Süddeutsche Zeitung - 24.08.2019

(National Geographic (Little) Kids) #1

D


inge, mit denen sich die Zeit
vertreiben kann, wem die 100
Kilometer von Berlin in die
Uckermark zu lang werden:
AfD-Wahlplakate zählen. Ra-
ten, welche Berliner vor und hinter einem
gerade auf dem Weg zu ihren Landsitzen
sind. Drittens: mal wieder Rainald Grebe
hören. „Es gibt Länder, wo was los ist“,
sang der Berliner Kabarettist schon vor Jah-
ren. „Es gibt Länder, wo richtig was los ist.
Und es gibt ... Brandenburg.“
Selten hat eine Songzeile die Sachlage
von heute so exakt beschrieben, obwohl
sie damals eigentlich das Gegenteil zum
Ausdruck bringen wollte.
Für Lola Randl ist zum Beispiel inzwi-
schen fast ein bisschen zu viel los in Bran-
denburg. Lola Randl ist nämlich schon vor
zehn Jahren aus Berlin in das Dorf Gerswal-
de, Landkreis Uckermark, gezogen. Und so
wie Grebes Brandenburg-Lied seit über
einem Jahrzehnt und vermutlich noch für
den Rest aller Zeiten von einer endlosen
Ödnis rund um Berlin kündet, ist Randl
inzwischen das Gesicht einer neuen Bran-
denburg-Hipness: Ihr Name ist praktisch
ein Synonym für die Behauptung, dass das
Umland dabei sein könnte, das zu werden,
was Berlin-Mitte wegen Überteuerung
nicht mehr ist.

