Der Standard - 24.08.2019

(lily) #1

DERSTANDARDWOCHENENDE International SA./SO.,24./25.AUGUST2019| 11


Die Italienerinnen und Italiener sind instabile politischeVerhältnissegewöhnt, siegehören fastzuihrem Alltag.
Aber eine Regierungskrise mitten in den hochheiligen Sommerferien?Nein, dasgeht dann doch zuweit!

ANALYSE:Dominik Straub aus Rom

Sie interessieren sich nur für die
Macht und für ihren persönlichen
Vorteil.“ Im Grunde fehle es dem
ganzen Land an politischer Kul-
tur: „Es sind ja wir Italiener, die
diese Parteien wählen: Wir sind
selbst schuld, jedes Land hat die
Politiker, die es verdient.“
Tatsächlich nehmen viele Ita-
liener ihren Staat als etwas Frem-
des, etwas Feindseliges wahr.
Politologen und Historiker inter-
pretieren dieses Misstrauen ge-
meinhin als Folge jahrhunderte-
langer Fremdherrschaft, die im
Süden besonders ausgeprägt war:
Bis zur italienischen Einigung
regierten in den verschiedenen

T


ankwart Aldo hat nur ein
Wort übrig für die aktuelle
politische Krise in Rom:
„Klapsmühle“, sagt er in fast ak-
zentfreiem Deutsch. Dann fällt
ihm auch noch ein anderes deut-
sches Wort ein: „Knalltüten“.
Der 42-jährige Aldo hatte knapp
zehn Jahre lang in Frankfurt als
Maurer gearbeitet, bevor er 2009
in seine Heimat zurückkehrte und
in Sperlonga eine Tankstelle er-
öffnete. Der malerische Badeort
mit seinen langen, hellen Sand-
stränden liegt rund 120 Kilometer
südlich von Rom, auf halbem
Wege nach Neapel, am Tyrrheni-
schen Meer und ist bei gutbetuch-
ten Römern und Neapolitanern
gleichermaßen beliebt.
Sperlonga ist derzeit hoffnungs-
los überfüllt–wie alle italieni-
schen Badeorte im August. Es ist
so gut wie unmöglich, einen Park-
platz zu finden; freie Liegen unter
den Sonnenschirmen der „stabili-
menti“, der typisch italienischen
Strandanlagen mit Eintritt, Bade-
meister, Imbissstand oder Restau-
rant, sind Mangelware.
Vor den „gelaterie“, den Eis-
salons, drängeln sich ab den Mit-
tagsstunden dutzende Badegäste,
und auch wer abends eine Pizza
essen gehen will, braucht Geduld.
Es gäbe viele gute Gründe, die
Strände des Belpaese rund um
Ferragosto zu meiden und seine
Ferien lieber im Juli oder Anfang
September zu planen.
Aber Ferragosto ist eben heilig
in Italien. Doppelt heiligsogar:
Einerseits ist damit der 15. August
gemeint, also das kirchliche Fest
Mariä Himmelfahrt: In Italien ist
das der dritthöchste katholische
Feiertag nach Ostern und Weih-
nachten. Andererseits ist das Wort
hergeleitet von den „feriaeaugus-
ti“–denFerienvonAugustus,dem
berühmten römischen Kaiser.
EineRegierungskriseimAugust
loszutreten, das hat in der lan-
gen Geschichte der politischen
Instabilität Italiens bisher noch
niemand gewagt–bis Lega-Chef
Matteo Salvini kam. Nicht nur die
Parlamentarier, die seinetwegen


