von harald freiberger
München– FürSparkassen-Präsident Hel-
mut Schleweis ist die Sache klar: „Lieber
Herr Draghi“, schrieb er vor Kurzem in ei-
nem offenen Brief an den Chef der Europäi-
schen Zentralbank (EZB). „Was Sie tun, ist
falsch. Sie haben den Zins abgeschafft. Es
ist Zeit umzukehren.“ So wie Schleweis den-
ken in Deutschland viele Banken und Versi-
cherungen, viele Sparer und Versicherte.
Die EZB war es, die den Zins auf null ge-
senkt, die Finanzmärkte mit Geld über-
schwemmt und die Sparer um ihre Erträge
gebracht hat.
Doch was wäre, wenn gar nicht Mario
Draghi schuld wäre? Wenn er ein Opfer der
ökonomischen Umstände wäre und gar
nicht anders könnte? Wenn es so etwas wie
einen natürlichen Zins gäbe, an dem sich
die Notenbank orientieren muss?
Genau diese Diskussion wird derzeit un-
ter Fachleuten geführt, und sie nimmt gera-
de Fahrt auf. Immer häufiger taucht das
Konzept des „natürlichen Zinses“ auf, das
der schwedische Ökonom Knut Wicksell
bereits Ende des 19. Jahrhunderts entwi-
ckelte. Er definierte den natürlichen Zins
als jene Rate, bei der der Gütermarkt im
Gleichgewicht und das Preisniveau stabil
sind. Es ist demnach ein Zins, der um kon-
junkturelle Einflüsse, Schwankungen der
Preise und Eingriffe der Notenbanken be-
reinigt ist.
Der Grundgedanke ist, dass der natürli-
che Zins sich in einer Volkswirtschaft
durch einen komplizierten Prozess aus An-
gebot und Nachfrage bildet. Das Angebot
sind die Ersparnisse der Bürger, die Nach-
frage sind die Kredite, die vor allem Unter-
nehmen aufnehmen, um zu investieren.
Der natürliche Zins vermittelt zwischen
beidem, er gleicht Angebot und Nachfrage
aus. Er ist, so die Annahme, in den vergan-
genen Jahren deshalb gesunken, weil das
Angebot gestiegen ist und die Nachfrage
nachgelassen hat.
Das hat zunächst einmal demografische
Ursachen. Die Generation der Babyboo-
mer, die langsam in die Rente kommt, kon-
sumiert heute weniger und spart mehr als
frühere Generationen, auch weil sie fürch-
tet, dass die staatliche Rente künftig nicht
mehr reicht. Auch in den USA sparen die
Bürger heute fast ein Zehntel ihres Einkom-
mens, vor zehn Jahren lag die Sparquote
noch im negativen Bereich.
Auf der anderen Seite fragen Unterneh-
men nicht mehr so viel Kredite nach wie
früher. Ökonomen erklären sich dies da-
mit, dass die digitalisierte Wirtschaft weit
weniger kapitalintensiv ist. Ein Konzern
wie Facebook braucht nur ein Verwaltungs-
gebäude und nicht ein weltweites Netz von
Fabriken wie ein Automobilkonzern.
Vor etwa fünf Jahren tauchte das Kon-
zept des „natürlichen Zinses“ in der Dis-
kussion um die Geldpolitik auf. Richtig
Karriere macht der Begriff seit Anfang die-
ses Jahres, in dem die Zinsen noch einmal
stark gesunken sind, weil die Notenban-
ken die Zinswende abgesagt haben. Inzwi-
schen notiert in Europa ein Drittel aller
Staatsanleihen im negativen Bereich, welt-
weit sind es Papiere im Wert von 15 Billio-
nen Dollar. Die Welt versinkt in einem Oze-
an von fallenden und negativen Zinsen,
und in dieser Welt spült es den Begriff vom
„natürlichen Zins“ nach oben. Auch auf
dem Treffen internationaler Notenbanker
am vorletzten Wochenende in Jackson Ho-
le spielte er eine wichtige Rolle.
Einer der Ökonomen, die das Konzept
vertreten, ist Joachim Fels, der Chefvolks-
wirt der Allianz-Tochter Pimco, des größ-
ten Anleiheninvestors der Welt. Er räumt
ein, dass es sich um ein „Gedankenkons-
trukt“ und um „Theorie“ handle. Und trotz-
dem sei es sehr plausibel, dass es den natür-
lichen Zins gebe, er sei eine Möglichkeit zu
erklären, wie sich Zinsen bilden – und wie
sich Notenbanken verhalten sollten.
Für Fels ist der natürliche Zins eine ange-
nommene Größe, die die Wirtschaft im
Gleichgewicht halte, Wachstum und Inflati-
on seien dabei weder zu niedrig noch zu
hoch, die Konjunktur unterkühle weder
noch überhitze sie. „Die Notenbank müss-
te den Leitzins demnach auf Höhe des na-
türlichen Zinses setzen, um diesen Zu-
stand des Gleichgewichts zu erreichen.“
Sei er zu niedrig, gebe es Inflation, sei er zu
hoch, folge daraus Deflation.
