Neue Zürcher Zeitung - 21.08.2019

(John Hannent) #1

36 FEUILLETON Mittwoch, 21. August 2019


Der Mensch setzt sich bald zur ewigen Ruhe

Alles wird besser, das gilt erst recht für die intelligenten Maschinen. Die Folgen beleuchtet Emma Braslavsky in einem klugen Roman


PAUL JANDL


Wodie Dunkelziffer der Leidenschaf-
ten hoch ist, dort gehen die Lichter nie
aus. In Emma Braslavskys neuemRoman
leuchtet Berlin neonblau und grapefruit-
pink. Kreuzberg tanzt bis in den Morgen.
Roboter und Menschen drehen hier ge-
meinsam die Pirouetten einer Zukunft,
die man nur deshalb als Science-Fiction
einordnen kann, weil es sich hier ers-
tens um Literatur handelt – und zweitens,
apropos Zukunft: Noch ist es nicht ganz
so weit.
«Die Nacht war bleich, die Lichter
blinkten» heisst Emma BraslavskysRo-
man,und daringeht es mit den Menschen
deutlich bergab. Das schlagendste Bei-
spiel für diesen Untergang ist ein gewis-
ser Lennard. Er ist Profitaucher und er-
trinktineinem See bei Berlin. Er dichtet,
aber nur für die Schublade. SeineFirma
geht inKonkurs,genauso wie bisher seine
Beziehungen gescheitert sind. Die letzte
ist die mit derRecheneinheit Beata,die er
auf der Strasse aufgelesen hat.


Beata ist eine «Gebrauchte» und kann
denBedürfnissenLennards auf ideale
Weise entgegenkommen. Ihre Speziali-
tät ist Hackbraten, aber Lennard will ihr
auch noch dasKüssen beibringen.Rät-
selhaft ist sein SelbstmordimSee,aber
dieser setzteineKettenreaktion in Gang.
Die Stadt leidet unter einer hohen Suizid-
rate, und weil es so viele tote und immer
weniger lebende Menschen gibt,kommt
niemand mehrfür die Bestattungskosten
auf.Ein finanzielles Problem, das man
durch ein eigenes Suizid-Dezernat der
Polizei lösen möchte.
Kommissariate fahnden nach Ange-
hörigen. Der humane Bot, kurz «Hubot»,
namensRoberta ist die erste Maschine,
die für dieseArbeit eingesetzt wird.Wie
sich zeigt, geht sie ihrerAufgabe mit
grösster Präzision nach. Und mit psy-
chologischemFeingefühl. Roberta eig-
net sich menschlicheWesenszüge an. Sie
wird zu einem schillernden Mischwesen
mit eigenemWillen und löst denFall auf
ihre Weise. Zwischen Berlin und der deut-
schen Provinz liegt eine verwickelteFami-

lien geschichte, und esrollen sich Genea-
logien auf, in denen künstliche Intelligen-
zen schon länger eineRolle spielen.

Technik statt Evolution


NatürlichesWesen oder Maschine?Das
ist dieFrage, die sich nicht nur stellt,
wenn sich ein gewisserPedroAlmodóvar
unter dasPersonal mischt,sondern selbst
Pudelkönnen Produkte derFirmenYou-
botlove oder Intellabour GmbH sein.
Eine ganze Industrie arbeitet daran,ihre
Ware auf soraff inierteWeise echt wir-
ken zu lassen, dassselbst der Begriff der
Wahrheitobsolet erscheint. Und das ist
der Punkt, an dem dieser überaus kluge
Roman in etwas ganz grundsätzlich Phi-
losophisches übergeht.
Wenn alles Denkmögliche wirklich
werden kann, dann befinden wir uns
längst nicht mehr auf dem Boden der
biologischen Evolution, sondern in tech-
nischen Übergangsstadien. Zur Zeit, in
der Emma BraslavskysRoman spielt,
besteht schon die Hälfte der Bevölke-

rung ausRechnereinheiten. Die Hubots
werden von ihren Herstellern immer
weiter perfektioniert, und siekönnen
sich auch selbst updaten. Und sie spie-
len sich Gefühlssoftware auf, die ihrem
Vorbild, den menschlichen Emotionen,
weit überlegen ist.
Hubots nämlichkönnen sich gegen-
seitig auslesen. Sie verstehen einan-
der, weil ihre Operationen frei sind von
Störgeräuschen wie Misstrauen, Neid
oder Eitelkeit. Erinnerungen und Er-
fahrungen sindDateien, die das Gegen-
über ohne Mühe öffnen kann.Für den
schlimmstenFall emotionaler Über-
hitzung haben dieRechnereinheiten
eigene«Deeskalationsskripte».
Emma Braslavsky hat in ihrem letz-
ten Roman, «Leben istkeine Art, mit
einemTier umzugehen», eine düstere
Dystopie entworfen.Jetzt werden die
Bälle zwischen Mensch und Maschine
ve rgleichsweise leicht hin- und herge-
spielt. Sie sieht in dem einen ein Ergeb-
nis biochemischer Algorithmen und im
anderen einePerfektionierung algorith-

