, dem wird gegeben») kann
auch ohne Netzwerkeffekt spielen.

So zeigen zum Beispiel Experimente,
dass dieWahl von Musikstücken durch
die Popularität beeinflusst ist: Sind
Popularitätsranglisten bekannt, legen
die Spitzenreiter in derFolge nochviel
stärker zu als ohne Bekanntgabe solcher
Ranglisten.Wegen dieses Herdentriebs
versuchen die Medien gerne, in ihren
Berichten das Interesse an behandel-
ten Akteuren mit Beschreibungen wie
«populär», «prominent», «Bestseller-
autor» oder «Starchirurg» anzuheizen.
Der Herdentrieb ist aus evolutionsbiolo-
gischer Sicht verständlich:Per saldo hat
es in derVergangenheit die Überlebens-
chancenerhöht, mit der Herde zuren-
nen, statt das Gegenteil zu tun.

Der Blickin den Spiegel


Sozialer Einfluss erhöhe die Ungleich-
heiten, betont der amerikanische Pro-
fessor ScottPage, ein Analytikerkom-
plexerSysteme, in seinem Buch«T he
ModelThinker» (2018). Diese Beein-
flussung trägt lautPage dazu bei, dass
zum BeispielFirmengrössen, die Links
und Klicks im Internet, Buchverkäufe,
wissenschaftliche Zitierungen und die
Grösse von Städten deutlich ungleicher
verteilt sind als etwa Körpergrössen
oder Lottozahlen. In manchen Märkten
dürfte das Internetzeitalter die soziale
Beeinflussung und damit die Ungleich-
heiten noch wesentlich verstärkt haben.
Der Hang der Medien zum Befeu-
ern von Ungleichheiten zeigt sich auch
in eher traditionellen Domänen. So er-
schien zum Beispiel der UBS-Chef Ser-
gio Ermotti im vergangenenJahr laut
Schweizer Mediendatenbank in mehr
Artikeln als alle anderen zwölf Mitglie-
der der UBS-Konzernleitung zusam-
men. Die Hervorhebung der Starsund
Chefs ist eine Besessenheit der Medien,
die hoffen, mit dieserPersonalisierung
ihre Berichte besser zu verkaufen.
Auch dies mag letztlich die Bedürf-
nisse des Publikums spiegeln, doch
es trägt ironischerweise dazu bei, die
wahrgenommene Bedeutung von Spit-
zenmanagern und damit auch deren Be-
züge zu erhöhen. ImVergleich zu Sport-
lern ist allerdings bei Spitzenmanagern
der Beitrag zumTeamerfolg oft weniger
klar. Solche Unklarheitenkönnen dazu
führen, dass auch mittelmässige Akteure
Spitzenlöhne bekommen.
Die Moral der Geschichte: Man
darf sich über massive Ungleichheiten
und Spitzenlöhne ärgern – doch bevor
man mit dem Moralfingerauf andere
zeigt, empfiehlt sich ein Blick in den
Spiegel.

Luxemburgische KBL forder t die Schweizer Konkurrenz heraus


Die Privatbankengruppe ü bernimmt die Bank am Bellevue und will d ie Schweiz als Wachstumsbasi s nutzen – ein ambitioniertes Vorhaben


ERMESGALLAROTTI


JürgZeltner, der Ende 20 17 nicht ganz
geräuschlos als Chef der UBS-Kerndivi-
sionWealth Management zurückgetre-
ten und aus derBank ausgeschieden ist,
will es noch einmal wissen. Erst Ende
Maizum Chef undVerwaltungsrats-
mitglied der luxemburgischen Privat-
bankengruppe KBL European Private
Bankers (KBL) ernannt, hat er ein ers-
tes Signal gesetzt: KBL übernimmt zu
einem nicht genannten Preis dieBank
am Bellevue, eineTochtergesellschaft
der Bellevue-Gruppe.DieTransaktion,
in derenVerlauf 22 Mitarbeiter,Ver-
mögen von 1,6 Mrd. € und – besonders
wichtig –eineVollbanklizenz dieHand
wechseln, soll imVerlauf des ersten
Quartals 2020 abgeschlossen werden.


DieBank am Bellevue,die auf eine
eher bewegte denn glorreicheVergan-
genheit zurückschauen kann, soll als
Ausgangsbasis für forschesWachstum
dienen. Zum einen will KBL von der
Schweiz ausausländischeKunden be-
treuen. Zumandern ist sie bestrebt, auch
in der Schweiz selbst neueKunden zu
ge winnen.
Bei allem Optimismus:Wunder wird
auch KBL nicht vollbringenkönnen. Im
grenzüberschreitenden Geschäft kämp-
fen die Akteure mit Margenproble-
men. Bestes Beispiel ist die übernom-
meneBank am Bellevue selbst, die es
nicht geschafft hat, ein tragfähiges, lang-
fristig profitablesWealth-Management-
Geschäft aufzubauen. Sie alsWealth-
Management-Sparte der Bellevue-
Gruppe zu bezeichnen, wie dies KBL

tut, grenzt an Euphemismus. Denn die
Bank war vor allem im Brokerage und
im Corporate-Finance-Geschäft tätig,
bevor sie jüngst ein wenig erfolgreiches
Comeback imWealth-Management ver-
suchte.Zur Erinnerung: ImJahr 2005
hatte dieBankSwissfirst, die damals

mit der Bellevue-Gruppe fusionierte,
einVermögensverwaltungsgeschäft in
die unglückliche Liaison eingebracht,
das später abgestossen wurde.
Nicht minder anspruchsvoll als das
grenzüberschreitende Geschäft sind die
lokalen Aktivitäten.Jede grössere im
Wealth-Management engagierteBank
hat ihreAnstrengungen im Heimmarkt
verstärkt, um die Ertragseinbussen im
Offshore-Geschäft zukompensieren.
Doch für alle Ambitionen, inklusive
jener von KBL, ist die Schweiz zu klein.
Wer im Heimmarkt wachsen will, muss
derKonkurrenz Marktanteile abjagen.
Für die KBL-Gruppe, die in 50 euro-
päischen StädtenVermögen von rund
70 Mrd. € verwaltet, dürfte das alles
andere als einfach werden. Die Hoff-
nungen von KBL ruhen aufDagmar

Kamber Borens. DieBankerinsoll per


  1. September dieFührung des Schwei-
    zer Geschäfts von KBL übernehmen.
    Im vergangenen Herbst war sie nach
    nur zweiJahren als Chief Operating
    Officer der Schweizer Universalbank
    von Credit Suisse zurückgetreten. Zu-
    vor hatte sie leitendePositionen für die
    UBS in Zürich, London und Singapur
    bekleidet.
    In den kommendenWochen will
    KBL eine Strategie für ihr neu erwor-
    benes Schweizer Geschäft ausarbeiten.
    Ungefähr Mitte Oktober wird bekannt-
    werden, wohin die Reise gehen soll.
    Eins scheint klar:JürgZeltner will es
    derKonkurrenz noch einmal zeigen und
    drückt auf dasTempo.Geschwindigkeit
    ist aber nur dann einTr umpf, wenn die
    eingeschlagene Richtung stimmt.


KEYSTONE, PD
Dagmar Kamber
Borens
Chefin KBL Schweiz

Jürg Zeltner
Verwaltungsrat
und Chef der KBL
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