„Wenn der reale Zins in Europa unter
dem natürlichen Zins wäre, hätten wir eine
boomende Wirtschaft und hohe Inflation,
aber wir haben gerade das Gegenteil: eine
schwache Wirtschaft und niedrige Inflati-
on“, sagt Fels. Das sei für ihn ein Anzeichen
dafür, dass der natürliche Zins noch unter
dem realen liege. Nichts an den niedrigen
Zinsen in Europa sei deshalb unnatürlich,
„die EZB-Politik ist gar nicht so locker, wie
viele Leute behaupten“. Deshalb ist es für
Fels zu kurz gegriffen, den Notenbanken
die Schuld an den niedrigen Zinsen zu ge-
ben, die EZB sei „eher Opfer als Täter“.
Elmar Völker, Anleihenexperte der Lan-
desbank Baden-Württemberg, sieht die
Diskussion etwas distanzierter. „Der natür-
liche Zins ist ein rein theoretisches Kons-
trukt, er lässt sich nirgendwo beobachten
und ist nirgendwo ablesbar“, sagt er. Der
Zins lasse sich nur mit ökonometrischen
Modellen berechnen, das Ergebnis hänge
also stark von den Annahmen ab. Trotz-
dem sagt Völker: „Ich würde nicht abstrei-
ten, dass er Einfluss auf die Finanzmärkte
hat.“ Auch er ist überzeugt, dass die EZB
„gefangen ist in den ökonomischen Um-
ständen“. Sie setze den Zins nicht willkür-
lich fest, um Schuldenstaaten zu helfen, es
gebe eine reale ökonomische Grundlage
für dieses Handeln.
Chefökonom Fels sieht einen indirekten
Beweis für die Existenz des natürlichen
Zinses: die gescheiterten Versuche von No-
tenbanken, aus der Welt des Niedrigzinses
auszubrechen. So erhöhte die EZB 2011
den Zins überraschend, 2018 ging die US-
Notenbank Fed mehrere Zinsschritte nach
oben – offenbar zu viele. Die Folge waren
Turbulenzen an den Finanzmärkten Ende
des vergangenen Jahres – und anschlie-
ßend die Wende von der Zinswende. Die No-
tenbanken signalisierten Anfang 2019,
dass sie die Zinsen eher senken werden, als
sie zu erhöhen. Das Ergebnis war ein extre-
mer Zinsrutsch auf den Finanzmärkten.
Die Renditen von Anleihen liegen heute so
niedrig wie noch nie. „Die Notenbanken
mussten dem natürlichen Zins folgen“,
sagt Fels.
Anders Jörg Krämer, Chefvolkswirt der
Commerzbank: Er will die EZB nicht ganz
freisprechen. Er glaubt auch, dass der na-
türliche Zins wegen des Überhangs an Er-
sparnissen gefallen ist. Doch trage die EZB,
vor allem mit ihren Anleihekäufen, selbst
erheblich dazu bei, dass die realen Zinsen
am Markt immer weiter fallen. Und darauf
reagiere sie mit einer weiteren Lockerung
der Geldpolitik. „Die EZB ähnelt einer Kat-
ze, die ihrem eigenen Schwanz immer
schneller hinterherjagt“, sagt Krämer.
Joachim Fels dagegen sieht die EZB als
Getriebene. Er fragt sich: Was würde pas-
sieren, wenn Draghi, wie es Banken und
Versicherungen fordern, den Leitzins auf
eine früher normale Höhe von zum Bei-
spiel drei Prozent hochsetzte? Aktienkurse
würden einbrechen, Anleihenrenditen
und Geldmarktzinsen steigen, zugleich
würden Unternehmen noch viel weniger in-
vestieren als jetzt schon, „die Wirtschaft
wäre endgültig in der Rezession, und die
Preise würden in Richtung Deflation mar-
schieren“, sagt Fels – also in jenen Zustand,
den Ökonomen so fürchten, weil Verbrau-
cher und Unternehmen dann nichts mehr
kaufen und nicht mehr investieren, da sie
ständig weiter sinkende Preise erwarten.
„Ich wage zu bezweifeln, dass dies der Fi-
nanzindustrie helfen würde.“
15 Prozent extra auf Windeln, Fernseher,
Bücher und Turnschuhe: Seit Sonntag
erheben die USA Sonderzölle auf weitere Produkte, die in China hergestellt werden.
