Neue Zürcher Zeitung - 21.08.2019

(John Hannent) #1

26 WIRTSCHAFT Mittwoch, 21. August 2019


BERUFE IM WANDEL


Seit der Lehre eine Schwäche für Giulia

Nunzio Caponio repariert italienische Autos auch ohne Computer – im Gegensatz zu de n jungen Berufskollegen


ERMESGALLAROTTI


SeinVater warAutomechaniker,zwei
Onkel warenAutomechaniker,erselber
istAutomechaniker – für Nunzio Capo-
nio war von Anfang an klar, dass auch
für ihnkein anderer Beruf infragekom-
men würde.«UnsereFamilie hat Benzin
in denAdern, ich selbst bin erstmals mit
anderthalbJahren hinter dem Steuer ge-
sessen», sagt der Zürcher, dessen Eltern
in der zweiten Hälfte der fünfzigerJahre
von Apulien in die Limmatstadt gezogen
sind. Angetanhaben es ihm italienische
Autos,in erster Linie die Modelle von
AlfaRomeo. Zeitlose Karosserieformen,
hölzerne Steuerräder und Armaturen-
bretter,ein sportliches Herz unter der
Haube – aus diesem Stoff waren seine
Tr äume und sind es immer noch.
So kam es, dass Caponio1980 eine
vierjährige Lehre in der Garage von
Werner Brüngger begann, einem der
damals bedeutendsten Alfa-Romeo-
Händler der Stadt Zürich.Autos wa-
schen,Wasser- und Ölstandkontrol-
lieren,Reifendruck überprüfen – im
ersten Lehrjahr musste sich der an-
gehende Berufsmann Schritt für Schritt
an dasAuto herantasten. Ab dem zwei-
ten Lehrjahr kam ein Lehrling in die
Werkstatt und wurde einem gestande-
nen Mechaniker zugeteilt, dem er bei
Bedarf zur Hand ging.Ab dem dritten
Lehrjahr durfte er selbst Hand anlegen
und imRahmen seiner Möglichkeiten
selbständigReparaturen vornehmen.


Tief verwurzelteLeidenschaft


«Das war nicht einfach», sagt Caponio
rückblickend. «Ich habe oft den Mecha-
nikern an den arbeitsfreien Samstagen
zugeschaut, wie sie in derWerkstatt an
den eigenenAutos gearbeitet und eine
Zylinderkopfdichtung ausgetauscht
haben», erinnerter sich. Dieses Engage-
ment und Interesse habe ihn, davon ist
er überzeugt, beruflich weitergebracht
und seinePosition in derFirma gefes-
tigt. Noch heute ist er stolz darauf, be-
reits im zweiten Lehrjahr selbständig das
Getriebe eines AlfaRomeo GTV6 zer-


legt und den kratzenden zweiten Gang


  • eine Schwachstelle dieses sportlichen
    Sechs-Zylinder-Modells–neu synchro-
    nisiert zu haben. Und zwar nicht irgend-
    eines GTV6, sondern desAutos von
    Ruedi Elsener, damals Flügelstürmer bei
    den Zürcher Grasshoppers.Auch dessen
    Klubkollege Andy Egli fuhr einen GTV6
    und warKunde bei derselben Garage.
    An der Abschlussprüfung musste
    Caponio sein mechanischesWissen und
    handwerklichesKönnen unter Beweis
    stellen.Von einem Mechaniker wurde er-
    wartet, dass er Motor, Getriebe, Brem-
    sen und alleanderenFahrzeugkompo-
    nenten warten undreparierenkonnte.
    Er musste nicht nur feilen, bohren und
    drehen, sondern auch in derLage sein,
    eine Steuerkette zu montieren, ein Ge-
    triebe zu zerlegenundwieder zusam-
    menzubauen,Vergaser-und Zündanla-
    gen einzustellen, Lichtmaschinen und
    Anlasser zureparieren, Lenkungen aus-
    zubauen oder Differenzialspiele einzu-
    stellen. «Das haben wir alles gelernt und
    können es auch heute noch», sagt Capo-
    nio.WennReparaturen an einem älte-
    renAlfa-Modell anstehen, ist er ein ge-
    fragter Mann,denn die jüngerenKolle-
    gen habenRespekt vor der ihnen wenig
    vertrauten Mechanik.
    Heute gibt es den Beruf des Mecha-
    nikers, wie ihn Caponio gelernt hat, nicht
    mehr.Aus den Mechanikern mit ver-
    ölten Arbeitskleidern und Dreck unter
    den Nägeln sind Mechatroniker gewor-
    den–eine Kreuzung von Mechanikern
    und Elektronikern.Wenn einKunde
    ein Problem mit seinemAuto hat, öff-


netderMechatronikernicht mehrdie
Motorhaube.Vielmehr verbindet er das
Auto mit seinem Diagnose-Programm
auf einemLaptop,das für ihn aufFeh-
lersuche geht. Ist dieFehlerquelle ge-
funden, werden defekteKomponen-
ten ersetzt, Steuergeräte ausgetauscht –
niemand nimmt mehr eineFeile in die
Hand, zerlegt einen Anlasser oder lötet
Stromkabel zusammen. Bei Stunden-
ansätzen von bis zu über 200Fr. wäre
das auchkeinemKunden zuzumuten.
Kratzt heute einAcht-Gang-Automa-
tik-Getriebe, wird es nicht zerlegt und
repariert, sondern ausgetauscht.