Randl hat, weil sie Filmemacherin ist,
einen Film über ihr neues Leben auf dem
Land gedreht. Und dann hat sie in diesem
Jahr auch einen Roman darüber veröffent-
licht. Der heißt „Der Große Garten“ und ist
soeben auf der Longlist für den Buchpreis
gelandet. Dabei ist er aber höchstens semi-
fiktional. Denn den Großen Garten aus ih-
rem Titel gibt es wirklich. Der gehörte mal
dem Gutsbesitzergeschlecht der von Ar-
nim, zu DDR-Zeiten der LPG und jetzt
Randl und ihren Freunden. Auch hat die
wirkliche Lola Randl große Ähnlichkeit mit
ihrer heiteren Hauptfigur: einer Frau Ende
dreißig mit großer Brille, großem Haar
und großer Präsenz im Dorfleben. Im Gro-
ßen Garten sei an Wochenenden mittler-
weile fast schon zu viel Besucherandrang,
erklärt sie also, während sie ihrer Mutter
zuwinkt, die in den Beeten grubbert. „Das
ist so ein Instagram-Garten geworden“,
sagt Randl in dem halbironischen Tonfall
der Erzählerin aus ihrem Roman: „Die
Leute kommen, weil sie unsere riesige Arti-
schocke auf Instagram gesehen haben und
merken, dass sie die auch in ihrem Feed
brauchen.“
„Nimm dir Essen mit, wir fahren nach
Brandenburg“, singt Rainald Grebe. Es gab
irgendwann über so ziemlich jedes Bundes-
land ein Lied von ihm. Die meisten sind
recht liebevolle Hymnen. Nur aus dem
über Brandenburg spricht die Bitterkeit
eines frustrierten Ausflüglers aus Berlin.
Lola Randl muss jetzt kurz mit den japa-
nischen Köchinnen reden, die an diesem
Vormittag Reisbällchen kneten für die Teil-
nehmer eines Illustrationsworkshops im
Großen Garten von Gerswalde, Seminar-
sprachen sind Englisch und Spanisch. Die
Japanerinnen hatten mal das Catering bei
einer von Randls Filmpremieren in Berlin
gemacht, dann hat sie sie überredet, in den
Nordosten von Brandenburg zu kommen.
So wie den Rest ihrer Familie und ihres
Freundeskreises auch. Und jetzt ist es so
weit, dass sie sich vor dem Trubel der
Wochenendbesucher in ihrem Haus gegen-
über der Dorfkirche verschanzt und über-
legt, ob sie in Berlin nicht am Ende mehr
Ruhe zum Schreiben hätte.
„Ich fühl mich heut’ so leer, ich fühl
mich Brandenburg“, singt Rainald Grebe:
„In Berlin bin ich einer von drei Millionen,
in Brandenburg kann ich bald alleine
wohnen...“
In Berlin wohnen inzwischen eher vier
Millionen, und in Gerswalde finden Lola
Randls nachziehende Freunde ebenfalls
schon keine Wohnung mehr. Aber das Lied
ist auch schon etwas älter. Es stammt aus
einer Zeit, als die Brandenburger noch re-
gelmäßig die SPD zur stärksten Partei
wählten. Und als in Berliner Wohngemein-
schaften immer irgendwo ein Exemplar
von Judith Hermanns Erzählband „Som-
merhaus, später“ stand, schon weil der Ti-
tel so eine Verheißung war und das Bild da-
zu auch: ein Haus auf dem Land, malerisch
verwittert, knarrendes Holz, ein bisschen
wie das von Lola Randl in Gerswalde.
Inzwischen ist die SPD in Brandenburg
den Wahlumfragen zufolge von der AfD
eingeholt worden. Am 1. September ist
Landtagswahl, deshalb hängen zurzeit
mindestens so viele Wahlplakate an Bran-
denburgs Laternenpfählen, wie das Land
Einwohner hat, und das sind ungefähr
2,5 Millionen. Von den Plakaten sind die
meisten, grober Augenschein, hellblau.
Also von der AfD.
Im Land Brandenburg gibt es auch eine
Stadt Brandenburg, die liegt an der Havel,
eine Stunde westlich von Berlin. Dort steht
zwei Sonntage vor der Wahl Parteichef
Alexander Gauland auf dem Neustädti-
schen Markt und teilt über ein Mikrofon
mit: „Sechs Jahre nach der Gründung der
AfD stehen nun erstmals Landtagswahlen
an, bei denen unsere Partei die stärkste
Kraft werden kann. Ich sage das, liebe
Freunde, mit einem lachenden und einem
weinenden Auge.“ Das weinende Auge
deswegen, weil die AfD schon mitregieren
müsste, um ihre politischen Vorstellungen
durchzusetzen, während die anderen aber,
um genau das zu verhindern, wohl
Koalitionen bilden werden, die am Ende
eher noch breiter für all die Positionen ste-
hen dürften, die der AfD so stinken.
Ein Reporter des dänischen Fernsehens
versucht verzweifelt, AfD-Anhänger nach
ihren Beweggründen zu fragen. Er gerät
aber immer nur an andere Journalisten,
die auch schon kein Glück bei dem Versuch
hatten. Von den vielleicht einhundertfünf-
zig Leuten auf der Wahlkundgebung der

AfD in Brandenburg an der Havel scheinen
die Hälfte Reporter zu sein. Die andere
Hälfte steht mit verschränkten Armen da
und hat keine Lust, sich zu äußern.
In Gerswalde hängen ausnahmsweise
kaum Plakate der AfD. Hier bekenne sich
auch kaum einer offen zu der Partei, sagt
Lola Randl beim Gang über die Dorfstraße,
die tatsächlich „Dorfmitte“ heißt. Leute,
die die wählen, gebe es sicher auch: „Aber
wenn, dann ist das alles eher versteckt.“ So
wie alle Animositäten eher versteckt seien
in Brandenburg, solange man sein Stück
vom Bürgersteig ordnungsgemäß von Un-
kraut freihält. Denn am Ende ist halt Bran-
denburg immer noch Preußen.
In den Analysen zu den Wahlprognosen
ist zu lesen, dass der Anteil der AfD-Wähler
in Brandenburg gar nicht unbedingt grö-
ßer geworden sei. Die immerhin rund
80 Prozent, die diese Partei in Branden-
burg nicht wählen, verteilten sich nur jetzt
breiter auf die anderen – und auf die Nicht-
wähler. Randl spricht von dem Eindruck,
dass die Präferenzen der Gerswalder mehr-
heitlich den Linken gehören. Oder der
CDU. Dass Brandenburg mal als sogenann-
te Hochburg der SPD gegolten haben soll,
wundert sie eher.
Brandenburg galt aber mal als einzige
Hochburg der SPD im ganzen Osten. Viel-
leicht lag das auch daran, dass im August
1989 die Sozialdemokratische Partei der
DDR hier gegründet wurde, als dissidenti-
scher Akt, im Pfarrhaus von Schwante bei
Oranienburg. Während die anderen neuen
Länder meistens konservativ regiert wur-
den, schickten die Brandenburger regelmä-
ßig ausgesprochen väterlich wirkende
Sozialdemokraten in ihre Staatskanzlei
und ins Fernsehen: Manfred Stolpe war
dauernd präsent, Matthias Platzeck auch.
Und auf Auftritte der Freund wie Feind ver-
gnüglich in Grund und Boden quasselnden
Sozialministerin Regine Hildebrandt konn-
te man sich in ihren späten Jahren fast ge-
nauso fest verlassen wie auf den Stau auf
dem Berliner Ring. Heute heißt der Minis-
terpräsident nochmal wie? Eben.
Dietmar Woidke heißt er. Und weil es in
Brandenburg gar nicht so viele Laternen-
masten gibt wie Wahlplakate, hängen oft
bis zu vier übereinander. Dann fordert un-

