Süddeutsche Zeitung - 24.08.2019

(National Geographic (Little) Kids) #1
FOTO: JANEK SKARZYNSKI/AFP

Małgorzata Gersdorf, die Präsidentin des
Obersten Gerichts (SN) Polens, war nur
mäßig erstaunt, als ihr Sekretariat ihr eini-
ge neu eingetroffene Postkarten übergab.
Ihr Text stimmte überein: „Liebe Frau Prä-
sidentin: VERPISS DICH!“ Als Chefin des
Obersten Gerichts ist Gersdorf nicht nur
eine der wichtigsten Juristinnen Polens,
sondern auch die prominenteste Gegne-
rin der Maßnahmen, mit denen Polens na-
tionalpopulistische Regierung die Unab-
hängigkeit der Justiz seit 2015 in weiten
Teilen beseitigt hat.
2017 rief Gersdorf alle polnischen Rich-
ter auf, Widerstand gegen rechtswidrige
Gesetze zu leisten und „jeden Quadratzen-
timeter des Rechtsstaates zu verteidigen“.
Doch auch das Oberste Gericht wurde
zum Kampffeld. Im Juli 2018 sollten Gers-
dorf und andere SN-Richter in Zwangsren-
te geschickt werden. Doch die Präsidentin
weigerte sich, ihr Amt aufzugeben – in Po-
len gingen Tausende aus Solidarität auf
die Straße. Regierungsnahe Medien und
das Staatsfernsehen aber überboten sich
mit Propaganda gegen Gersdorf; mit Twit-
ter-Kampagnen oder per Postkarten, wie
sie ab August 2018 in Gersdorfs Sekretari-
at eintreffen.
Erst jetzt erfuhr die SN-Präsidentin,
wer für die Hasskampagne gegen sie und
andere prominente Streiter für die Unab-
hängigkeit der Justiz offenbar verantwort-
lich ist: Polens bisheriger Vizejustizminis-
ter, hohe Richter und Mitglieder des regie-
rungskontrollierten Landesjustizrates –
und ein Kollege am Obersten Gericht. Der
ZeitungGazeta Wyborczaund dem Inter-
netportalOnetzufolge soll der Richter
Konrad Wytrykowski, am Obersten Ge-
richt seit 2018 Mitglied einer neuen, regie-
rungskontrollierten Disziplinarkammer,

die auch auf Twitter geführte Hasskampa-
gne gegen Gersdorf mit dem Titel „Wy-
pierdalaj“ (Verpiss dich) initiiert haben.
Wytrykowski bestreitet dies.
Doch die beiden Medien stützen sich
auf ihnen vorliegende Nachrichten der Re-
gierungsjuristen in einer Whatsapp-Grup-
pe – und auf eine mutmaßliche Hauptbe-
teiligte. Emilia S., die in Scheidung leben-
de Nochfrau eines beteiligten Richters,
hat ihrem Anwalt zufolge zugegeben, ab
2017 im Auftrag und auf Anweisung der
Regierungsjuristen prominente Verfech-
ter einer unabhängigen Justiz mit
Schmutzkampagnen im Internet und in