ihre Ferien am Strand abbrechen
mussten, sind verärgert. Eigent-
lich ist ganz Italien sauer.
„Unnötig“, „absurd“, „verant-
wortungslos“: Das sind die häu-
figsten Kommentare zur aktuellen
„crisi sotto l’ombrellone“ (Regie-
rungskrise unter dem Sonnen-
schirm), die man am Lido Selvag-
gio von Sperlonga zu hören be-
kommt. Sergio, der Besitzer des
Strandbads, schüttelt den Kopf:
„Wenn Salvini schon seine eigene
Regierung stürzt, dann hätte er
das nach den Europawahlen tun
können, als die Kräfteverhältnisse
zwischen seiner Lega und den
Grillini, seinem Koalitionspart-
ner, auf den Kopf gestellt wurden.
Aber zu Ferragosto? Das ist doch
ein Witz!“
Andererseits: In Italien ist man
Regierungskrisen gewöhnt –sie
gehören irgendwie zum Leben.
Die nächste Regierung, die Staats-
präsident Sergio Mattarella der-
zeit zusammenschustern muss,
wird die 66. der Nachkriegszeit
sein. Das Land hat diesbezüglich
schon allerlei erlebt, unter ande-
rem die „governi balneari“, Bade-
regierungen, die das Land nach
dem Sturz einer Koalition im
Frühsommer durch die Sommer-
ferien führten.
Und gelegentlich war es mit
dem Regieren vorbei, ehe es rich-
tig begonnen hatte: Die erste Re-
gierung des siebenfachen Minis-
terpräsidenten Giulio Andreotti
hielt 1972 nur neun Tage.

Politiker, die man verdient
Den meisten Italienerinnen und
Italienern fällt es deshalb schwer,
die derzeitige Krise besonders
ernst zu nehmen. „Die Lega und
die Fünf Sterne, die als Antisys-
tembewegungen angetreten waren
und einen grundlegenden Wandel
versprochen hatten, haben ge-
zeigt,dass sie kein bisschen bes-
ser sind als die traditionellen
Parteien“, meint die Kinderärztin
Manuela, die sich an der Strand-
bar einen Kaffee genehmigt. „Ih-
nen ist das Wohl des Landes
genauso egal wie den anderen.

Teilen Italiens abwechselnd Spa-
nier, Franzosen und Habsburger –
und auch das erste italienische
Parlament tagte auf Französisch.
Die innere Distanz der Italiener
zu ihrem Zentralstaat erklärt teil-
weise den Aufstieg Silvio Berlu-
sconis in den 1990er-Jahren, der
als Premier die Steuerhinterzie-
hung–seine eigene und diejenige
von Millionen seiner Landsleute –
als „legitime Notwehr“ gegenüber
einem gefräßigen Staat rechtfer-
tigte. Das kam gut an in Italien.
Trotz der zahllosen Regierungs-
krisen, trotz Korruption und Ma-
fia und trotz der Entfremdung der
Bürger mit ihrem Staat hat sich
Italien erstaunlicherweise immer
mehr oder weniger erfolgreich
durchgewurstelt. Das Land ist im-
mer noch die drittgrößte Volks-
wirtschaft Europas und wird am
Wochenende mit Nochpremier
Giuseppe Conte am G7-Gipfel in
Biarritz vertreten sein.

Stützpfeiler Bürokratie
Dass das Land auch ohne stabi-
le Regierungen funktioniert, ist in
erster Linie das Verdienst der un-
zähligen Kleinunternehmer und
der mittleren Privatbetriebe, die
mit ihrer Kreativität und hohem
Arbeitseinsatz der Bürokratie und
der hohen Steuerbelastung trot-
zen und das Land unter tausend
Schwierigkeiten bis heute vor
dem Absturz bewahren.
Ein anderer Pfeiler, der das
Land über Wasser hält, ist para-
doxerweise die vielgescholtene
Bürokratie. Die Erklärung dafür
liefert Andrea, auch er Stammgast
am Lido Selvaggio: „In Italien ist
die Verwaltung ein Staat im Staat,
der Regierungsbeschlüsse filtert
und, wenn überhaupt, nur selek-
tiv umsetzt“, sagt der pensionier-
te ehemalige Spitzenbeamte im
Finanzministerium. Das möge
politisch problematisch sein –
doch die hohen Staatsfunktionäre
seienimUnterschiedzudenmeis-
ten Politikern wenigstens hervor-
ragend qualifizierte Fachkräfte.
So wie Andrea, der die Pariser
Eliteverwaltungshochschule ENA