ten zum Beispiel Dietmar Woidke seitens
der SPD „EIN Brandenburg“, als stünde
eine Landesteilung zur Debatte. Darüber
behauptet die FDP im Stil von Friedrich
Wilhelm I. und seinen Langen Kerls: „Bran-
denburg wächst mit seinen Menschen“.
Die Grünen sagen „Hallo Grunz, tschüss
Quälerei“ und zeigen ein Schwein. Ganz
oben, zerstörungssicher, ruft in der Regel
die AfD: „Vollende die Wende“.
Auf dem Neustädtischen Markt in Bran-
denburg an der Havel tragen die AfD-Hel-
fer blaue Westen mit der Aufschrift „Dissi-
dent“. Hinter Alexander Gauland steht
„Wende 2.0 – Die Friedliche Revolution
mit dem Stimmzettel“.
Da Alexander Gauland genauso wie sein
Brandenburger Spitzenkandidat Andreas
Kalbitz und eigentlich fast das ganze
Führungspersonal der AfD, das jetzt an die
Umsturzerfahrungen der Ostdeutschen
appelliert, selbstverständlich aus dem
Westen stammt, wird er vielleicht nicht
wissen, dass die Regionen, die heute Bran-
denburg bilden, gerade nicht zu den aller-
heißesten Hotspots der Ereignisse von
1989 gehörten. Abgesehen von der Grün-
dung einer sozialdemokratischen Partei,
wie gesagt.

Deshalb sind die Sozialdemokraten hier
besonders über ein Motiv empört, das
auch an Gaulands Rednerpult hängt:
„Mehr Demokratie wagen!“ Mit dem Kon-
terfei von Willy Brandt.
Anruf bei dem Sohn des SPD-Kanzlers:
Matthias Brandt, von Beruf Schauspieler,
lebt selbst in Brandenburg, bei Potsdam,
er hat die Plakate mit seinem Vater also un-
mittelbar vor der Nase. „Ich finde das nahe-
zu lustig“ sagt er nach kurzem Nachden-
ken. „Auf dem Plakat ist ja ein Flüchtling
abgebildet. Die AfD macht Werbung mit
einem, der vor ihren Gesinnungsvorfahren
geflohen ist und zum Glück ein Land gefun-
den hatte, das ihn aufgenommen hat.
Sonst könnten wir das Gespräch jetzt gar
nicht führen.“