regierungsnahen Medien diffamiert zu ha-
ben; und das auch mithilfe vertraulicher
Akten etwa aus der Generalstaatsanwalt-
schaft. Angegriffen wurden neben ande-
ren der Präsident der unabhängigen
Richtervereinigung Iustitia, der frühere
Sprecher des bis 2018 unabhängigen Lan-
desjustizrates – und Gersdorf.
Ein Jahr nach dem Start der „Verpiss
dich!“-Kampagne ist Gersdorf dank eines
Urteils des Europäischen Gerichtshofs
(EuGH) immer noch SN-Präsidentin. In
Deutschland war die 66 Jahre alte Gers-
dorf, Mutter eines erwachsenen Sohnes
und mit dem ehemaligen Verfassungs-
richter Bohdan Zdziennicki verheiratet,
schon Gast beim Bundesgerichtshof; im
Mai 2019 erhielt sie für ihre Zivilcourage
den Theodor-Heuss-Preis. Die Auszeich-
nung kann sie gebrauchen, denn der
Kampf um die Justiz geht in Polen weiter.
Eigentlich endet Gersdorfs sechsjähri-
ge Amtszeit erst im April 2020. Doch Po-
lens von der Regierung kontrolliertes Ver-
fassungsgericht will nun urteilen, ob Gers-
dorf und andere unabhängige oberste
Richter verfassungswidrig ernannt wur-
den – und ihre Entscheidungen ungültig
sind. Zudem will Polens Präsident die
Zahl der obersten Richter erhöhen – und
mit der Ernennung regierungstreuer Rich-
ter die Kontrolle über das Oberste Gericht
bekommen. Auch die Disziplinarkam-
mer, an der Richter Wytrykowski urteilt
und die jeden der rund 10000 Richter des
Landes entlassen kann, existiert weiter.
Der EU-Kommission zufolge widerspre-
chen die Disziplinarkammer und etliche
andere Maßnahmen EU-Recht; der EuGH
wird bald dazu urteilen. Gersdorf will Ent-
scheidungen der Disziplinarkammer erst
einmal ignorieren. florian hassel

O


b „hessische Verhältnisse“ oder
„Magdeburger Modell“ – im kol-
lektiven Gedächtnis der Deut-
schen ist die Minderheitsregierung als po-
litischer Unfall verbucht. Das ist so, seit
es 2008 für kurze Zeit die CDU in Wiesba-
den traf, und seit Sachsen-Anhalts SPD-
Ministerpräsident Reinhard Höppner
acht Jahre so regierte. Trotzdem ist es
richtig, dass Bodo Ramelow, linker Regie-
rungschef in Thüringen, jetzt für die Min-
derheitsregierung wirbt. Denn was bis-
her eher als Systemfehler galt, wird bald
zu den Werkzeugen der Regierungsbil-
dung jenseits der AfD gehören.
Die Prognosen für die Wahlen in Sach-
sen und Brandenburg liefern dafür erste
Anzeichen: Sie skizzieren eine Zäsur für
das politische System. In Brandenburg
zum Beispiel kämpfen derzeit drei Partei-
en um Platz eins; darunter auch die SPD,
die das Land 30 Jahre regiert hat. Dass
dies nicht nur ein Phänomen in Ost-
deutschland ist, darauf weisen die Umfra-
gen auf Bundesebene hin: Die Koalition
aus CDU und SPD hat da schon lange kei-
ne Mehrheit mehr. Die Zeiten, in denen
ein, zwei Parteien den Ton angeben, sie
sind wohl vorbei.
Wie aus einer schwachen Position her-
aus regiert werden kann, das hat 2010
Hannelore Kraft in Nordrhein-Westfalen
gezeigt. Als sie sich zwei Jahre später zur
Wiederwahl stellte, ging das rot-grüne
Bündnis gestärkt daraus hervor. In Skan-
dinavien gehören Minderheitsregierun-
gen zum politischen Alltag. Das Rezept
dort: wenig Ideologie, viel Pragmatismus
und so lange reden, bis eine Lösung ge-
funden ist. jan heidtmann

H


einz-Christian Strache hat ei-
nen neuen Job gefunden, und
sein Nachfolger an der Partei-
spitze atmet durch: „Ich bin sehr froh,
dass er sich ein wirtschaftliches Stand-
bein schafft und wünsche ihm alles Gu-
te“, sagte der stets sanfte Norbert Hofer
am Freitag zur Nachricht, dass der tief
gefallene Vizekanzler künftig in der frei-
en Wirtschaft tätig sein will. Zu früh
freuen allerdings sollte sich Hofer nicht.
Denn mit dem anderen Bein und dem
heißen Herzen sowieso bleibt Strache in
der Politik – und das wird zunehmend
zur Belastung für die FPÖ.
Während Hofer nach dem Ibiza-Skan-
dal nach vorn blicken will, macht Stra-
che Schlagzeilen mit weiteren Korrup-
tionsvorwürfen und einer Hausdurch-
suchung. Während sich die Partei nach
Ruhe sehnt, gibt er den Poltergeist. Ab-
wechselnd tritt er als Opfer und Anklä-
ger auf, mit dem Ergebnis, dass sein
Sündenfall die FPÖ im Wahlkampf weit
mehr verfolgt als erhofft.
Dass keine Ruhe einkehrt, hat auf
Straches Seite mit gekränkter Eitelkeit,
Hyperaktivität und vor allem mit seinen
Comeback-Plänen zu tun. Auf Seiten
der Partei ist es schlichte Hilflosigkeit.
Denn bei vielen FPÖ-Anhängern ge-
nießt Strache weiterhin Ansehen. Diese
Wähler will die FPÖ nicht verprellen, bis
zum Wahltag wird man sich also um ei-
nen Burgfrieden bemühen. Doch spätes-
tens danach könnte der Konflikt bei den
Freiheitlichen eskalieren. Auch das soll-
te Sebastian Kurz bedenken, bevor er
wieder mit einer Koalition mit der FPÖ
liebäugelt. peter münch

