Der Spiegel - 17. August 2019

(Ron) #1
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Wirtschaft

D


ie Berliner Ärztin Annette Ehlert-
Gamm und ihr Mann wussten nicht
viel über ihren anstehenden Urlaub.
Wohin es gehen sollte – keine Ahnung.
Wo sie wohnen würden – kein Hinweis.
Fest stand nur, dass sie mit ihren drei Söh-
nen in ein Land reisen würden, in dem es
wärmer wäre als in Deutschland, und dass
sie das Flugzeug nehmen würden.
Die Familie landete in Neapel. Ein
Chauffeur brachte sie in ein Boutiquehotel
im Museumsviertel. Zum Programm ge-
hörten eine alternative Stadtführung in-
klusive eines Besuchs in einem der ärme-
ren Viertel, ein Kochkurs, eine Bootsfahrt,
alles organisiert vom Münchner Touristik-
Start-up »unplanned«.
Rein formal bietet die 2016 gegründete
Firma Pauschalreisen an; doch mit stan-
dardisierter Massenverschickung hat ihr
Angebot wenig zu tun. Es geht um mög-


lichst individuelle Überraschungstrips zu
unbekannten Zielen, oft mit Zusatzleis -
tungen wie Kochkursen, Wein- oder Mut-
proben.
Normalerweise werden bei einer Pau-
schalreise im großen Stil Flugsitze, Hotel-
betten und Transferdienste übers Internet
oder über eigens gedruckte Kataloge ver-
marktet. Nur so, lautet eine tradierte Bran-
chenweisheit, lassen sich die Kosten nied-
rig und die Gewinne hoch halten.
Die Gründer von unplanned, der ehe-
malige Red-Bull-Marketingmanager Chris-
tian Diener, 40, und die Berliner Unter-
nehmensberaterin und Tourismusexpertin
Frauke Schmidt, 45, bieten das Gegenpro-
gramm für all jene, die vom Tourismus -
einerlei angeödet sind – zugleich aber kei-
ne Zeit oder keinen Nerv haben, alles
selbst zu organisieren.
Billig sind die Überraschungstrips
nicht. Das Einsteigerangebot beginnt bei
450 Euro für zwei Nächte inklusive An-
reise per Bahn oder Flugzeug. Zum Paket
gehört ein eigens angefertigtes Travel-
book mit Insidertipps für Ausflüge oder
Restaurants. Das Luxusprogramm kostet
1200 Euro für drei Nächte. Im Preis sind
außer der Unterbringung in luxuriöseren
Hotels Überraschungen wie Ausflüge,
Konzertbesuche oder Naturabenteuer ent-
halten. Rund ein Fünftel der Einnahmen
verbleibt bei unplanned; für Büromiete,
Mitarbeiter und andere Kosten.
Der Erstkontakt findet mindestens vier
Wochen vor Reisebeginn statt. Im Internet

füllen Reisewillige zunächst einen Frage-
bogen aus, etwa zu ihren Vorlieben: »Well-
ness«, »Städtetrip« , »Kunst und Kulina-
rik« oder »Naturerlebnis«. Kunden kön-
nen Ziele, die sie schon kennen und des-
halb nicht infrage kommen, ausschließen.
In einem Telefonat ein paar Tage später
werden die Wünsche präzisiert.
Eine Woche vor dem Start kommt per
Post ein schwarzer, versiegelter Umschlag
mit den Zug- oder Fluginformationen und
Angaben zum Zielort. Nur Spielverderber
öffnen den Brief schon zu diesem Zeit-
punkt. Eigentlich soll er erst am Bahnhof
oder Flughafen aufgerissen werden.
Drei Tage vor der Abreise folgen erste
Hinweise: eine Wettervorhersage für den
Zielort sowie eine Packliste für den Koffer.
»Durch die Digitalisierung geht beim Rei-
sen das Abenteuer verloren, weil man alles
zuvor online anschauen kann«, sagt Die-
ner. Die Tour ins Ungewisse soll das Reisen
wieder spannend machen.
Reklamationen, wie sie bei Großveran-
staltern an der Tagesordnung seien, sagt
Diener, gingen bei ihnen selten ein. Aber
es gebe sie. Enttäuscht war etwa ein Ehe-
paar, das die unplanned-Mitarbeiter ins
britische Seebad Brighton verschickt hat-
ten. Die beiden standen eher auf Groß-
städte. »Aus dem Fragebogen hätte man
das herauslesen können«, räumt Frauke
Schmidt selbstkritisch ein.
Die Gründer waren anfangs selbst skep-
tisch, ob die Idee, Überraschungsreisen an-
zubieten, funktionieren würde. »Der Deut-
sche gibt dir kein Geld, wenn er nicht
genau weiß, was er kriegt, wurden wir
gewarnt«, berichtet Diener. Die Sorge war
offenbar unbegründet. Immerhin gibt es
sogar etliche Mitbewerber. Sie heißen
Wowtrip, Bbacksoon oder Blookery.
Wer sich am Markt durchsetzt, bleibt
abzuwarten. Die Münchner bearbeiten
nach eigenen Angaben im Schnitt rund
fünf Dutzend Reisepakete pro Monat. Um
Ostern oder Weihnachten herum sind es
deutlich mehr. Der Umsatz liegt im sieben-
stelligen Bereich, Tendenz steigend.
Im Durchschnitt sind die Reisenden
33 Jahre alt. Aber Schmidt und Diener ha-
ben auch schon über 70-Jährige betreut.
Eine der ältesten Kundinnen war bislang
die Mutter von Annette Ehlert-Gamm. Die
84-Jährige lud zu Ostern die Großfamilie
zu einer Reise ins Unbekannte ein, alles
in allem zwölf Personen.
Annette Ehlert-Gamm selbst plant be-
reits die nächste Reise, einen Trip mit
Freundinnen unter dem Motto »Kunst und
Kulinarik«. Sie ist mittlerweile Stammkun-
din. »Ich empfinde es als befreiend, die
Planung und Kontrolle abzugeben und ein-
fach etwas mit sich machen zu lassen.«
Dinah Deckstein
Mail: [email protected]

Tour ins


Ungewisse


TourismusEin Münchner
Start-up verkauft Reisen zu
unbekannten Zielen. Die Kunden
erfahren erst wenige Tage vor
Urlaubsbeginn, wohin es geht.

Familie Ehlert-Gamm auf Procida, Italien: Gegenprogramm zum Einerlei
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