Der Spiegel - 17. August 2019

(Ron) #1

der Wahlkreise halbieren, und pro Wahl-
kreis müsste dann jede Partei einen Mann
und eine Frau aufstellen, die beide gewählt
werden. Besser wäre aber folgendes Mo-
dell: Man lässt die Wahlkreise so, wie sie
sind, verpflichtet aber jede Partei, sowohl
einen Mann als auch eine Frau als Direkt-
kandidaten aufzustellen. Der Wähler ent-
scheidet dann, wen er bevorzugt.
SPIEGEL:Der jüngste Rückgang weib -
licher Unionsabgeordneter ist auch eine
Bilanz der Ära Merkel. Kann es sein, dass
die erste deutsche Kanzlerin unterm Strich
für die Frauenförderung ein Hemmnis
war? Weil die Männer immer sagen konn-
ten: »Wir haben ja schon eine Frau an der
Spitze, jetzt übertreibt mal nicht«?
Motschmann:Wie oft ich diesen Satz
gehört habe, kann ich Ihnen gar nicht sa-
gen. Immer hieß es: »Mehr als Bundes-
kanzlerin geht doch nicht. Da seht ihr’s
doch: Ihr habt alle Chancen!« Das ist na-
türlich Unfug. Die gläserne Decke ist im-
mer noch da, und die müssen wir nach und
nach weiter durchstoßen. Wenn ich mir
nur die Riege der Staatssekretäre angucke:
In der Geschichte der Bundesrepublik wur-
den bisher 692 beamtete Staatssekretäre
ernannt. 19 davon waren Frauen. Es gab
in den 70 Jahren der Bundesrepublik sogar
mehr Staatssekretäre, die »Hans« hießen,
als Frauen. Wenn Sie in Ministerien gehen,
in den Ländern, im Bund, sehen Sie als
Erstes diese Ahnengalerien: auch da fast
alles Männer.
SPIEGEL:Kurz nachdem Horst Seehofer
Innenminister geworden war, gab es ein
Foto von ihm und der Führungsspitze seines
Hauses. Darauf: neun Männer, keine Frau.
Motschmann: Dieses Bild zeigt die
Realität. Weil es noch nicht mal ein Pro-
blembewusstsein gab, weder beim Foto-
grafen noch bei den Fotografierten. Die
Män ner stellen sich gern vor die Kamera,
oft drängen sie Frauen ab. Ich musste auch
manchmal darauf bestehen, dass ich mit
aufs Bild durfte. Dann heißt es aber
gleich: Die ist extrem ehrgeizig, oder: Die
will nur in die Presse. Bei Männern ist das
kein Problem.
SPIEGEL:Täuscht der Eindruck, oder war
die Förderung von Frauen nie ein primäres
Ziel von Angela Merkel? Auch die Nomi-
nierung von Ursula von der Leyen als EU-
Kommissionschefin war ja keinesfalls ein
Anliegen von ihr, eher ein Zufallsprodukt.
Motschmann:Ich gebe zu: Die Förderung
von Frauen war nicht ihr primäres Thema.
Sie hatte andere Schwerpunkte. Trotzdem
ist Angela Merkel durch ihr Amt ein gro-
ßes Vorbild für uns Frauen. Den Kampf
für mehr Frauen im Parlament müssen
andere Frauen führen.
SPIEGEL:Wie sehen Sie die frauenpoliti-
sche Bilanz von Angela Merkel?
Motschmann:Immerhin ist das Kabinett
zur Hälfte mit Frauen besetzt.


