Stammesdenken ausgerichtet. Die univer-
salistische Einstellung der Aufklärung ist
den Menschen nicht mitgegeben, sie ist
eine kulturelle Errungenschaft. Es sind gro-
ße Investitionen in Bildung, Erziehung
und Wissen notwendig, um in einem uni-
versellen Rahmen zu denken, auch wenn
heute klar ersichtlich ist, dass sich Heraus-
forderungen wie Klimawandel und Migra-
tion nicht mehr auf nationaler Ebene be-
wältigen lassen. Erst wenn das Globale,
das weit weg und abstrakt scheint, den
konkreten Lebensalltag erreicht, kommt
der Prozess des Umdenkens in Gang.
SPIEGEL:Und das kann uns überfordern.
Strenger:Das ist jedenfalls der zentrale
Konfliktpunkt. In den Stamm der neuen
liberalen Kosmopoliten wird niemand ein-
fach so hineingeboren. Es handelt sich viel-
mehr um ein meritokratisches, auf Leis-
tung, Erfolg und erworbener Anerken-
nung beruhendes System. Ich bin das beste
Beispiel. Wir sitzen hier in meinem Büro
an der Universität von Tel Aviv. Geboren
bin ich in der Schweiz. Aber wenn Sie
mich fragen, wo ich eigentlich wirklich zu
Hause sei, werde ich Ihnen sagen: in dem
internationalen Netzwerk, das meine Pro-
fession und meine Interessen umspannt
und für diese Anliegen kämpft.
SPIEGEL: Müssen wir lernen, auf zwei Ebe-
nen zu fühlen, zu denken und zu handeln:
der persönlichen Empathie, die immer erst
dem engen Umfeld gilt, und der globalen
Verantwortung für das Überleben der
Menschheit?
Strenger:Es kommt darauf an, einen Aus-
gleich zwischen Universalismus und Kom-
munitarismus zu finden. Die Verachtung
der Eliten hat dann ein Ende, wenn man
auf ihre Expertise angewiesen ist, etwa auf
einen vorzüglichen Chirurgen, Ingenieur
oder Architekten. Im Sport werden die
Besten bejubelt.
SPIEGEL:Die Rehabilitation der Eliten er-
folgt über ihren Nutzwert? Nicht über eine
angenommene moralische Überlegenheit?
Strenger:Arroganz, ob real oder imagi-
niert, ist sicherlich ein wichtiger Faktor im
gestörten Verhältnis zu den liberalen Eli-
ten. Ich möchte aber moralische und tech-
nische oder wissenschaftliche Kompetenz
nicht trennen. Mediziner treffen immer
wieder auch moralische Entscheidungen.
Jede Institution und jeder Beruf haben ihr
Ethos. Durch das bessere Wissen eines Ex-
perten fühle ich mich nicht gedemütigt. Ich
fühle mich aber sehr wohl gedemütigt und
zurückgesetzt, wenn ich den Eindruck be-
komme, nirgendwo mehr gehört zu wer-
den oder mitreden zu dürfen.
SPIEGEL:Forderungen nach besserer Bil-
dung werden aber kaum ausreichen, um
die liberale Demokratie mit neuem Leben
zu füllen. Populistische Führer gehören
meistens selbst zur Bildungselite.
Strenger:Ich behaupte ja nicht, dass es
ein Allheilmittel gibt. Aber es gibt Zeichen
der Hoffnung: die Schlappe von Erdoğans
Partei bei der Bürgermeisterwahl in Istan-
bul. Der Aufstieg der Grünen, die ihre ro-
mantische Phase hinter sich gelassen ha-
ben. Das zeugt in vielen Ländern von ei-
nem Umdenken. Das Engagement junger
Menschen gegen den Klimawandel bringt
eine neue Frische in die politische Debatte.
Sie stemmen sich Resignation und Defä-
tismus entgegen. Sie beweisen Kampfgeist.
Die liberalen Eliten müssen sich ins Ge-
tümmel mischen und die Unwahrheiten
der Populisten überall im öffentlichen
Raum entlarven.
SPIEGEL:Sie geben den Kampf nicht ver-
loren?
Strenger:Ich bin grundsätzlich eher pes-
simistisch, und die Pessimisten behalten
meistens recht, das ließe sich wahrschein-
lich statistisch nachweisen. Das Pendel der
Geschichte schwingt derzeit nun mal ge-
gen den Liberalismus. Meine Stimmung
kann man mit einem Zitat des italienischen
Schriftstellers Antonio Gramsci zusam-
menfassen: Pessimismus des Verstandes,
Optimismus des Willens. Aber wenn wir
liberalen Kosmopoliten nicht den Mut und
das Stehvermögen aufbringen, unseren
Beitrag zur Verteidigung unserer freiheit-
lichen Werte zu leisten und auf eine erneu-
te Wende der Geschichte hinzuarbeiten,
werden wir auf lange Zeit überhaupt nicht
mehr daran arbeiten können, die Welt zu
einem besseren Ort zu machen.
SPIEGEL:Herr Strenger, wir danken Ihnen
für dieses Gespräch.
DER SPIEGEL Nr. 33 / 10. 8. 2019 111
GUY BELL / REX FEATURES
Umweltaktivistin in London: »Sie beweisen Kampfgeist«