Mittwoch, 21. August 2019 FEUILLETON 35
EmmaBraslavsky entwirft in ihrem jüngsten Roman eine
blühende Zukunft für den humanoiden Roboter SEITE 36
Als das Image der Zigarette noch besser war:
Wie Hollywood das Rauchen zelebrierte SEITE 37
Dereine Augenblick, der sichnie wiederholen wird. Und vielleicht docherhaltenbleibt. Tage undWochen verbrachteJohn Constable damit,Wolkenzumalen. NATIONAL GALLERYVICTORIA MELBOURNE
Auf einmal sind sie da, im blauen Himmel
Wolken sind das Flüchtigste, was es gibt. Und vielleicht doch das Einzige, was auf sonderbare Art Dauer hat.Von Thomas Ribi
Vielleicht war am Anfang dieWolke.
Keine bestimmte natürlich. Irgendeine,
wie es unzählige gibt. Und docheine, wie
es sie nur ein einziges Mal gegeben hat.
Wahrscheinlich war sie plötzlich da, so
unerwartet,dass nicht einmal derSchöp-
fer mit ihr gerechnet habenkonnte.Aus
heite rem Himmel wird sieaufgetaucht
sein über einer Erde, die wüst war und
leer.Aufgestiegen aus einer Urflut, die
vor sich hinbrodelte und nicht im Ent-
ferntesten erahnen liess, was sich auf die-
ser Welt dereinst alles abspielen würde.
Immerhin,den Himmel gab es schon.
DasWasser auch, und zwischen beidem
wehte einWind. Kein sanftes Lüftchen,
wie man es sich an schwülenAbenden
wünscht, ein eisigesWehen. Sonst war
nichts. Ganz zuerst nicht einmal das
Licht. AberWolken. Sie trieben sich
herum, ballten sich zu Knäueln, bilde-
ten endlosePagoden,lösten sich in Se-
kundenschnelle auf, zogen sich hin am
Horizont, zerfetzt wie Segel eines Geis-
terschiffs, drohend wie zerklüftete Ge-
birge. Strahlend weiss, changierend von
Beigeviolett überschmutziges Grau-
schwarz bis zu namenlosemDunkel.
Sie waren da, von Anfang an. Und
wie immer die Erde ihre Gestalt gefun-
den hat: DieWolken werden seit je so
ausgesehen haben wie heute, Jahrmillio-
nen konnten ihnen nichts anhaben. Nie-
mand kann es mit ihrer Unbeständig-
keit aufnehmen. Sie ändern ihre Gestalt
im gleichenAugenblick, wie sie sich bil-
den. Zerfallen, bevor sieForm gewor-
den sind, verschwinden, kaum sind sie
aufgetaucht.Und auch wenn man meint,
sie stünden unbewegt am Himmel: Es
vergehtkeine Sekunde, ohne dass sie ihr
Aussehen ändern. Man steigt eher zwei-
mal in den gleichen Fluss, als dass man
zweimal die gleicheWolke sieht.
DieselbeWolke, das gibt es nicht. Es
gibt einfachWolken.Und eigentlich gibt
es nurimmer dieWolken, die ich gerade
vor mir sehe. Manchmal eilen sie der
Ferne zu, als ob sie irgendwo erwartet
würden, Silberwölklein. Manchmal zie-
hen sie träg dahin.WieschwereTräume,
sagt Eichendorff. Und manchmal jagen
sie einander wiejunge Hunde. Schwere-
los scheinbar, obwohl das ihre grosse
List ist:uns glauben zu machen,sie seien
so leicht, dassman sie nur sanft berüh-
ren müsste, um sie zu verschieben, wie
Kulissen – wo nur schon eine handliche
Schönwetterwolke so viel wiegt wie ein
modernes Grossraumflugzeug.
Luke Howard wird sich oft gewun-
dert haben, dass dieWolken nicht vom
Himmel fallen. Elf Jahre alt war er, als
sich über London seltsame Erscheinun-
gen zeigten.Trockene Nebel,Rauch-
säulen, die in die Höhe stiegen und sich
zu langenBänken formten, Sonnen-
untergänge, die glühten, wie es niemand
je gesehen hatte. Es war im Sommer
1783, und die Ursache für das Spektakel
war derAusbruch einesVulkans im fer-
nen Island. Er veränderte nicht nur das
Aussehen des Himmels, auch das Klima
spielte verrückt. Es wurde kalt,kam zu
schweren Unwettern, monatelang lag
Europa unter einer Nebeldecke.
Natur, was ist das schon!
Von da an wollte Luke Howard mehr
überWolken wissen. Am besten alles,
was sich in Erfahrung bringen liess. Er
schautestundenlang in den Himmel,
hielt seine Beobachtungen fest, las, was
Gel ehrte zu berichten wussten. Zwan-
zig Jahre später legte er ein Buch vor,
«On the Modifications of Clouds», in der
er dieWolkentypen benannte, die noch
heute Grundlage der gängigenSyste-
matik sind: dieFederwolke (Cirrus), die
Haufenwolke (Cumulus), die Schicht-
wol ke (Stratus) und dieRegenwolke,
die sich entleert (Nimbus). Natürlich
mit allen Mischformen, die möglich sind:
Cumulo-Stratus, Cirro-Stratus, Cumulo-
Cirro-Stratussogar. So leicht lassen sich
Wolken nicht bändigen.