Trend zur Elektronisierung


Während früher ein Mechaniker her-
ausfinden musste, was hintereinem un-
gewöhnlichenMotorengeräusch steckt,
klärt heute seinNachfolger beiFehler-
meldungen ab, welche elektronischen
Komponenten Informationen unterein-
ander austauschen und welche Steuer-
elemente involviertsind.«Damals musste
man die Mechanik à fondsverstehen.
Heute ist mechanisches Grundwissen
zwar immer noch unerlässlich, aber
es ist die Elektronik, die man im Griff
haben muss», fasst Caponio zusammen.
Und es gibt bereitsAutos, die selbstän-
dig mit ihremWerkkommunizieren und
demFahrer anzeigen,wenn ein Besuch in
derWerkstattratsam ist. Diese wiederum
meldet sich daraufhin beimKunden und
schlägt einenTermin vor. DerTr end zur
Elektronisierung ist auch auf die stetig
wachsende Zahl von Hybridfahrzeugen
und E-Autos zurückzuführen.
Würde Caponio das Angebot an-
nehmen, in eine BMW- oder Merce-
des-Garage zu wechseln? «Das würde
ichnicht grundsätzlich ausschliessen,
aber ich käme mir ein bisschen wie mit-
ten in einem grossen Maisfeld vor», sagt
er. Denn zum einen braucht es aus sei-
ner Sicht fünf bis zehnJahre,bis man
die DNA einer Marke entschlüsselt hat.
Zum andern hat er in der Kalchbühl-
Garage, einem auf AlfaRomeo,Fiat
undLanciaspezialisierten Zehn-Mann-
Betrieb in ZürichWollishofen, seine be-

rufliche Heimat gefunden – nicht zu-
letzt dank dem Zufall.Auf der Suche
nach Zündkerzen und Unterbrecher
für seinenFiat 127 machte er1987 auf
dem Heimweg halt bei der Kalchbühl-
Garage. Im Ersatzteillager lag auf dem
Pult desLageristen eineTafel mit der
Aufschrift «Mechaniker gesucht».Das
war vor 32Jahren.
Seither hat Caponio der Kalchbühl-
Garage dieTr eue gehalten.Als Betriebs-
leiter sorgt er dafür, dass derLaden läuft
und Problemerasch gelöst werden.Zwar
sind die Zeiten nicht mehr so aufregend
wie zu Beginn seiner Karriere, als tech-
nisch aufregendeWürfe wie derFiat
UnoTurbo, derLanciaThemaFerrari
oder derLancia Delta Integrale auf den
Markt kamen. Heute ist diePalette des
Fiat-Konzerns, zu dem AlfaRomeo und
Lancia zählen, schmal geworden. 20 18
erreichteFiat bei den in der Schweiz
neu immatrikuliertenFahrzeugen ge-
rade noch einen Marktanteilvon 2,8%,
auf AlfaRomeo entfiel lediglich 1%.

Die goldenen Zeitensind vorbei


Sinkende Marktanteilevermögen Capo-
nios Begeisterung für italienischeAutos
nicht zu mindern.Von der hie und da ge-
äusserten Kritik an der Qualität («Fiat:
Fehler in allenTeilen») hält er nicht viel,
im Gegenteil. «Noch in den neunziger
Jahren, als überall in denAutos Plastik
verbaut wurde, hat es überall geknistert
und geknattert.Wir haben tagelang nach
den Quellen dieser Geräusche gesucht,
aber das ist schon lange vorbei», sagt Ca-
ponio. Und selbst in Sachen Elektrik und
Elektronik, eine Schwäche italienischer
Autos, hält der Betriebsleiter dagegen:
«Das ist nicht ein Problem vonFiat, son-
dern von allen heutigen Marken.»
Am liebsten wäre ihm, wenn er seine
letzten zehn Berufsjahrebis zurPensio-
nierung in der Kalchbühl-Garage ver-
bringenkönnte. Denn die Zeiten sei-
ner Lehrjahre, als Ehepaarezigaretten-
rauchend vor demAusstellungsraum
warteten, bis derVerkäufer frei wurde
und sie ihren neuen AlfaRomeo Giulia
bestellenkonnten, sind längstens vorbei.