mischerVorgänge. Warum sollte sich
nicht beides aufs Beste vereinen lassen?
«Die Nachtwarbleich, die Lichter
blinkten» spart auch nicht aus, was bei
denVersuchen, aus beidem eins zu ma-
chen, noch knirscht. DerRoman wird
zur Komödie, wennRoberta in den Nie-
derungen des Erotischen landet und es
sich erst einmal auf ihreWeise zu erklä-
ren versucht: «Erotik ist eine mächtige
Konstante, sie ist ein fehlender formel-
zeichenloserFaktor in den bioinforma-
tischen Lebensbeschreibungsversuchen,
si e lässt sich mitkeiner physikalischen
Kraftrestlos beschreiben.»Da sind sie
noch, die Unterschiede zwischen den
Menschen und den humanoidenRobo-
tern, und es wäre eine Ironie der Schöp-
fun g, wenn am Ende von allen Unter-
schieden nur noch der eine bliebe.

Der Mensch wirdüberflüssig


Technisch gesehen, ist man sich in «Die
Nacht war bleich» schon ziemlich ähn-
lich. Man trinkt Kaffee gemeinsam und
teilt dieTatsachekörperlicher Problem-
zonen.Auch Roboter haben Sehnsüchte,
was groteskeFolgen haben kann.Und sie
sind empathisch.Dass das Unglück des
Menschen mit seinem Blick in den Spiegel
beginnt,behauptet Emma Braslavsky mit
gutem Grund. Der Narzissmus und die
«Selbsterfindungsindustrie» gehen Hand
in Hand.Am Ende gibt es vielleicht nicht
nur leblose Gummipuppen als Gegen-
über, sondern etwas ganz anderes.
Braslavsky hat einenRoman geschrie-
ben, der seinen Plot schon deshalb nicht
allzu ernst nehmen muss, weil dieser
bloss dasVehikel für etwas sehrDurch-
dachtes ist: für dieVision einer Zukunft,
in derRoboter nicht mehr allein techni-
scheAufgaben übernehmen,sondern in
der die künstliche Intelligenz auch noch
den Menschen in seiner Selbstoptimie-
rung unterstützt.Das allerdings mit fata-
len Folgen. Indem sie von ihren Erzeu-
gern vermenschlicht werden,erfüllen die
«Recheneinheiten» die Bedürfnisse der
Kunden immer besser.
Je mehr sie daskönnen, umso über-
flüssiger wird der Mensch selbst. Bras-
lavsky macht aus alledem ein Endzeit-
szenario, in dem die letzten Gefühls-
zuckungen der Menschen auf die Strom-
stösse der digitalisiertenWelt treffen.
DieRoboter schlafen auf ihrenLade-
kissen, und damit ist vielleicht eines der
idyllischsten Bilder für die neuen Zeiten
gefunden. Der Schlaf dieser neuenVer-
nunft gebiert Ungeheuer.Ausgeschla-
fene künstliche Intelligenzen, die über
uns Menschen nur müde lächeln.

Emma Bra slavsky: Di e Nacht war bleich, die
Lichter blinkten. Roman. Suhrkamp-Verlag,
Berl in 2019. 270S., Fr. 34.90.

Wohnen muss auch eine Unbehauste


Lucia Berlin zeichnet die Topografie ihres Lebens


ANGELA SCHADER


DerRuf «Mehr Licht!», der Goethe als
letztesWort in den Mund gelegt wurde,
ist vielleicht eher Dichtung alsWahrheit.
Aber wie steht es um eine Schriftstellerin,
die «Licht» gleich als das ersteWort rekla-
miert, das sie als Kleinkind aussprach?
Die Elternhätten es ihr so erzählt, notiert
LuciaBerlin zu Beginn von«Welcome
Home» – der skizzenhaften, anhand ihrer
häufig wechselndenWohnorte aufgeroll-
ten Lebenserzählung, die dann irgendwo
mitten im Satz abreisst. «Dieses letzte
Kapitel war unvollendet, als Lucia Berlin
starb», heisstesinder Fussnote.
Weniger Licht als in jener finalenPas-
sage kann nicht sein. Sie zeigt die ame-
rikanische Schriftstellerin mit ihrem
heroinsüchtigen Mann und drei Söhnen



  • der kleinste kaum aus denWindeln –
    auf einerAutoreise durchLateinamerika;
    Dengue-Fieber schüttelt die Buben, die
    Drogen sind alle, der Mannkrümmt sich
    in Krämpfen auf dem Beifahrersitz, als


Unterschlupf für die Nacht findet sich
einzig ein verdreckter, von Fäkalge-
rüchengesättigter Schuppen.