von ferdos forudastan

S


ollten die Richter von Chemnitz an-
genommen haben, ihr Urteil gegen
den Syrer Alaa S. würde die Wogen
glätten, so dürfte ihnen ein Blick ins Netz
genügen, um sie vom Gegenteil zu über-
zeugen. Dort hetzen Rassisten auch nach
dem außerordentlich harten Richter-
spruch ungerührt weiter. Und der anste-
hende Aufmarsch der rechtsextremen
Vereinigung „Pro Chemnitz“ an diesem
Wochenende wird zeigen, dass die, die
Angst und Hass schüren wollen, sich
nicht mal von einem Gericht beeindru-
cken lassen, das gegen einen ehernen
Grundsatz verstoßen hat: im Zweifel für
den Angeklagten.
Die Zweifel daran, dass Alaa S. vor fast
genau einem Jahr in Chemnitz den
Deutsch-Kubaner Daniel H. getötet hat,
waren während des Prozesses nicht gerin-
ger geworden; sie waren gewachsen.
Auch wenn der junge Mann am Tatort
war, auch wenn bis heute unklar ist, was
in jener Nacht geschah, ob nur der ins Aus-
land geflohene Hauptverdächtige Farhad
A. das Opfer attackiert, ob Alaa S. oder ein
anderer mitgemacht hat: Es gibt keinen
tragfähigen Beweis dafür, dass der nun
zu neuneinhalb Jahren Gefängnis verur-
teilte Syrer schuldig ist.
DNA-Spuren? Fehlanzeige. Der einzi-
ge Belastungszeuge? Verstrickt in Wider-
sprüche. Und auch deswegen vollkom-
men unglaubwürdig, weil er in jener
Nacht aus großer Distanz auf das Gewühl
von Menschen geschaut hat, in dessen
Mitte dann Daniel H. erstochen wurde.
Kein Gericht, das auf sich hält, hätte
sich mit einer so fragwürdigen Aussage
eines so fragwürdigen Zeugen begnügen
dürfen. Keine Richter, deren Leitschnur
alleine Recht und Gesetz sind, hätten auf
einer so brüchigen Grundlage einen Men-
schen verurteilen dürfen.

Und wenn Recht und Gesetz nicht der
einzige Maßstab der Chemnitzer Juristen
waren? Wenn es den Richtern, die dieses
Urteil gefällt haben, auch darum ging, je-
nen den Wind aus den Segeln zu nehmen,
die die Tötung von Daniel H. wiederholt
missbrauchen, um gegen Menschen mit
ausländischen Wurzeln zu hetzen? Was,
wenn die Juristen befürchtet hatten, dass
gerade jetzt, wo das Verbrechen sich jährt
und die Landtagswahl in Sachsen bevor-
steht, ein Freispruch Unruhe, mehr noch,
Ausschreitungen verursacht und der AfD
noch mehr Stimmen als derzeit absehbar
eingetragen hätte?