SPIEGEL:Ja, jetzt, im vierten Kabinett Mer-
kel. Was wäre gewesen, wenn sie von An-
fang an gesagt hätte: Ich stelle dieses wichtige
Thema Frauen in den Vordergrund, das ist
mir ein Anliegen? So, wie es Justin Trudeau
in Kanada getan hat, der zum Amtsantritt
50 Prozent Frauen in sein Kabinett holte?
Motschmann:Als Merkel anfing, war das
gesellschaftliche Klima noch ein anderes.
Und es ist auch jetzt noch nicht so, dass
alle jubeln, wenn wir Frauen selbstbewusst
mehr Mandate einfordern. Aber ich gebe
zu, dass Angela Merkel in diesem Punkt
keine Vorreiterin war.
SPIEGEL:Hat sie sich nicht getraut?
Motschmann:Sie kommt aus der DDR,
das darf man nie vergessen. Da hatten
Frauen politisch wenig zu sagen. Ausnah-
me: Margot Honecker. Das prägt. Angela
Merkel hat vieles richtig gemacht. Dass
die Frauenförderung bei ihr zunächst nicht
an erster Stelle stand, finde ich nachvoll-
ziehbar.
SPIEGEL:Merkel hat sich nie selbst für die
Frauenquote eingesetzt. Und das Rück-
kehrrecht von Teilzeit auf Vollzeit musste
von der SPD erstritten werden – gegen die
CDU und Angela Merkel.
Motschmann:Das stimmt. Aber als CDU-
Frau weiß ich, dass wir immer auch das
Augenmaß behalten müssen. Wir müssen
sehen, was die Wirtschaft verkraftet und
was nicht. Wir haben der Wirtschaft in den
vergangenen Jahren sehr viele Auflagen
gemacht. Denken Sie nur an den Mindest-
lohn. Wir müssen unseren Feminismus mit
Augenmaß leben. Wenn wir es nicht tun,
haben wir sofort eine Front gegen uns und
bleiben stehen.
SPIEGEL:Komisch, einerseits plädieren
Sie dafür, dass Frauen, die Kinder bekom-
men, aufpassen sollen, dass ihnen die Kar-
rieren nicht kaputtgehen. Und andererseits
kommen Sie jetzt mit den Interessen der
Wirtschaft.
Motschmann:Ich sage nur: Wir dürfen
das nicht aus den Augen verlieren. Für al-

* Christiane Hoffmann und Markus Feldenkirchen in
Motschmanns Bundestagsbüro.

les, was wir wollen, müssen wir Mehr -
heiten finden.
SPIEGEL:Feminismus mit Augenmaß also?
Motschmann: Genau so. Wir wollen die
Männer ja auch nicht alle wegfegen.
SPIEGEL:Müssen Sie als späte Feministin
rückblickend sagen: Meine alte Kontrahen-
tin Alice Schwarzer hatte recht?
Motschmann:In vielen Punkten ja, aber
nicht in allen. Mich hat gestört, dass
sie Frauen, die zu Hause geblieben sind
und sich um ihre Kinder gekümmert ha-
ben, als dümmliche Heimchen am Herd,
gefangen im häuslichen Getto, diffamiert
hat. Schwarzer war natürlich viel, viel
radikaler in ihren jüngeren Jahren. Mir
widerstrebt, dass sie ihren sehr intensiven
Feminismus mit der Abtreibungsfrage ver-
bindet.
SPIEGEL:Das Recht auf Abtreibung ist für
viele Frauen auch heute immens wichtig,
das hat nicht zuletzt die Kontroverse um
das Werbeverbot für Schwangerschaftsab-
brüche gezeigt. Sind Sie auch in dieser Hin-
sicht zur Feministin geworden?
Motschmann:Nein. Ich finde es auch heu-
te noch traurig, dass wir circa 100 000 Ab-
treibungen im Jahr haben. Ich urteile über
keine einzige Frau, die abtreibt, und ich
stehe zur Indikationsregelung, die wir ha-
ben. Spätabtreibungen oder eine schlei-
chende Ausweitung der Abtreibungspraxis
sind für mich ein Tabu.
SPIEGEL:Gerade junge Feministinnen
fordern heute die Komplettabschaffung
des Abtreibungsparagrafen. Ihr Argument:
Echte Gleichberechtigung kann es nur
geben, wenn wir völlige Verfügung über
unseren eigenen Körper haben und uns
nicht von Männern vorschreiben lassen,
wann wir abtreiben dürfen und wann
nicht.
Motschmann:Diese Art von Feminismus
teile ich ausdrücklich nicht. Es gibt heute
gute Mittel, eine Schwangerschaft zu ver-
hüten. Man sollte sich rechtzeitig Gedan-
ken machen und so verantwortlich han-
deln. Und das Lebensrecht des Kindes hat
für mich den gleichen Wert wie die Selbst-
verwirklichung der Frau. Ich bin in vieler-
lei Hinsicht zur Feministin geworden, aber
Abtreibungsbefürworterin? Nein, nein,
nein.
SPIEGEL:Großen Ärger hatten Sie früher
auch mit den theologischen Feministinnen
der evangelischen Kirche. Glauben Sie in-
zwischen auch, dass Gott weiblich ist?
Motschmann:Nee, das geht zu weit. An
der Stelle hört’s bei mir auf.
SPIEGEL:Es bleibt also bei »Vater unser«?
Motschmann:Ja, wenn es um Gottes
Wort geht, hat gendergerechte Sprache
nichts zu suchen. An der biblischen Spra-
che sollte man nicht herumzubasteln.
SPIEGEL:Frau Motschmann, wir danken
Ihnen für dieses Gespräch.

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Deutschland

STEFFEN ROTH / DER SPIEGEL
Motschmann, SPIEGEL-Redakteure*
»Wir wollen nicht alle Männer wegfegen«
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