Die Arbeitskleider von Nunzio Caponiowerden heute nicht mehr sehr schmutzig. Ohne Schmiermittel läuft einAuto aberimmer nochnicht. BILDER JOËL HUNN / NZZ


BERUFE IM WANDEL
NeueTechnologienund die Globalisierung
verändern die Art,wie wir unsereBerufe
ausüben. Über die Sommermonate
habenwir Personenvorgestellt, die in
ihrem Alltag mit diesemWandel konfron-
tiert sind. Mit diesemBeitrag ist die Serie
abgeschlossen.

nzz. ch/wirtschaft/berufe

Der Stress


am Arbeitsplatz


hat zugenommen


Vor allem jüngere Angestellte
fühlensich belastet

ng./feb.·Erwerbstätige in der Schweiz
klagen zunehmend über Stress bei der
Arbeit. ImJahr 20 17 gaben 21% von
ihnen an,amArbeitsplatz sehr oft unter
Stress zu leiden.ImJahr 2012 waren es
noch18% gewesen. Dies teilt das Bun-
desamt für Statistik (BfS) in der Schwei-
zerischen Gesundheitsbefragung mit, die
sie alle fünfJahre publiziert. Signifikant
sei die Zunahme bei den Stressgeplag-
ten unter den15- bis 29-Jährigen (von 19
auf25%) sowie beiden 30- bis 49-Jäh-
rigen (von 18 auf 22%). Geschlechter-
spezifische Unterschiede seien nicht
festzustellen. 49% dergestresstenPerso-
nen gaben an, sich am Arbeitsplatz emo-
tional erschöpft zu fühlen. Dies gilt laut
BfSals Zeichen für ein hohes Burnout-
Risiko. 16% der emotional Erschöpften
stuftenihren Gesundheitszustanddenn
auch als mittelmässig,schlecht oder
sehr schlecht ein. JederVierte, der bei
der Arbeit meistens oder immer unter
Stress steht, kann dagegen laut eigenen
Aussagen gut damit umgehen.

Angstvor Jobverlust


Auch anderepsychosoziale Risiken nah-
men zu. 20 17 waren die Hälfte der Er-
werbstätigen von mindestens drei psy-
chosozialen Risikofaktoren betroffen,
2012 waren es noch 46 % gewesen.In
der Studie sind neun psychosoziale Risi-
ken definiert: hohe Arbeitsanforderun-
gen, hoher Zeitdruck,geringer Gestal-
tungsspielraum,Wertekonflikte,Bean-
spruchung,geringe soziale Unterstüt-
zung, Diskriminierung bzw. Gewalt,
Angst um den Arbeitsplatz und Stress.
Es fühlten sich nicht nur mehr Schwei-
zer Erwerbstätige gestresst, sondern
auch die Angst um den Arbeitsplatz
nahm zu. Der AnteilderPersonen, die
einenJobverlust befürchten,stieg zwi-
schen 2012 und 2017 von 13 auf16%.
Nur 11% der Befragten sagten,keinen
psychosozialen Risiken ausgesetzt zu
sein. Die15- bis 29-Jährigen unter den
Befragten gaben mit 58% besonders
häufig an, von mindestens drei der Risi-
ken betroffen zu sein.

Wichtige Rolleder Chefs


Das Staatssekretariat für Wirtschaft
(Seco) hat 2 01 8 die psychosozialen Risi-
ken am Arbeitsplatz unter die Lupe ge-
nommen und festgestellt, dass rund ein
Drittel der Unternehmen aufgrund der
Beratung und Sensibilisierung sowie
Anordnungen der Arbeitsinspektoren
Massnahmen ergriffen und etwaVe r-
trauensstellen undKonfliktlösungsver-
fahren eingeführt haben.Laut Seco be-
trachten die Arbeitgeber die psycho-
sozialen Risiken am Arbeitsplatz immer
noch häufigalsFolge persönlicherPro-
bleme einzelnerMitarbeiter.Aus die-
sem Grund würden die Unternehmen
nurselten dieAufgabenanders vertei-
len, mehrRessourcen zurVerfügung
stellen, die Arbeitszeiten anpassen oder
die Angestellten vermehrt am Gesund-
heitsschutz beteiligen.
Arbeitnehmer führen den Stress
gerne auf die Arbeitsbedingungen im
Betrieb zurück, Arbeitgeber sehendas
Problem dagegen vor allem bei den
betroffenen Mitarbeitern.Laut Kurt
Mettler, Gründer der auf Gesundheits-
management spezialisierten SIZ Care,
liegt dieWahrheit irgendwodazwischen.
Laut seiner Erfahrung wird in denFir-
men jedoch der positive Einfluss einer
guten Arbeitsorganisation unterschätzt.
Bei derVermeidung von psychosozia-
len Risikenkomme denFührungskräf-
ten auch imRahmen ihrerFürsorge-
pflicht eine Schlüsselrolle zu. Mitarbei-
ter, die sich wertgeschätzt fühlten und
denen Verständnis entgegengebracht
werde, seien weniger gestresst als an-
dere.Hinzukomme die Arbeitsbelas-
tung und Erreichbarkeit.Das BfS be-
fragte erstmals auch die Erwerbstäti-
gen, ob sie in ihrerFreizeit arbeiten,
um dieAufgaben bewältigen zukön-
nen. 21% der Männer und16% der
Frauen gaben an, dass sie dies mehr-
mals wöchentlichtäten.
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