118 DER SPIEGEL Nr. 34 / 17. 8. 2019
Kultur
S
ie haben strahlende, unversehrte, pflaumenweiche
Gesichter, doch wenn die Jungs mit ihren Schießwerk-
zeugen losballern, dann ist das kein Spiel, sondern mör-
derischer Ernst. Das ist der Gegensatz, aus dem der Film
»Paranza – Der Clan der Kinder« seinen Reiz bezieht. Der
Regisseur Claudio Giovannesi hat sich Laiendarsteller aus
den ärmeren Stadtvierteln Neapels zusammengesucht, sie
auf Mopeds und Motorroller gesetzt und in eine Geschichte
sausen lassen, die keine großen Umwege kennt. In der ersten
Szene klauen die jungen Helden einen großen Weihnachts-
baum aus einer Luxuseinkaufspassage im Stadtzentrum. In
der Mitte des Films befördern sie aus einem Sack ein halbes
Dutzend Maschinenpistolen ans Licht, wozu einer der Jungs
jubelt: »Jetzt ist Weihnachten!«
»Paranza – Der Clan der Kinder« ist die Verfilmung eines
Buchs von Roberto Saviano. Saviano hat 2006 das epochale
Werk »Gomorrha« veröffentlicht, ein gut recherchiertes und
vielfach preisgekröntes Porträt der neapolitanischen Mafia.
Es schildert nicht bloß die hässliche Gangsterpraxis aus
Schutzgelderpressung, Drogenhandel, Bauspekulation und
Mord, sondern macht auch zahlreiche Hintermänner, Geld-
wäscher und politische Unterstützer der Mafia kenntlich. Der
Autor Saviano wurde durch »Gomorrha« weltberühmt, für
die Kinoversion aus dem Jahr 2008 schrieb er das Drehbuch,
seit 2014 läuft eine auch international höchst erfolgreiche
»Gomorrha«-Serie. Saviano wird jedoch mit dem Tod be-
droht und steht bis heute unter Polizeischutz. Trotzdem
macht er mit seiner Enthüllungsarbeit weiter.
Der auf Recherchen beruhende Roman »Der Clan der Kin-
der« ist 2016 erschienen. Er erzählt nicht nur davon, dass
zahlreiche Helfer und Killer der aktuell in Neapel herrschen-
den Mafiachefs noch im Jugendalter sind. Saviano berichtet
auch, dass in jüngster Zeit viele der jungen Menschen, die
oft unerklärlich grausame Taten begingen, nicht mehr aus
Familien mit einer kriminellen Tradition stammten, sondern
aus nahezu bürgerlichen Milieus. Am Drehbuch zu Giovan-
nesis Film hat Saviano mitgeschrieben. »Gewalt entsteht
ohne jedes Ziel, ohne jeden Zweck«, notiert er im Presseheft.
»Sie ist die Antwort auf eine beinah vollkommene Leere, die
nicht nur fühlbar, sondern greifbar ist.«
Der Film berichtet vom steilen Aufstieg und jähen Fall des
15-jährigen Jungen Nicola (Francesco Di Napoli), der zu-
nächst als Drogenlaufbursche ins Mafiageschäft einsteigt und
dann mit einem halben Dutzend Freunden auf
die blutige Machtergreifung im Viertel sinnt.
In ihrer Freizeit vergnügen sich die Jungs aus
Nicolas Gang beim Koksen oder stundenlan-
gen Hantieren mit Ballerspielkonsolen. Einmal
sehen sie in einem Klub hingerissen dabei zu,
wie ein paar Mädchen ihres Alters sich wäh-
rend eines Schönheitswettbewerbs von einem
lachhaften Juror begutachten lassen. Niemals
bekommt einer der Jungs seinen Vater zu Ge-
sicht. Nicolas Mutter betreibt eine Reinigung;
dass der Junge einmal behauptet, er wolle vor
allem dafür sorgen, dass sie kein Schutzgeld
mehr bezahlen müsse, ist einer der schwäche-
ren Einfälle des Drehbuchs.
Giovannesis Film lief im Februar im Wett-
bewerb der Berlinale und ist damals nicht be-
sonders gut weggekommen bei den Festival-
kritikern – weil er sich weniger darum bemüht,
originelle Bilder zu finden, als mit frischen Ge-
sichtern eine alte Geschichte neu zu erzählen.
Statt auf schroffe, verstörende Kinokunst legt
es der Regisseur Giovannesi eher auf einen for-
mal konventionellen, aber oft rasanten Realis-
mus an. Man sieht den Helden Nicola mit seinem geliebten
kleinen Bruder im Stockbett eines Kinderschlafzimmers von
fernen Reichtümern schwärmen. Man bestaunt die jungen
Draufgänger bei Mopedjagden durch die malerisch verlot-
terten Altstadtgassen Neapels. Und man lacht über den vom
Gericht unter Hausarrest gestellten Mafiaboss, der seine Gäs-
te aus Sicherheitsgründen nur empfängt, wenn sie sich bis
auf die Unterhose entkleidet haben.
»Hüte dich, deine Feinde zu hassen, denn es trübt dein Ur-
teilsvermögen«, lautet ein berühmter Satz aus Francis Ford
Coppolas Klassiker »Der Pate«. Tatsächlich ist das Verblüf-
fendste an Giovannesis oft märchenhaft schön anzusehender
Mafiageschichte, dass die Nachwuchsgangster ohne große
Emotionen vorzugehen scheinen bei ihren Revierkämpfen
und Exekutionen. Sie prügeln und schießen mit einer beiläu-
figen Selbstverständlichkeit, als folgten sie einer fatalen Spur,
die lange vor ihrer Geburt markiert worden ist. Sie scheinen
zu jung zu sein, um Angst zu empfinden; und doch steckt
tief in ihren unreifen Gangstergehirnen das Wissen, dass jeder
Sieg bloß eine kurze Rast bedeutet. In ir-
gendeinem Winkel von Neapel wird sich
garantiert eine neue Gang aus jungen Bur-
schen zusammenrotten, die den Mafia -
königen von heute den Krieg erklärt.
In seinen besten Momenten blickt »Pa-
ranza – Der Clan der Kinder« voller Trauer
auf die Ahnungslosigkeit der Helden. Ein
einziges Mal schafft es Nicola mit dem Mäd-
chen, in das er sich verliebt hat, ans Meer.
Während der Junge sich in einem Liege-
stuhl ausruht, sieht er dem Mädchen dabei
zu, wie es allein im Sand tanzt. Die reine,
selbstvergessene Kinderei.Wolfgang Höbel
Die Killerkinder
Filmkritik»Paranza«, die Verfilmung
eines Buchs von Roberto Saviano,
erzählt vom Mafianachwuchs Neapels.
PROKINO
Darsteller Di Napoli, Pasquale Marotta: Jeder Sieg ist nur eine kurze Rast
Kinostart: 22. August
Video
Ausschnitte
aus
»Paranza«
spiegel.de/
sp342019kritik
oder in der App
DER SPIEGEL