Wäre all das der Fall, hätten die Richter
den Beruf verfehlt. Ihre Aufgabe ist es
selbstverständlich nicht, Entscheidun-
gen daran auszurichten, was Teile der Ge-
sellschaft oder der Politik von ihnen er-
warten. Ihre Aufgabe ist es, die Tat und
den Angeklagten im Blick zu haben, sein
Handeln zu beurteilen, Recht zu spre-
chen – und zwar vollkommen unabhän-
gig davon, ob es dem einen ge- oder der
anderen missfällt, wie der eine oder die
andere darauf reagiert.
Vielleicht wären einem Freispruch von
Alaa S. heftige Proteste, ja sogar Straßen-
schlachten gefolgt. Dass die bisher ausge-
blieben sind, dass sie vielleicht auch an
diesem Wochenende ausbleiben, kann
die Richter aber keineswegs beruhigen.
Rechtsextreme wird dieses Urteil nicht
zur Umkehr bewegen. Sie finden es sowie-
so zu lasch. Und Bürger, die diesem Staat
und seinen Institutionen ohnehin miss-
trauen, werden sich nicht von einem Ge-
richt überzeugen lassen, das seine Autori-
tät so verspielt wie das von Chemnitz.

von ronen steinke

J


a, es löst keine angenehmen Gefühle
aus, wenn man angebettelt wird. Der
Bettler auf Krücken oder mit verstüm-
melten Gliedern, die Bettlerin, die ein
Kleinkind im Wickeltuch trägt, aufgehal-
tene Hand, Blick in die Augen, ein gemur-
meltes „Bitte“: Den einen berührt das
peinlich, den anderen verunsichert es.
Das Betteln, gegen das viele Kommunen
gerade verstärkt mit Ordnungsamt und
Polizei vorgehen, ist aber bei Weitem
nicht das Einzige, was Städter für einen
kurzen Moment aufhält, ohne ihnen zwin-
gend Freude zu bereiten. Es ist lediglich
das Einzige, was so selbstverständlich mit
Repression beantwortet wird.
Eine der nervigen Erscheinungen zeit-
genössischer Fußgängerzonen sind die
kommerziell gedungenen Spendensamm-
ler von Amnesty International, World Visi-
on, Save the Children oder anderen Orga-
nisationen, die typischerweise in Grup-
pen auftreten und an einem Abschnitt des
Fußwegs eine Art Checkpoint der guten
Laune errichten, an dem sie Passanten ab-
passen. Das sind junge Leute, die über
eine Agentur wochenweise angeheuert
werden, sie sind in der Regel selbst nicht
Mitglied in der Organisation, für die sie
Mitglieder werben (was schade ist, denn
diese Organisationen leisten Wertvolles),
und sie stellen sich einem oft unbeirrbar
lächelnd in den Weg mit Sätzen wie „He,
einmal kurz gestoppt“.
Oder die Marktforscher. In manchen
Fußgängerzonen wird man öfter von ih-
nen angesprochen, Klemmbrett in der
Hand. Zum Beispiel in Nürnberg, das ist
die Heimat der Gesellschaft für Konsum-
forschung und anderer Umfrageinstitute.
Nürnberg, das ist auch die Stadt, die mo-
mentan besonders scharf dagegen vor-
geht, dass Bettler sich erlauben, in densel-
ben Fußgängerzonen die Leute anzuspre-

chen, auch wenn die Bettler dies ganz de-
mütig tun. Hundert Mal im Monat gibt es
derzeit Polizeieinsätze deswegen. Einsät-
ze gegen Marktforscher: null.
Kurz gesagt, das Leben in Gesellschaft
ist voller kleiner Zumutungen, Gott sei’s
geklagt, nicht einmal einkaufen kann
man in einer Großstadt, ohne dass andere
Menschen einem dabei zusehen und teils
auch etwas sagen. Aber das eine wird von
der Gesellschaft toleriert. Es wird sogar
von einigen Städten daran verdient. Das
andere wird zur Störung erklärt. Warum?
Weil extreme Armut hässlich ist, weil sie
Wohlhabendere – ob zu Recht oder zu Un-
recht – instinktiv beschämt. Weggucken
und Vertreiben ist die Reaktion.