„Da steh’n drei Nazis auf dem Hügel/
und finden keinen zum Verprügeln“, singt
Rainald Grebe in seinem Brandenburg-
Lied. Und damals, als er das Lied schrieb,
kursierten in Berlin tatsächlich immer
noch Reisewarnungen für das Umland: In
den weiten Wäldern könne es jederzeit zu
Wildunfällen kommen, in abgelegenen Ort-
schaften zu genauso fatalen Begegnungen
mit rechten Skinheads. Noch 2002 hatten
drei von ihnen einen 16 Jahre alten Schul-
kameraden, weil der stotterte und ihrer
Meinung nach zu weite Hosen trug, in dem
Dorf Potzlow, zwölf Autominuten von Lola
Randls idyllischem Großen Garten ent-
fernt, stundenlang gefoltert und dann an
einem Schweinetrog mit einem Tritt auf
den Hinterkopf getötet. Denn dieses soge-
nannte Kantsteinbeißen war unter den Ge-
walttaten ungefähr das, was unter den An-
ziehsachen die engen Jeans und die Stiefel
waren: Skinheadmode. Nach diesen Ereig-
nissen hatte man aber selbst aus Branden-
burg nie wieder wirklich von so etwas ge-
hört; der ganze Look schien irgendwann
nur noch als Kostümfetisch einer kleinen
homosexuellen Subkultur im Berliner
Nachtleben zu überdauern.
Jedoch dann letzten Sonntag in Bran-
denburg an der Havel: Auf seinem Podest
beschwert sich Alexander Gauland dar-
über, dass Anhänger der AfD so oft als
Nazis diffamiert würden. Denn die Partei
sieht sich ja eher bürgerlich und familien-
orientiert. Es stehen dort allerdings auch
bemerkenswert viele Männer, die von fer-
ne aussehen, als wären sie am Kinder-
schminkstand gewesen oder als hätten sie
sich in der Hüpfburg Hämatome zugezo-
gen. Von nahem betrachtet handelt es sich
dann um Tätowierungen, die sich über Häl-
se, Gesichter und Glatzen ziehen.
Wenn man ganz genau hinschaut, sind
meist Motive aus der nordischen Mytholo-
gie zu erkennen und Soldaten mit Wehr-
machtshelmen. Der Reporter vom däni-
schen Fernsehen, immerhin selbst Nord-
länder, könnte, wenn er schon keine Inter-
views bekommt, einfach die Tätowierun-
gen und die Aufschriften der T-Shirts abfil-
men. Von Walhalla ist da zu lesen oder von
„Aryan Reaction“. Auf einem Männer-
rücken in der überraschenden Farbe Pink

steht: „Thor Steinar“ und „Legion Nord“ so-
wie „Molon labe!“, was allerdings weniger
nordisch als vielmehr griechisch ist –
„Komm’ und hol sie dir“, die Antwort der
Spartaner, als Xerxes sie aufforderte, die
Schwerter niederzulegen, daher bis heute
ein beliebtes Motto bei militanten Waffen-
lobbyisten. „Liebe Freunde, meine Damen
und Herren, liebe Brandenburger: Ist ein
schönes Bild auf diesem Platz“, sagt Alexan-
der Gauland und blickt dabei durch seine
Lesebrille ins Manuskript.
Leute, die die Partei schon länger beob-
achten, warnen davor, die paar Folklore-
Rechtsradikalen überzubewerten, die sich
dort an den scharfen Reden gegen die Ein-
wanderungspolitik wärmen. Entscheiden-
der für den Erfolg der AfD seien die ande-
ren, die vollkommen unauffälligen Män-
ner in den Kurzarmhemden und die Frau-
en mit den altersgerechten Kurzhaarfrisu-
ren, die Beifall klatschen, wenn Gauland
die Energiewende überstürzt nennt, zumal
in einem Bundesland, dessen Südosten we-
sentlich vom Tagebau lebt. „Unter den
Maßgaben des Zeitgeistes ist die Kohle in-
zwischen der Nazi unter den Energieträ-
ger“, ruft Gauland: „Aber nur in Deutsch-
land.“ Wenn man jetzt in die tätowierten
Glatzköpfe hineinschauen könnte, wüsste
man wenigstens, wie das dort ankommt,
als offensichtlich stolzer Nazi mit Braun-
kohle verglichen zu werden.
Die Adresse, an der einst die Firma ge-
meldet war, welche die nordische Helden-
mode von „Thor Steinar“ vertreibt, liegt
südöstlich von Berlin in Zeesen; die Straße
ist – auch typisch Brandenburg – seit DDR-
Zeiten nach dem von Rechtsradikalen
ermordeten Kommunisten Karl Lieb-
knecht benannt.
„Die Produktion von Thor Steinar ist,
glaub ich, längst nach Polen verlagert –
nachdem der Laden zunächst mal an Ara-
ber verkauft wurde“, erklärt dazu ein
Mann, der in diesem Zusammenhang nur
S. genannt werden mag. Denn S. ist eben-
falls eher Kommunist und möchte nicht
von Rechtsradikalen ermordet werden, die
er allerdings ganz gut kennt: früher aus
den Fußballstadien von Ostberlin und heu-
te aus der Nachbarschaft seines Bunga-
lows an einem der Seen nördlich von Ber-