absolvierte und sich in Harvard
weiterbildete. Schnellschüsse der
Regierung bleiben laut Andrea
zumeist im Getriebe der Bürokra-
tie hängen; Ausführungsbestim-
mungen werden absichtlich ver-
schleppt; und bis der zuständige
Minister das überhaupt bemerkt,
ist die Regierung gestürzt und das
Gesetz schon längst vergessen.
Also kein Grund zur Sorge und
„tuttoaposto“, alles in Ordnung,
im Land der Überlebenskünstler?
Leider nein. Denn bei der aktuel-
len Regierungskrise steht sehr viel
mehr auf dem Spiel, als es vielen
Italienern bewusst ist. Früher ging
es in der Regel lediglich darum, ob
am Ende der Krise eine linke oder
eine rechte Regierung gebildet
wird; in den Zeiten der allmächti-
gen Democrazia Cristiana lautete
die Frage meistens sogar bloß,
welche Strömung innerhalb der
christdemokratischen Partei ob-
siegen wird. Da wurden im Rah-
men von Regierungskrisen sozu-
sagen parteiinterne Meinungsver-
schiedenheiten geschlichtet.
Die Frage, ob Italien Teil der EU
und der Eurozone, Mitglied der
Nato und ein liberaler, demokrati-
scher Rechtsstaat bleibt, hat sich
bisher nie gestellt, nicht einmal
bei Enfant terrible Berlusconi.
Das ist diesmal anders: Sollten
sich die „Knalltüten“ der Fünf-
Sterne-Bewegung und des Partito
Democratico bis Dienstag nicht
auf eine neue Regierungskoalition
einigen können, dann bliebe
Staatspräsident Sergio Mattarella
nichts anderes übrig, als das
Parlament aufzulösen. Bei den
darauffolgenden vorgezogenen
Neuwahlen im Oktober droht ein
Wahlsieg der rechtsnationalen
Lega Salvinis und der postfaschis-
tischen Fratelli d’Italia von Gior-
gia Meloni–also von zwei euro-
pafeindlichen, autoritären Partei-
en mit zwei Leadern, die aus ihren
Sympathien für Wladimir Putin,
Donald Trump und Viktor Orbán
noch nie einen Hehl gemacht ha-
ben. Da würde Italien nicht nur zu
Ferragosto, sondern auch im über-
tragenen Sinn baden gehen.

Ein paar Tage oder Wochen am Strand sind fester Bestandteil der italienischen Lebensart. Doch heuer kann man sich kaum entspannen, denn in der Politik rumort es gewaltig.

Foto: AFP

/V

incenzo Pinto

Italiengehtbaden –gehtItalien baden?


Seit Beginn der ersten
Nachkriegsregierung vor
73 Jahrenerlebte Italien
bisher65 Regierungen–
das sind im Durch-
schnitt 1,12 Jahre
oder knapp411 Tage.
Diekürzeste Amtszeit
hatte 1972 daserste
Kabinett vonGiulio An-
dreottimitneun Tagen–
egal, der Christdemokrat
bekamweitere sechs
Male die Chance, es bes-
ser zu machen. Auf die
längste Regierungszeit
kann der Liberalkonser-
vati veSilvio Berlusconi
stolz sein:1409 Tagelang
hieltseinzweites Kabi-
nett, von 2001 bis 2005.
Die aktuelle Regierung
vonGiuseppe Conte,der
gesc häftsführend auch
nach seinem Rücktritt
zu Wochenbeginn im
Amt bleibt, konnte den
Freitag als448.Tagab-
haken–das macht im-
merhinPlatz 23in der
Best enliste aus. (gian)

Politische


Rekordjagd


WISSEN

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