Als sich Kaufleute an der vornehmen
Mönckebergstraße in Hamburg zu Beginn
der 2000er-Jahre über bettelnde Men-
schen mit Behinderung beschwerten,
schrieb das NachrichtenmagazinDer Spie-
gel: „Der Konflikt wirft die Frage auf, ob
eine vergleichsweise reiche Gesellschaft
wie die westdeutsche derart offen de-
monstriertes Elend aushalten kann.“ Ja,
können Reiche so etwas aushalten? Oder
ist das für sie zu schwierig?
Man muss Bettlern nichts geben. Man
kann Nein sagen. Man kann einfach vor-
beigehen, so wie man auch die jungdyna-
mischen Spendensammler von World Visi-
on ignorieren kann (Spenden sammeln –
das ist übrigens exakt die Definition von
Betteln). Aber die einen zu akzeptieren
und den anderen das Ordnungsamt auf
den Hals zu wünschen oder gar die Polizei,
die sich eigentlich um Kriminelle küm-
mern soll – was sagt das aus über eine
Stadtgesellschaft? Schlimmes.

HERAUSGEGEBEN VOM SÜDDEUTSCHEN VERLAG
VERTRETEN DURCH DEN HERAUSGEBERRAT
CHEFREDAKTEURE:
Kurt Kister, Wolfgang Krach
MITGLIED DER CHEFREDAKTION, DIGITALES:
Julia Bönisch
NACHRICHTENCHEFS: Iris Mayer, Ulrich Schäfer
AUSSENPOLITIK:Stefan Kornelius
INNENPOLITIK:Ferdos Forudastan; Detlef Esslinger
SEITE DREI:Alexander Gorkow; Karin Steinberger
INVESTIGATIVE RECHERCHE:Bastian Obermayer,
Nicolas RichterKULTUR:Andrian Kreye, Sonja Zekri
WIRTSCHAFT: Dr. MarcBeise
SPORT: Klaus Hoeltzenbein WISSEN: Dr.Patrick Illinger
PANORAMA:Felicitas Kock, Michael Neudecker
GESELLSCHAFT UND WOCHENENDE:Christian Mayer,
Katharina RiehlMEDIEN:Laura Hertreiter
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MÜNCHEN, REGION UND BAYERN:Nina Bovensiepen,
René Hofmann; Sebastian Beck, Ingrid Fuchs,
Karin Kampwerth, Stefan Simon
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E


mmanuel Macrons Ausblick
auf die Welt könnte man holis-
tisch nennen. Zu seinem Krisen-
katalog, ausgebreitet vor dem
G-7-Treffen in Biarritz, gehö-
ren nicht weniger als die repräsentative
Demokratie, der Klimawandel, die Biodi-
versität, Technologie, Migration, Un-
gleichheit und damit der Kapitalismus in
seiner heutigen Ausprägung, die globale
Ordnung mit der Polarisierung der Welt
zwischen den USA und China und der da-
mit verbundenen Gefahr für die Länder
Europas, zu Vasallen der einen oder ande-
ren Seite zu werden. All dies hat der franzö-
sische Präsident in wenigen Sätzen be-
gründet und geschlossen mit der Bemer-
kung, dass man auf dem Treffen der sie-
ben Industrienationen an diesem Wochen-
ende angesichts dieser immensen Proble-
me keine belastbaren Beschlüsse zu erwar-
ten habe und man deswegen auch kein
Kommuniqué verabschieden werde. Das
würde eh nicht gelesen.
Macron erwähnte freilich nicht, dass es
für diese Krisenballung eine Kurzversion
gibt, in der sich mit fünf
Buchstaben das zentrale
Übel der globalen Hand-
lungsschwäche dieser
Tage ausdrücken lässt:
Trump. Macron mag auch
recht haben, dass die
wenigsten Menschen
Kommuniqués lesen oder
dechiffrieren können.
Gleichwohl sind Kommu-
niqués Ausdruck politi-
scher Handlungsbereit-
schaft. Die Tatsache, dass
die G 7 auf eine Handlungs-
anweisung verzichten, ist
ebenfalls dem Fünf-Buch-
staben-Problem zu ver-
danken. Wieder muss eine
Selbstverständlichkeit in-
ternationaler Politik abge-
schrieben werden.
Donald Trump und die
von ihm regierten USA
sind zum zentralen Pro-
blem der Geopolitik ge-
worden. Das Land gestal-
tet Weltpolitik nicht mehr, es hantiert mit
ihr nach Gutdünken. Ordnungsideen in-
teressieren diesen Präsidenten nicht, sie
sind obsolet geworden.
Diese wachsende Weltentfremdung
der USA sind keine Erfindung der Trump-
Präsidentschaft. Amerikas außenpoliti-
sche Identitätskrise begann weit früher.
Allerdings hat der amtierende Präsident
die Weltunordnung Made in America in
atemberaubendem Tempo beschleunigt.
Ein Ereignis wie der G-7-Gipfel erlaubt es,
den Stand dieses Zerstörungswerks in be-
sonderer Klarheit zu erkennen. Das ameri-
kanische Jahrhundert mag kalendarisch
noch nicht abgelaufen sein, politisch aber
ist es beendet. Es war Donald Trump, der
die USA nicht stärker, sondern deutlich
schwächer gemacht hat und die einst be-
stimmende Kraft im Spiel der Mächte bis-
weilen der Lächerlichkeit preisgibt.
Trump mag in seiner subjektiven Wahr-
nehmung machtvolle Signale setzen. Politi-
sche Lenker zittern vor seinen Tweets, sei-
ne Regierungswillkür lässt die Börsen be-
ben und stürzt Staaten wie das kleine Däne-
mark in größte Konflikte. Trump liebt es,
wenn er in seiner erratischen Natur die Me-
dien zum Tanzen bringt, volkswirtschaftli-
che Beziehungen wie etwa mit China zur
Achterbahnfahrt macht und selbst schein-
bar Allmächtige wie den jungen Kim aus

