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Gesellschaft
Intervention ist die Norm. Angenommen, Sie werden an einem
öffentlichen Ort angegriffen oder geraten in Not, am Bahnsteig,
in der S-Bahn, in der Einkaufspassage: Glauben Sie, dass Umste-
hende eingreifen, Ihnen zu Hilfe eilen werden? Geschichten von
Vorfällen, in denen Zeugen achtlos an Notleidenden oder Drang-
salierten vorbeigehen oder nur gaffen, machen Schlagzeilen.
Das Phänomen hat sogar einen Namen, ist als »Zuschauereffekt«
oder »bystander apathy« bekannt und steht seit Jahrzehnten in
Lehrbüchern für Psychologiestudenten: Gemeint ist, grob verein-
facht, dass Augenzeugen umso weniger eingreifen, je mehr von
ihnen anwesend sind. Wie Passanten an abgelegenen Orten
reagieren, wo die Polizei nicht so schnell erscheint, bleibt offen.
Nun gibt eine Studie der Universität Lancaster Anlass zur Hoff-
nung, dass der Mensch doch besser ist als sein Ruf. Die For -
scher analysierten Aufnahmen von öffentlichen Überwachungs -
kameras in den Innenstädten von Amsterdam, Kapstadt und
Lancaster und fanden 219 Vorfälle »aggressiver Konflikte« im
öffent lichen Raum. In neun von zehn dieser Fälle, so das Resultat,
griffen Umstehende ein, um zu schlichten, um Opfern von
Gewalt zu helfen. »Intervention ist die Norm«, nicht die Ausnah-
me, sagt Richard Philpot, Hauptautor der Studie. Und je mehr
Leute anwesend waren, desto eher schritt jemand ein. Die Inter-
ventionswahrscheinlichkeit war in Südafrika ebenso hoch
wie in den beiden europäischen Städten. [email protected]
»Was für Amerika die Waffen sind, ist für Deutschland das Gaspedal.« ‣S. 52
DER SPIEGEL Nr. 35 / 24. 8. 2019
Natur
Muss ich Angst vor Fischen
haben, Herr Ritterbusch?
David Ritterbusch, 46, Biologe am
Institut für Binnenfischerei in Potsdam,
über Begegnungen zwischen
Menschen und übergroßen Wassertieren
SPIEGEL:Herr Ritterbusch, im Rhein wur-
de Anfang August ein 2,21 Meter langer
Wels gefangen. Wer öfter in Flüssen oder
Seen badet, hört so etwas nicht gern.
Muss ich Angst haben beim Schwimmen?
Ritterbusch:Dass ein Wels einen Men-
schen angreift, ist sehr, sehr selten.
SPIEGEL: Aber es kommt vor?
Ritterbusch:Es kommt allenfalls vor,
wenn ein Wels sein Laichnest verteidigt,
die männlichen Welse tun das. Aber
fressen will er Sie nicht. Sie gehören nicht
in sein Beuteschema.
SPIEGEL:Sondern?
Ritterbusch:Vor allem ernähren sie sich
von Fischen. Wassergeflügel fressen sie
allerdings auch. Oder Tauben, wenn die
am Ufer sitzen.
SPIEGEL: Und Dackel? Oder ist das nur
eine Legende?
Ritterbusch:Einen Dackel kann ein Wels
schon mal erwischen, wenn es ein kleiner
Dackel ist. Aber: Gewohnheitsmäßig
macht er das sicher nicht.
SPIEGEL: So ein großes Tier rührt
offenbar an tief sitzende Ängste. Wenn
man die Fotografien von Welsen
sieht – manche fühlen sich gar an Haie
erin nert.
Ritterbusch:Diese Assoziation habe
ich nicht. Der Wels ist anders gebaut, sein
Maul ist nicht wie beim Hai nach unten,
sondern nach oben gerichtet, und spitze
Zähne hat er auch nicht – nur sogenann -
te Hechelzähne. Die reiben und schaben,
tiefe Fleischwunden reißen sie nicht.
SPIEGEL:Es gibt ja immer mehr und
immer größere Welse hierzulande, liegt
das am Klimawandel?
Ritterbusch:Das ist möglich. Möglich ist
auch, dass die verbesserte Gewässer -
qualität eine Rolle spielt.
SPIEGEL: Also sollten sich Naturschwim-
mer an den Gedanken gewöhnen, dass
unter ihnen etwas Großes lebt. Und wo -
möglich auf die Idee kommt, ein Nest
zu verteidigen.
Ritterbusch:Das macht der Zander auch,
und der hat richtige Zähne. Dafür ist sein
Maul aber nur fünf Zentimeter breit. Nein,
keine Sorge. Blaualgen sind gefährlicher.BSU
In 9 von 10 »aggressiven Konflikten« in Innenstädten griffen Umstehende
laut einer Studie ein, um zu schlichten oder Gewaltopfern zu helfen.
Nº 190: Zivilcourage Quelle: Richard Philpot, Lancaster University
Früher war alles schlechter
A. HARTL / BLICKWINKEL
Wels