E
r hatte schon im Wohnmobil ge-
sessen, bereit zur Abfahrt in den
Italienurlaub. Doch als das Tor
aufging, erinnert sich Marcel Kit-
tel, 31, habe er gewusst, dass jetzt der Mo-
ment gekommen sei. Der Moment, es sei-
nem wohl größten Fan zu sagen. Seinem
Va t e r.
Kittel sprang aus dem Wagen, rannte
zurück zu seinem Elternhaus in Ichters-
hausen, Thüringen. Er traf seinen Vater
bei den Mülltonnen an. »Es hat sich
angefühlt, als ob da zwei schüchterne
Jungen voreinanderstehen«, beschreibt
Kittel die Szene. »Und dann habe ich es
ihm gesagt, dass ich zu 98 Prozent auf -
höre.« Sein Vater Matthias, 57, habe ge-
nickt. »Du musst das wissen«, antwortete
er. »Aber ich verstehe dich.« Sie umarm-
ten sich. Noch Wochen später kommen
Vater und Sohn die Tränen, wenn sie auf
diese Minuten zurückblicken, unabhängig
voneinander.
Die Leidenschaft für den Radsport ver-
bindet sie seit 20 Jahren. Angefangen hatte
es mit einem kleinen blauen Rennrad aus
Alu. In einem Sommerurlaub in Tirol hatte
Marcel, damals zwölf Jahre alt, seinem Va-
ter täglich in den Ohren gelegen, dass er
so ein Fahrrad haben möchte.
»Ich habe erst abgewinkt«, sagt Vater
Kittel, selbst einst Leistungssportler, »ich
dachte, das steht am Ende nur
in der Ecke. Aber er hat nicht
locker gelassen.«
Ihre erste Tour damals ging
gleich über 30 Kilometer. »Da-
nach war ich total im Eimer,
aber das Gefühl fand ich irgend-
wie cool«, sagt Marcel Kittel
heute und grinst.
»Er hat sich da durchgebis-
sen, ohne zu maulen. Das hat
mich schwer beeindruckt«, sagt
Matthias Kittel. Nicht ahnend,
dass aus seinem Sohn eines Ta-
ges einer der erfolgreichsten
Sprinter der Welt würde, der 14
Etappensiege bei der Tour de
France einfährt, mehr als jeder
andere deutsche Fahrer.
»Er ist der weltbeste Sprin-
ter«, sagt sein ehemaliger
Teamkollege Tony Martin.
»Er hat einen ganzen Sack voller Talent«,
sagt sein Manager Jörg Werner.
»International gehörte er zu den Top
fünf«, sagt sein ehemaliger Trainer Merijn
Zeeman.
Doch Marcel Kittel sagt: »Ich bin durch
damit.«
Bei einem ersten Treffen, Mitte Juli
im Garten eines Cafés in Niedersachsen,
versucht Kittel zu erklären, warum das
so ist.
Es ist heiß an diesem Tag. Er trägt eine
kurze Hose und Flipflops. Um seinen Hals
eine Goldkette, daran baumelt ein golde-
nes Fahrrad, ein Geschenk seiner Freun-
din, sowie ein Skarabäus, den ägyptischen
Glücksbringer bekam er von seiner inzwi-
schen verstorbenen Oma.
Kittel ist braun gebrannt, seine blonden
Haare sitzen perfekt, wie immer. Er hätte
auch gut in eine Teenieband gepasst.
Auf Bierbänken am Nachbartisch hat
sich eine Ausflugstruppe niedergelassen.
Männer und Frauen in Trekkingklamotten,
etwa Mitte fünfzig bis Mitte sechzig. Im-
mer wieder gucken sie zu Kittel rüber.
Seine Fans, die Radsportszene, alle glau-
ben zu diesem Zeitpunkt noch, dass er sich
nur eine Auszeit nimmt. Kittel redet da-
raufhin leiser weiter. Seit Monaten, sagt er,
habe er nicht mehr trainiert. »Ich habe jede
Motivation verloren, mich weiter auf dem
Rad zu quälen.« Wie er es sagt,
klingt es fast entschuldigend.
Für drei verschiedene Teams
trat Kittel in seiner Karriere an.
Zuletzt trug er das Trikot von
Katusha Alpecin, einem russi-
schen Rennstall mit Schweizer
Lizenz. Die Erfahrungen dort,
sagt Kittel, hätten den Anstoß
gegeben, über sein Karriere -
ende nachzudenken.
Im Mai dieses Jahres löste
Kittel seinen Vertrag frühzeitig
auf. »Sie dachten, sie kennen
mich besser als ich mich«, sagt
er. »Am Ende bin ich als
Mensch nur noch unglücklich
gewesen, ich war mit den Ner-
ven durch.« Es sind Worte, die
sich schwer in Einklang brin-
gen lassen mit dem Bild des
1,88 Meter großen Sonnyboys.
Es scheint ihn zu drängen, verständlich
zu machen, was das Leben eines Radprofis
bedeutet: viele Reisen, wenig Schlaf und
viele Schmerzen.
Profis wie Kittel kommen auf etwa
70 Renn tageim Jahr. Die größte Bühne des
Radsports ist die Tour de France. In 21 Etap-
pen legen die Fahrer 3500 Kilometer zu-
rück, überwinden auf manchen Abschnit-
ten um die 5000 Höhenmeter. Dazu kom-
men noch die spanische Vuelta, 21 Etappen,
3300 Kilometer, oder der Giro d’Italia,
21 Etappen, 3500 Kilometer. In kaum ei-
nem Sport ist die Belastung so hoch.
»Schmerzen definieren den Sport, die
Welt, in der du lebst«, sagt Kittel. Am
Ende entscheide sich ein Wettkampf auch
daran, wer diese am längsten ertragen
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Sport
Alles auf null
RadsportMarcel Kittel ist einer der erfolgreichsten Profis. Er
könnte noch viele Siege einfahren, doch jetzt,
mit 31 Jahren, verkündet er sein Karriereende. Was ist passiert?
Von Antje Windmann
Schnelle Beine
Ausgewählte Erfolge von
Marcel Kittel
Etappensiege bei der
Tour de France
2013 bis 2017
14
Etappensiege beim
Giro d’Italia
2014 bis 2016
4
Etappensieg bei der
Vuelta a España
2011
1