Nordkorea der Lächerlichkeit preisgibt.
Keiner nimmt, keiner gibt, was heute si-
cher ist, kann morgen verflogen sein, Unbe-
rechenbarkeit ist die Berechnungsgrundla-
ge der Außenpolitik.
Diese Macht der Willkür ist allerdings
von kurzer Dauer, sie erlischt wie der
Goldregen im Feuerwerk und lässt ledig-
lich Schwefelrauch zurück. Was sich heu-
te in einem Rekordstreitkräftebudget von
738 Milliarden Dollar als schier unangreif-
bare Militärmacht präsentiert, findet sein
Gegenstück in einem nicht messbaren,
aber nicht weniger beeindruckenden An-
sehens- und Glaubwürdigkeitsverlust.
Amerika befindet sich in der politischen
Rückzugsbewegung aus den tragenden
Strukturen dieser Welt, für die das G-7-Di-
lemma sinnbildlich steht.
Washingtons diplomatische Kraft ist in
aller Welt geschrumpft, der Verlust an Ein-
fluss auf globale Institutionen lässt sich
am Niedergang der Budgets für internatio-
nale Nothilfe oder medizinische Katastro-
phenvorsorge ablesen. Afrika findet in die-
ser Außenpolitik nicht mehr statt, Latein-
amerika ist auf das Migra-
tionsthema reduziert,
und der Nahe Osten wur-
de Subunternehmern wie
Benjamin Netanjahu über-
antwortet.
Europa sieht sich in im-
mer kürzeren Abständen
den Salven aus dem Wei-
ßen Haus ausgesetzt.
Nato, Handelsverträge,
Klimabündnis, das Desin-
teresse an der Rüstungs-
kontrolle und Absurditä-
ten wie die Grönland-Epi-
sode: Dieser Präsident hat
das transatlantische Stütz-
gerüst eingerissen – ein
Wunder, dass die Kons-
truktion noch nicht voll-
ends kollabiert ist.
Globale Beziehungen
sind nie statisch, die Pro-
bleme der Welt bleiben
meist dies: Probleme. Wer
Außenpolitik betreibt, mil-
dert Konflikte, aber löst
sie in der Regel nie ganz. Unter Trump ha-
ben die USA ihre Funktion als Lösungs-
und Ordnungsmacht weitgehend aufgege-
ben, die Kernkompetenz dieses Präsiden-
ten scheint die Ausdehnung der Problem-
zonen, die Erhöhung des Risikos zu sein.
Am besten lässt sich das an dem Jahr-
hundertereignis studieren, dem Umgang
mit der aufsteigenden Macht China. Hier
haben die USA unter Trump das Transpa-
zifische Abkommen gekündigt und es
dann versäumt, mit der EU eine Strategie
zur Korrektur chinesischen Marktmiss-
brauchs zu entwickeln. Nun lässt sich Chi-
nas Einfluss nur noch schwer begrenzen,
geografisch haben sich die militärisch ge-
schützten Einflusszonen bereits verscho-
ben, ökonomisch ist das chinesische Mo-
dell so stark, dass die darin wohnende
Willkür nicht mehr so einfach zu bremsen
ist. Schlimmer noch: Chinas politisches
System findet kein entschlossenes Gegen-
modell mehr, Trumps Umgang mit der
Welt macht ihn nicht zum Traumpartner.
Das Ende einer amerikazentrischen
Welt wird als große Zäsur in der Geschich-
te wahrgenommen werden. Wodurch ge-
nau sie spürbar sein wird, ist noch nicht
entschieden. Kriege? Neue Handelswege?
Autokratenwillkür auf allen Kontinenten?
Sicher ist nur, dass dieser Epochenschnitt
einen Namen trägt.