lin. Denn manchmal, wenn die Ruhe über
dem See hinter dem Wald am schönsten
ist, kann sein geübtes Ohr aus bestimmten
Bungalows nebenan Rechtsrockbands wie
Landseridentifizieren. Sicher falle das
auch denjenigen unter den Nachbarn auf,
die schon älter sind, den Habitus der be-
waffneten Organe haben, aber offiziell in
der DDR maximal „als Führungsperson“ tä-
tig gewesen sein wollen. Aber was sollen
die machen, falls es sie überhaupt stört?
Vorwürfe hat S. deswegen vor allem in
Richtung der Linkspartei, die so staatstra-
gend geworden sei, dass sie die Leute zu-
sätzlich in die Arme der AfD treibe. In sei-
ner Wahrnehmung liegt den Leuten hier
der Einigungsvertrag samt Treuhand näm-
lich im Magen wie ein Versailler Vertrag
nebst Alliiertem Kontrollrat: als Demüti-
gung und halbe Enteignung, später verdop-
pelt durch Hartz IV, im Alltag ausdetailliert
durch stillgelegte Bahnlinien, geschlosse-
ne Arztpraxen, Polizeireviere, Jugend-
klubs, das Absterben jeglicher Kulturange-
bote diesseits von RTL: „Dann kommt end-
lich mal ein Bus, aber der ist randvoll mit
Flüchtlingen, die in die Stadt wollen, und
die machen der Oma mit dem Rollator kei-
nen Platz, sondern quatschen laut, und in
Brandenburg wird im Bus jefälligst jesch-
wiegen ...“ S. sagt, dass er die Verärgerun-
gen im Prinzip nachvollziehen könne, nur
halt andere Schlussfolgerungen ziehen
würde, als deswegen rechts zu wählen.

