Der Spiegel - 24.08.2019

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Quelle: INSM-Bildungsmonitor 2019

Abgebrochen
Anteil der Schulabgänger ohne Abschluss,
Angaben in Prozent, 2017

unter 6 % 6 % bis unter 8 % 8 % und mehr

Schleswig-
Holstein
7,5

Nieder-
sachsen
5,9
Nordrhein-
Westfalen
5,7

Bremen 8,3

Mecklenburg-
Vorpommern
8,8

Brandenburg
7,3

Berlin 9,2

Rheinland-
Pfalz
6,6

Hessen
4,9

Saarland
6,6
Baden-
Württemberg
6,6

Bayern
5,5

Thüringen
8,7

Sachsen
8,2

Sachsen-
Anhalt
10,0

Hamburg
5,2

Patricia hätte ohne die Hilfe von »Pre-
job« eine der Gescheiterten werden kön-
nen. Ihren Nachnamen möchte die 22-Jäh-
rige nicht öffentlich machen.
Fünf Jahre ist es nun her, als sie bei
der Hilfsorganisation »Off Road Kids«
anklopfte, die in mehreren deutschen
Großstädten Ausreißern und obdachlosen
Jugendlichen hilft. Ihre Kindheit hatte sie
in Pflegefamilien verbracht, später kam
sie auf Vermittlung der Jugendhilfe für ein
knappes Jahr bei Gasteltern in der Ukraine
unter. »Es hat mir gefallen dort«, sagt
Patricia. Sie habe sogar ganz passabel
Russisch gelernt.
Doch dann brachen in der Ukraine
Unruhen aus. Patricia musste nach
Deutschland zurückkehren – und glitt
wieder in alte Gewohnheiten ab.
Monatelang pendelte sie zwischen ver-
schiedenen Sofas von Freunden und
Bekannten hin und her, ihre Partner
wechselten, Patricia wurde schwanger.
»An Schule war schon lange nicht mehr
zu denken.«
Ihre letzte reguläre Klassenstufe war die
achte. Von einem Schulabschluss habe sie
zwar immer irgendwie geträumt. »Aber
dran geglaubt habe ich nicht mehr.« Von
den Sozialarbeitern bei »Off Road Kids«
habe sie erst mal nur wissen wollen, »wie
ich eine Meldeadresse bekommen kann –
dann wollte ich anfangen, ein paar Dinge
mit den Ämtern zu regeln«.
Wissenschaftler haben für Menschen
wie Patricia die Bezeichnung »entkoppelt«
geprägt: Sie besuchen keine Schule, ma-
chen keine Ausbildung, einige haben kei-
nen festen Wohnsitz, sie sind durch die
sozialen Netze gerutscht. Manche kämp-
fen mit psychischen Schwierigkeiten, an-
dere mit Suchtkrankheiten, die es schwer
machen, im Alltag zu bestehen.
In einer vielfach gebrochenen Bildungs-
biografie – ein paar Schuljahre hier, ein
paar Monate dort, dazwischen viel Leer-
lauf – verstärken sich die Probleme oft
wechselseitig. So beschreibt es Timm
Riesel, Leiter des Dortmunder Projekts
»Prejob«. In einer Studie aus dem Jahr
2015 schätzt das Deutsche Jugendinstitut
die Zahl der entkoppelten Minderjährigen
im Land auf 21 000.
»Irgendwann verlieren die Jugendlichen
den Anschluss zum staatlichen Schulsys-
tem«, sagt Riesel. »Je größer die Lücken
sind, umso schwieriger wird es, wieder ein-
zusteigen.«
Klassische Schulkurse zum Nachholen
der Abschlüsse, wie sie etwa die Volks-
hochschulen anbieten, helfen dann oft
nicht weiter. Wer überall und nirgends zu
Hause ist, tut sich schwer, einen ruhigen
Ort zum Lernen zu finden. Wie kann man
sich auf den Satz des Pythagoras oder Eng-
lischvokabeln konzentrieren, wenn nicht
einmal klar ist, ob man einen sicheren