Manchmal soll ein Name ein
Signal setzen, einen Ton an-
geben: Ausgerechnet „Li-
bra“ hat Facebook seine ge-
plante Digitalwährung ge-
tauft. Libra ist Latein und bedeutet „Waa-
ge“, außerdem klingt das Wort nach Libe-
ralismus, nach Freiheit, vor allem aber
nach einer ganz großen Idee. Der Tech-
Konzern will mit Libra nicht weniger als
eine „globale Währung“ schaffen. Face-
book wird allerdings keine Scheine dru-
cken, es will mit 27 anderen Unterneh-
men und Institutionen eine weltweite
Währung im Netz schaffen, rein digital.
Nutzer sollen sich die Libra ab dem kom-
menden Jahr über Facebooks Messenger-
dienste hin- und hersenden können. An-
ders als digitale Kryptowährungen wie
Bitcoin soll der Wert einer virtuellen Li-
bra-Münze relativ stabil sein. Denn wenn
Kunden Euro oder Dollar in Libra tau-
schen, soll dieses Geld in eine Stabilitäts-
reserve wandern. Wie das jedoch im De-
tail funktioniert, ist selbst Experten noch
unklar. Kritiker warnen vor dem Geld-
experiment: Libra könnte als private Wäh-
rungsinitiative die Macht der Zentralban-
ken untergraben. Nutzerdaten könnten
im Zweifel unzureichend geschützt sein.
Nun prüft zudem die EU-Kommission, ob
das Projekt wettbewerbsrechtlich proble-
matisch ist. Die Libra-Gründer müssen al-
so beweisen, wie liberal sie wirklich ge-
stimmt sind. gojd

4 MEINUNG HF2 Samstag/Sonntag, 24./25.August 2019, Nr. 195 DEFGH


MINDERHEITSREGIERUNG

Pragmatisch


FPÖ

Poltergeist


JUSTIZ

Im Zweifel


Mit demUrteil von Chemnitz
verspielen
die Richter ihre Autorität

UMGANG MIT BETTLERN

Ein Armutszeugnis


Ein Törn im Golf von Biskaya sz-zeichnung: luismurschetz

USA


Macht der Willkür


von stefan kornelius


AKTUELLES LEXIKON


Libra


PROFIL


Małgorzata


Gersdorf


Vorkämpferin für
eine unabhängige
Justiz in Polen

Es steht schlimm um eine
Gesellschaft, die das Elend
aus ihrem Blick drängt

Donald Trump mag
durch seine
Unberechenbarkeit
Freund und Feind
erschrecken. Doch
zugleich zerstört
er den Einfluss
der USA in der Welt.
Das amerikanische
Jahrhundert
ist vorbei

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