Der Spiegel - 17. August 2019

(Ron) #1
In Obhut
Kinder und Jugendliche in vor-
läufigen Schutzmaßnahmen
in Deutschland

Quelle: Destatis

2010
36 343

2010
6247

2017
61 383

2017
9996

davon
Unterbringung bei einer
geeigneten Person

davon ein
Großteil
unbe-
gleitete
minder-
jährige
Flüchtlinge

Übrige werden in Einrichtungen und
sonstigen betreuten Wohnformen
untergebracht.

43

Jetzt hofft Möller, dass Niklas noch vor
seinem dritten Geburtstag in eine Familie
kommt, in der er bleiben kann. »Mich
macht das so wütend«, sagt sie.
Sie selbst kann sich nicht vorstellen, ein
Kind dauerhaft bei sich aufzunehmen. Sie
will denen helfen, die es dringend nötig
haben – ihre eigene Familie aber sei schon
komplett, sagt Möller.
Die Sozialpädagogin Corinna Petri ar-
beitet an der Universität Siegen in den For-
schungsgruppen Pflegekinder und Heim-
erziehung. Von 2014 bis 2016 leitete sie
mit ihrer Kollegin Judith Pierlings das
»Modellprojekt Bereitschaftspflege«: Sie
untersuchten, wie Kinder kürzer in der Be-
reitschaftspflege verweilen könnten.
Zwei Jahre lang führte Petri Interviews
mit Pflegefamilien, Familienrichtern und
Mitarbeitern von Jugendämtern. Ihre Er-
gebnisse waren erschreckend.
In den untersuchten Fällen fehlte es an
Strukturen, um Eltern, Pflegefamilien und
Fachkräfte so zu vernetzen, dass sie regel-
mäßig Informationen austauschten. »Fälle
dürfen nicht einfach vor sich hinplätschern,
weil das Kind ja erst mal gut untergebracht
ist«, sagt Petri. Sie empfiehlt, alle Akteure
regelmäßig zusammenzubringen, damit das
Wohl des Kindes nicht aus dem Fokus gera-
te. Wichtig sei auch, die Pflegeeltern in den
Prozess einzubeziehen. Das passiere bisher
noch zu selten. Dabei würden gerade sie
das Kind und seine Bedürfnisse besonders
gut kennen.
Ein weiteres Problem: Auch wenn
schließlich entschieden ist, dass das Kind
dauerhaft in einer Pflegefamilie leben soll,
fehlt es an Plätzen.
Eigentlich, so sagt es Nadine Möller über
sich, wolle sie einfach ein guter Mensch
sein. Für die Betreuung der
Pflegekinder gab sie ihren
Job auf, anders hätte sie
nicht der Verpflichtung nach-
kommen können, sich rund
um die Uhr um Niklas zu
kümmern. Sie darf ihn nicht
allein mit Fremden in einem
Raum lassen oder ihn in
eine Kita geben. Braucht sie
eine Pause, muss sie dafür
einen vom Jugendamt ge-
nehmigten Betreuer stun-
denweise anstellen – auf ei-
gene Kosten. Dafür erhält
Möller 1400 Euro im Mo-
nat, mit denen sie auch
sämtliche Ausgaben für
Niklas decken muss.
Gegen die Vorgaben der
Behörden kann Möller
nichts unternehmen, selbst
wenn sie der Meinung ist,
dass sie dem Kind mehr
schaden als nützen. Für
Möller ist die Pflege von