Platz zum Schlafen und ein Abendessen
finden wird?
»Prejob« setzt da an, wo die üblichen
staatlichen Institutionen nicht weiter -
kommen. Die Finanzierung der aktuell
20 Schulplätze übernimmt die »SKala-Ini-
tiative« der BMW-Großaktionärin Susan-
ne Klatten. Neben Patricia haben zwei wei-
tere junge Erwachsene das Programm er-
folgreich abgeschlossen. Eine Ausweitung
auf andere Städte ist in Planung.
»Alles, was das Regelschulsystem aus-
macht, wollen wir vermeiden«, sagt Riesel.
»Wir möchten keine Strukturen, an denen
unsere Klienten schon einmal gescheitert
sind.« Es gibt weder Klassenverbände
noch einen festen Stundenplan, die Anwe-
senheitspflicht wird ziemlich locker ge-
handhabt. »Wer nicht kommen kann, weil
persönliche Schwierigkeiten im Weg ste-
hen, muss sich bloß bei uns abmelden.«
Die Prüfungstermine seien flexibel, erläu-
tert Riesel. »Ob jemand acht Monate oder
zwei Jahre braucht, ist uns erst einmal
egal.«
Einigen fällt es schon schwer, sich über
einen längeren Zeitraum mit anderen Men-
schen in einem Zimmer aufzuhalten und
zuzuhören. Riesel erzählt von einem sei-
ner Teilnehmer: »Da bin ich an manchen
Tagen schon froh, wenn wir eine halbe

Stunde ruhig nebeneinandersitzen und
Kaffee trinken können.«
Die Schüler lernen mit Materialien der
»Flex«-Fernschule, die in der Jugendhilfe
schon seit vielen Jahren eingesetzt werden.
Woche für Woche bekommen die Jugend-
lichen Aufgabenpakete für die Fächer Ma-
thematik, Deutsch, Englisch und Biologie
zugeschickt. Die fertig ausgefüllten Bögen
senden die »Prejob«-Mitarbeiter anschlie-
ßend zurück. So wird der Lernfortschritt
dokumentiert. Einsteigen kann jeder,
»auch wenn kaum noch Schulwissen
vorhanden ist«, sagt Riesel. Ein Einstu-
fungstest zeigt, wo der Schüler steht.
Die Aufgaben werden individuell
angepasst.
»Die ersten Monate waren ganz
schön anstrengend«, sagt Patricia.
»Ich war es nicht mehr gewohnt, mich
so lange zu konzentrieren.« Auch das
frühe Aufstehen sei ihr anfangs schwer -
gefallen. Mithilfe der Sozialarbeiter hatte
sie eine Wohnung gefunden. Der ersehnte
Rückzugsraum musste allerdings auch
gepflegt werden. »Nach Lernen, Haushalt
und Kinderbetreuung war ich abends echt
platt«, sagt Patricia. »Aber ich wollte es
unbedingt schaffen – auch für meine Toch-
ter.« Das Mädchen, das in die Kita und
zu einer Tagesmutter geht, solle es einmal
besser haben. »Dafür strenge ich mich
an.«
Zum Lernen hat »Prejob« drei Räume
eingerichtet, mit Laptops zum Recherchie-
ren, mit Schulbüchern und Nachschlage-
werken, mit Gruppentischen und Einzel-
nischen. Handys müssen stumm geschaltet
in der Tasche bleiben. »Es ist wichtig, dass
die Jugendlichen zum Bearbeiten der Auf-
gaben das Haus verlassen«, sagt Sozial -
arbeiter Riesel. »So bekommen sie einen
strukturierten Tagesablauf.«
Lehramtsstudierende der Universität
Dortmund helfen den Teilnehmern als
»Lernbegleiter«, wenn es Schwierigkeiten
gibt. »In Bio haben wir das Herz-Kreis-
lauf-System durchgenommen«, erzählt
Patricia, »und ich hab’s einfach nicht ge-
schnallt. Aber sie haben es mir immer
wieder erklärt, Bilder gezeigt, YouTube-
Videos rausgesucht – und irgendwann hat
es klick gemacht.«
Wenn nächste Woche die Sommerferien
in Nordrhein-Westfalen enden, beginnt
für Patricia eine neue Herausforderung.
Mit ihrem Schulabschluss hat sie sich an
einem Berufskolleg angemeldet, sie möch-
te das Fach abitur machen. »Ich bin ein
bisschen nervös«, gesteht sie. Immerhin
habe sie seit mehreren Jahren nicht mehr
in einem Klassenraum gesessen, keine rich-
tigen Mitschüler mehr gehabt. Die Tasche
mit Heften und Stiften hat sie schon
gepackt. Miriam Olbrisch
Mail: [email protected], Twitter: @olbi

DER SPIEGEL Nr. 35 / 24. 8. 2019 49
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