Er sagt das, während er einen übers
Land fährt und Anwesen zeigt, die dem-
nächst von Investoren aus Berlin in Co-
Working-Spaces für Nerds ausgebaut wer-
den, die bisher in Kreuzberger Fabrik-
etagen hocken und die Sonne nie sehen.
Denn naturnahe Co-Working-Spaces für
Nerds aus Berlin gelten jetzt als Branden-
burgs Zukunft, wenn nicht gar Erlösung.
Aber S. merkt in heiterer Verbitterung an,
dass dafür halt funktionierende Bahnan-
bindungen essenziell wären, denn Nerds
fahren heute nur selten noch Auto.
„In Brandenburg“ singt Rainald Grebe,
„in Brandenburg / ist wieder einer gegen
den Baum gegurkt.“
Sogar die Japanerinnen mussten in
Brandenburg Autofahren lernen, erzählt
Randl, während die Japanerinnen mit ei-
nem Transporter waghalsig auf der Dorf-
straße rangieren, denn der Zug fährt nur
bis Wilmersdorf bei Angermünde. Und ab
dort geht es durch die Alleen. Branden-
burgs von knorrigen Baumkronen über-
wachsene Alleen, angelegt, um Preußens
Soldaten beim Marschieren Schatten zu
spenden, wären ein Grund für sich, den
Führerschein zu machen. Beim Hype um
die Co-Working-Spaces zeigt sich Lola
Randl allerdings skeptisch: „Das birgt die
Tendenz zu Parallelgesellschaften“, sagt
sie. Das sehe man ja in Gerswalde schon.
Wirklich herausragend an dieser Frau
ist nämlich die Fähigkeit, ihre Rolle in Gers-
walde selbstironisch von außen zu betrach-
ten und zumindest gedanklich auch ein-
mal die der anderen anzuprobieren. Denn
das, wofür sie hier zehn Jahre lang eine Art
Quartiermacherin war, wiederholt im Prin-
zip ja nur das uralte Prinzip, wonach Alter-
native und Sinnsucher aus den Städten
aufs Land ziehen und sich dort mit der örtli-
chen Bevölkerung arrangieren müssen.
Randl erzählt also, dass sie selber einst
in so einer Öko-Kommune in der Ober-
pfalz, Bayern, aufgewachsen sei. „Und da
ist das, wie man sich Fremden und Fremd-
artigem gegenüber verhält, viel offenkun-
diger feindselig gewesen.“ Denn nicht nur
die AfD-Anhänger halten sich in Gerswal-
de bedeckt, sondern auch diejenigen, die
die romantisch gestimmten Zuzügler mit
Skepsis betrachten. „Dass man sich nicht
vor dem anderen oder vor dem Fremden
fürchten würde, ist ja auch schwer anzu-
nehmen.“ Und das gelte für die Berliner
schließlich auch. Deshalb kommen ja alle
dahin, wo schon andere sind. Um gewisser-
maßen Wagenburgen zu bilden in einer als
fremd und latent feindlich wahrgenomme-
nen Umgebung.
Dass nun die Uckermark, ganz einfach
weil es die hügeligste und lieblichste Regi-
on in Brandenburg ist, gerade zu dem zu
werden verspricht, was für London die
Cotswolds sind oder für New York die
Hamptons: Das führt wiederum zualler-
erst zu einem Konflikt zwischen den Berli-
nern selber. Nämlich zwischen den Kreuz-
berger Kulturbohemiens, die ganz hier
rausgezogen sind, und denen, die sich hier
Zweitwohnsitze „mit skandinavisch ge-
beizten Dielen“ ausbauen können und da-
mit die Preise hochtreiben.
Und die Ortsansässigen? „Die sind im
Zweifel die Handwerker. Und der Handwer-
ker ist wahnsinnig viel wert mittlerweile,
weil das Bauen so teuer geworden ist. Der
ist immer ausgebucht, und der spielt diese
Macht auch aus. Wer die Macht hat, kann
sie ja schwer nicht ausspielen.“ Langsam,
sagt Randl, lerne man so voneinander. Der
einheimische Handwerker weiß jetzt, dass
bei den Berliner Geschmacksbürgern an-
ders als bei vielen Brandenburgern eher
nicht lackglänzende Dachziegel in Violett
gefragt sind, sondern eben skandinavisch
gebeizte Dielen. Und Randl setzt ihrerseits
inzwischen den Einheimischenblick auf,
wenn sie aus dem Küchenfenster schaut
„und die Berliner schon wieder so orientie-
rungslos rumfahren und nach Häusern
gucken und dann immer auf der falschen
Seite parken. Das macht mich inzwischen
selber richtig wütend. Aber das ist auch in-
teressant: Man fühlt sich auf einmal auch
für die Schuld der anderen schuldig...“
Der Sänger Rainald Grebe, meldet die
Lokalzeitung, hat übrigens seit einiger Zeit
auch ein Haus in Brandenburg. In der
Uckermark natürlich.
Und die Leute von dort? Wann kommen
die jetzt mal zu Wort? Nächste Woche. Bei
der Wahl. Wenn sie denn hingehen.

Janz weit draußen


Die AfD könnte stärkste Kraft in Brandenburg werden:


Neues Futter für die alte Hassliebe zwischen


vielen Berlinern und ihren Nachbarn? Szenen einer Landpartie


von peter richter


Was wohl in den Glatzköpfen
vorgeht,wenn Gauland stolze
Nazis mit Braunkohle vergleicht?

Dort die romantisch gestimmten
Zuzügler, da die Einheimischen.
Man arrangiert sich

Wer hier AfD wählt? Solange
der Bürgersteig vor dem Haus
schön sauber ist, ist das egal

DEFGH Nr. 195, Samstag/Sonntag, 24./25. August 2019 DIE SEITE DREI 3


FOTO: ROLF ZÖLLNER / IMAGO

Lola Randl (l.)
ist vor zehn Jahren
aus Berlin
in die Uckermark
gezogen. Bei ihr
im Dorf bekennt
sich kaum einer
offen zur AfD.
In Brandenburg an
der Havel bei einer
Wahlveranstaltung
der AfD ist das
anders, hier hofft
man, Geschichte
zu machen.
FOTO: TOBIAS KRUSE /
OSTKREUZ; BJÖRN KIETZ-
MANN / ACTION PRESS

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