Niklas deshalb eine Belastung. Sie fühlt sich
ausgeliefert, auch weil sie nicht weiß, wie
lange er noch bei ihr bleiben wird. Eine
andere Bereitschaftspflegemutter, Tabea
Pioch aus Burscheid, hat im November
2018 eine Onlinepetition gestartet: »Appell
an die Jugendämter: Schnelle Entscheidun-
gen für das Kindeswohl«. Darin fordert sie
mehr Mitarbeiter in den Jugendämtern und
mehr Richter an den Gerichten.
Der Wortlaut der Gesetze – »vorläufig«
oder »zeitlich befristet« – lasse sich allzu
sehr dehnen, heißt es in der Petition.
»Nicht selten ist die Verweildauer der mit-
unter hoch belasteten oder gar trauma -
tisierten Kinder in unseren ݆bergangs -
familien‹ mehr als ein Jahr!« Das sei
problematisch: »In der praktischen Arbeit
erleben wir, dass spätestens nach sechs bis
neun Monaten die fachliche Distanz da-
hinschmilzt. Das Kind wird innerhalb die-
ser Zeit immer mehr Teil der Familie.« Der
Abschied belaste das Kind umso mehr.
Nadine Möller fährt einmal in der Woche
mit Niklas zum Jugendamt, dort dürfen die
leiblichen Eltern ihren Sohn eine Stunde
lang sehen – unter Aufsicht eines Mitarbei-
ters. Möller ist bei den Treffen nicht dabei.
Nadine Möller weiß nur wenig über die
Eltern, deren Kinder in ihre Obhut kom-
men. Niklas’ Eltern seien gewalttätig gewe-
sen, teilte das Jugendamt ihr mit. Schlug
der Vater die Mutter? Oder die Mutter den
Vater? War Niklas dabei, als es geschah?
Darauf wird Möller wohl keine Antwort er-
halten. Sie soll Niklas’ Eltern möglichst un-
voreingenommen gegenübertreten. Schließ -
lich ist es möglich, dass Möller ihren Schütz-
ling eines Tages an sie zurückgeben muss.
Wenn Nadine Möller nach den Treffen
mit den Eltern wieder mit Niklas nach Hau-
se fahre, fühle sie sich oft
erschlagen, sagt sie. Manch-
mal, da wird es selbst ihr zu
viel, ein guter Mensch zu
sein.
Den Abschied der Pflege -
kinder wolle sie immer so
freudig wie möglich ge -
stalten. »Ich will sie mit ei-
nem Lachen gehen lassen«,
sagt Möller. Sie backt ei nen
Kuchen, ihre leiblichen
Kinder erhalten, im Namen
des Pflegekindes, ein Ge-
schenk.
Für Niklas’ Abschied hat-
te Nadine Möller schon ein-
gekauft, zu Jahresbeginn,
als sie sicher war, dass er
bald dauerhaft in eine Fa-
milie gehen darf. Im Keller
liegt seitdem eine große
Puppe für ihre Tochter Lillie.
Lisa Duhm
Mail: [email protected]

Deutschland

DER SPIEGEL Nr. 34 / 17. 8. 2019

SPIEGEL GESCHICHTE
SAMSTAG, 17. 8., 20.15 – 23.40 UHR | SKY

Der Woodstock-Bus
Woodstock, das berühmteste Festival
der Rockgeschichte, steht für das
Lebensgefühl einer Generation. Und
damals, im August 1969, mittendrin:

ein VW-Bus namens »Light«. Doch
der Bus ist verschollen. Es beginnt
eine Odyssee über Amerikas High -
ways, Nebenstraßen und Schrott -
plätze, um den Bus zu finden und
ihn rechtzeitig zum 50-jährigen
Jubiläum von Woodstock zu restau-
rieren.

SPIEGEL TV
MONTAG, 19. 8., 23.25 – 0.00 UHR | RTL

Rechter Rapper erobert die Charts–
Wer ist Chris Ares?Die Gesichts -
retter– Wie deutsche Ärzte miss -
gebildeten Kindern in Vietnam eine
neue Zukunft geben.

SPIEGEL TV WISSEN
FREITAG, 23. 8., 19.30 – 20.15 UHR | SKY UND
BEI ALLEN FÜHRENDEN KABELNETZBETREIBERN

Profis to go
»Servicewüste Deutschland« war
gestern. Inzwischen machen Dienst-
leistungsanbieter rund 80 Prozent
der deutschen Unternehmen aus.
Seit Jahren wächst die Zielgruppe
derer, die ihre Leistungen auch
mobil anbieten. So wie der mobile
Koch, der das Vier-Gänge-Menü am
heimischen Herd zubereitet, oder
die Personal-Shopperin, die aus Klei-
derschränken ungeahnte Schätze
zutage fördert. SPIEGEL TVüber Ser-
vicetrends aus Deutschland.

ARCADIA ENTERTAINMENT INC.
Restaurierter VW-Bus »Light«
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