Sensibel undkantig-brillant


Die Szene lag vierzigJahre zurück, als
die Autorin sie kurz vor ihremTod im
Jahr 2004 festhielt; aber sie fasst wie ein
Brennglas Dinge, die ihr Leben überJahr-
zehnte beschwerten. Ortlosigkeit, Un-
sicherheit; Sucht – zur fremden sollte die
ei genekommen; und dabei dieVerant-
wortung für die Kinder, die sieim bes-
serenFall als Lehrerin, im schlechteren
als Putzfrau oder Spitalhelferin durch-
brachte.Aus dieser Existenz,die ihre lite-
rarischen Ambitionen lange ins zweite
Glied verwies, schöpfte Berlin ihre Er-
zählstoffe; in den letztenJahren hat man
die zugleich hochsensible und kantig-
brillante Schriftstellerin wiederentdeckt,
mit ihrenKurzgeschichtensammlungen
«Was ich sonst noch verpasst habe» und
«Was wirst du tun,wenn du gehst?» wurde

sie auch hierzulande bekannt.Aus dem
neuen, mitFotografien und einerAus-
wahl von Briefen ergänzten Buch lassen
sich Querverbindungen zu einzelnen Sto-
rys ziehen;zugleich schafft die Schriftstel-
lerin im schnell getakteten Rhythmus von
«Welcome Home» – dieTexte sind eine bis
vier Seiten lang – ein Mass anKontinui-
tät undFokus, indem sie die Hütten und
Villen, Häuser undWohnungenRevue
passieren lässt,in denen sie lebte. Einmal
setzen Gerüche den Akzent, andernorts
Farben;im mexikanischenYelapa, einem
der Orterare n, befristeten Glücks, lebt
die Familiein einem luftigen, weitgehend
offenen Gebilde mitPalmdach und Sand-
boden, durch dessen Deckenluken man
die Sterne sieht und das treffend «la barca
delailusión» genanntwird.
Das knappeFormat zeigt Berlin pas-
sagenweise in Hochform. Etwa auf den
zwei Seiten, die ihre kurze erste Ehe mit
dem BildhauerPaul Suttman fixieren –
einem wahrhaft gnadenlosen Ästheten,
derAnstoss an der Stupsnase seiner (auf-

fallend hübschen) Gattin nahm,ihreKör-
perteileroutinemässig «ordnete», wenn
man imRestaurant sass, und sich emp-
fahl, als das zweite Kind unterwegs war:
«Paul sagte, für ihn bestände die einzige
Lösung darin, zu gehen, also ginger. Er
hatte ein Stipendium,eine Mäzenin,eine
Villa, eine Giesserei in Florenz und eine
neueFreundin mit einer geraden Nase.»

Eine andere Stimme


Frappant ist derKontrast zwischen die-
ser radikalen erzählerischen Ökonomie
und den Briefen der Schriftstellerin. Sie
stammen aus denJahren1944 bis1965,
decken also – mitAusnahme der ers-
ten Lebensjahre – ungefähr denselben
Zeitraum ab wie dieautobiografischen
Prosastücke von«Welcome Home».
Als Briefschreiberin wirkt Berlin oft
sprunghaft, erratisch: eheraus Kokett e-
ri e, wenn sie als Siebzehnjährige einer
Schulfreundin einen auf cool und lässig
getrimmten, mitreichlichAuslassungs-

punktengespicktenLagebericht schickt;
aus einer hart niedergerungenenVer-
letztheit heraus, wenn sie sich zu den
Kommentaren äussert, mit denen ein be-
freundeter Schriftsteller auf ein Manu-
skript von ihrer Handreagiert hatte.
«Jedenfalls, ja, es war eine‹Hilfe›.Wow.
Danke dir», heisst es dort:So spricht man
mit jemandem, der einem denKopf unter
Wasser drückt und einen dann, schon
halb bewusstlos, gnädig wieder hochzieht.
Die Lebensumstände haben Lucia
Berlins Œuvre schmal gehalten; aber
die literarische wie auch menschliche
Präsenz ihrerTexte sichern den Er-
zählbänden einen festen Platz auf dem
Bücherregal. Ein Buch, das neue und
unmittelbare Einblicke in ihr Leben
und Schaffen bietet, stellt man –Wel-
come home! – mitFreuden dazu.

Lucia Berlin: Welcom e Home. Erinne rungen,
Bilder un d Briefe. Aus dem amerikanischen
Englisch von Antje Rávi k Strubel. Kampa-Ver-
lag, Züri ch 2019. 207S., Fr. 32.5 0.

Wo hört der Menschauf,und wo beginntdieMaschine? Bald verschwinden die Grenzen, da sie unerheblichsein werden. ALEXANDER DEMIANCHUK / GETTY

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