Aber was sind Begriffe, wenn es
um Wolken geht?Wissen wir mehr,
wenn wir flüchtigeGebilde in Katego-
rien einteilen, die dieFülle ihrerFor-
men mehr schlecht alsrecht beschrei-
ben?Vielleicht. Bei den Intellektuellen
in Europa stiess Howards Studie jeden-
falls auf grosses Interesse.Auch Goe-
the begann sich mitWolken zu befas-
sen. Nach demAufwachen liess er sich
von seinem Diener denBarometer-
stand anzeigen und versuchte daraus das
Wolkenbild zu erraten. Oder betrach-
tete den Himmel und schloss auf den
herrschenden Luftdruck.Die «Enträtse-
lung»,teilte er mit, sei «anfangs nicht
vollkommen, zuletzt aber genugsam be-
friedigend» gelungen.
Weniger befriedigendgelang es ihm,
zu zeichnen,was er beobachtet hatte. So
gewandt Goethes Zeichnungen manch-
mal sind, seineWolken wirken steif,
pedantisch, leblos. Er selber spürte das
am besten.Da musste einKünstler Ab-
hilfe schaffen. Goethe gabWolkenbilder
in Auftrag , und zwar beikeinem Gerin-
gerenals CasparDavid Friedrich,dessen
Schaffen er mit einer Mischung aus Be-
wunderung undVorbehalten verfolgte.
Eine Bedingungstell te der Geheimrat:
Die Wolken mussten so aussehen, wie
sie in Howards Buch beschrieben waren.
Friedrich lehnte ab.Wolkenkönne
man nicht in eine Ordnung zwingen,
liess er ausrichten. Sie stur nach der
Natur zu malen, würde «einen Umsturz
in derLandschaftsmalerei bedeuten».
Das war richtig, zumindest wenn man
das Wesen der Malerei so verstand, wie
Friedrich es tat.Auch er malteWolken,
ja. Aber er malte sie so wenig nach der
Natur wie den Himmel oder das Licht.
In der Natur machte er Skizzen.Auf der
Leinwand malte er aus der Erinnerung.
So, wie es am besten zur Stimmung eines
Bildes passte. Überhaupt: Natur, was
war das schon! Am Ende doch das, was
sich zeigte, wenn man dieAugen schloss
und mit dem innerenAuge schaute.
Die Farben, das Licht
Im Freien sitzen und den Himmel ma-
len? CasparDavid Friedrich sah nicht
ein, wozu das hätte gut sein sollen, wo-
mit der vielleicht grössteWolkenmaler
des 19.JahrhundertsTage undWochen
verbrachte:John Constable. In Hamp-
stead, ausserhalb vom Zentrum Lon-
dons,hatte er ein Gartenhaus gemietet,
um in der klaren Luft des idyllischen
Vororts zu malen.Am liebsten den Him-
mel. «Skying» nannte er das, und dabei
wollte er nicht gestört werden.
Ab 1820 machte Constable weit über
hundert Ölstudien.Fast wie inTrance
soll er gearbeitet haben. Bei manchen
Bildern ist amRand ein kleines Stück
Horizont zu sehen,Baumkronen, ein
angedeuteter Hügelzug. Die meis-
ten zeigen nur, was den Maler wirk-
lich interessierte:Wolken, ihreFarben,
das Licht, das sich in ihnen fängt, viel-
leicht ein paarVögel, die ihreBahn zie-
hen. Auf derRückseite der Blätterist
vermerkt, wann die Skizze entstand,
mit Datum und Uhrzeit, manchmal ein
paar Worten zurWitterung.Constables
«Clouds» sindVersuche, den Himmel
festzuhalten. So,wie er sich dem Blick
zeigt,in d em Augenblick, wo dieWol-
ken erscheinen.
In dem einenAugenblick, der sich
nie wiederholen wird. Und vielleicht
doch erhalten bleibt. In einem Bild. In
der Erinnerung.Am 21 .Februar 1920
reiste Bertolt Brecht vonAugsburg
nach Berlin. Zweiundzwanzig warer,
und im Zugabteil notierte er – wenn
man dem Eintrag in seinem Notizbuch
vertrauen kann – ein Gedicht. Ein Lie-
besgedicht.Vielleicht eines der schöns-
ten Liebesgedichte: «Erinnerungan die
Marie A.».
Es handelt von einer Erinnerung, die
keine ist.Von einer Liebe, die vergan-
gen ist, aber gegenwärtig bleibt – auf-
gehoben ineinerWolke. Der Wolke,
die am Himmel stand, als der Dichter
das Mädchen in den Armen hielt, «an
jen em Tag im blauen MondSeptem-
ber». «Unter einem jungen Pflaumen-
baum» war es,
Und über uns im schönen Sommerhimmel
Wareine Wolke,die ic hlange sah
Sie warsehr weiss und ungeheuer oben
Und als ichaufsah,warsie nimmer da.
Wie das Mädchen ausgesehen hat?Ver-
gessen. Und nicht einmal derKuss wäre
noch in Erinnerung,
Wenn nicht dieWolke dagewesenwär
Die weiss ic hnochund werd ichimmer wissen
Sie warsehr weiss und kam von oben her.
Das scheinbar Ewige ist flüchtiger als
dasVergänglichste, was es gibt.Und viel-
leicht hat nur dasVergängliche wirklich
Dauer.Weiss war dieWolke und blühte
ein paar Minuten.Dann verschwand sie
in unendlichem Blau.