Damit ist eine weitere Runde im Handelsstreit der beiden größten Volkswirtschaften
eingeläutet, der seit einem Jahr bereits läuft und auch die Weltkonjunktur bremst. US-
Präsident Donald Trump will China zum Abschluss eines umfassenden Handelsabkom-
mens bewegen. Die Verhandlungen sind festgefahren, sollen aber vielleicht diesen
Monatwieder aufgenommen werden. Sollte es zu keiner Einigung kommen, dürften
das bald die US-Verbraucher spüren, wie in diesem Laden von Jennifer Lee in San Fran-
cisco, wo viele Schuhe Made in China angeboten werden: Die Händler werden die
Zwangsabgaben alsbald weiterreichen. Als unmittelbare Reaktion verhängte China am
Sonntag übrigens Gegenzölle auf Importe aus den USA. Zehn Prozent werden zusätzlich
auf Importe von Fleisch, Mais, Kleidung und Lederwaren erhoben. Fünf Prozent extra
kostet nun die Einfuhr von Milch und Chemikalien aus den USA. sz FOTO: TERRY CHEA /AP
München/Washington– Eswirkt wie ei-
ne neue Schummelsoftware bei Volkswa-
gen, Verbraucherschützer fürchten sogar,
ein neuer Skandal bei Volkswagen könnte
offenbar werden. Spätabends am Freitag
meldete die US-Dependance des Wolfsbur-
ger Konzerns: Man habe sich in einem
Streit mit Privatklägern wegen unzutref-
fender Spritangaben geeinigt: 98 000 Kun-
den werde man entschädigen und ihnen
zwischen 5,40 und 24,30 Dollar pro Monat
erstatten, weil Verbrauchsinformationen
bei ihren Wagen nicht stimmten. Es geht
um Modelle der Marken Audi, VW, Porsche
und Bentley aus den Jahren 2013 bis 2017.
Die US-Umweltbehörde EPA erklärt,
man habe in fast einer Million Autos eine
Software gefunden. Diese führe dazu, dass
die Gänge während Behördentests derart
geschaltet würden, dass die Verbrauchs-
werte und Emissionen der Wagen „manch-
mal“ geschönt würden – im Vergleich zum
Realbetrieb. Im Durchschnitt würden die
betroffenen Wagen pro Liter 400 Meter we-
niger weit fahren als angegeben.
In der Lesart von Volkswagen ist das ei-
ne ärgerliche Sache, aber mehr ein techni-
scher Fehler. Explizit betont der Konzern,
mit dem Vergleich werde kein Fehlverhal-
ten eingeräumt. In den Autos befinde sich
eine Software, die für das Funktionieren
des Automatikgetriebes zuständig sei, et-
wa für den „Getriebewarmlauf“. Manch-
mal habe die Technik zugunsten der Kun-
den geschaltet, manchmal zulasten von ih-
nen. Es gehe dabei nur um Unterschiede
im einstelligen Prozentbereich, den die
deutsche Justiz im Übrigen dulde. Eine Prü-
fung von mehr als zehn Millionen Fahrzeu-
gen im Konzern habe in der EU keine ver-
gleichbaren Fälle gezeigt. Von Schummel-
software oder einem neuen Skandal könne
also keine Rede sein. Der Volkswagen-Kon-
zern hatte 2015 eingestanden, dass in den
USA Hunderttausende Diesel-Autos mit
einer Software fuhren, die bei Prüfstand
den Stickoxid-Ausstoß schönt. Tatsächlich
ist die Angelegenheit, wenn auch nur kryp-
tisch, im Geschäftsbericht 2017 der Kon-
zerntochter Audi erwähnt.
Die Deutsche Umwelthilfe (DUH)
kommt zu einem anderen Schluss. Die Ent-
deckungen in den USA zeigten beispielhaft
die Schummeleien der Autokonzerne beim
Sprit-Verbrauch und damit auch beim CO2-
Ausstoß. „Die DUH kritisiert seit 2007,
dass die Autokonzerne falsche, zu niedrige
Angaben zum CO2-Ausstoß ihrer Benzin-
wie Diesel-Neufahrzeuge machen“, sagt
DUH-Geschäftsführer Jürgen Resch. „Die-
se kommen auch durch illegale Abschalt-
einrichtungen zustande.“ Dieser „Betrug“
sei „mindestens genauso groß“ wie beim
Diesel-Abgasskandal.
VW verhalte sich dabei besonders ver-
dächtig. So habe es offenbar eine Selbstan-
zeige gegeben, bei der das Unternehmen
deutschen Behörden fehlerhafte Spritanga-
ben bei 800 000 Autos einräume. Doch
was im Detail darin stehe, sei unklar: „Ob-
wohl wir in beiden Instanzen vor dem Ver-
waltungsgericht Berlin und dem dortigen
Oberverwaltungsgericht Recht bekom-
men haben, verweigert Verkehrsminister
Andreas Scheuer weiterhin die Herausga-
be dieser Skandalakte“, sagt DUH-Chef
Resch. Die Erkenntnisse der US-Behörden
müssten Anlass sein für das Verkehrsmi-
nisterium, „endlich alle vorliegenden Do-
kumente und Messprotokolle zum CO2-Be-
trug zu veröffentlichen“. max hägler
DEFGH Nr. 202, Montag, 2. September 2019 15
Volkswagen ist weiter im Blick der US-Be-
hörden, diesmal geht es um Sprit.FOTO: DPA
von michael bauchmüller
E
s war einmal eine Energiewende,
voll von großen Verheißungen. Er-
neuerbare Energie sollte erst den
Strom aus Atomkraft, dann den aus Kohle
ersetzen. Und weil Wind und Sonne in Spit-
zenzeiten mehr als genug Strom lieferten,
sollte ihr Strom auch noch die Batterien
von Elektroautos füllen und Wärmepum-
pen betreiben. So sollte es aussehen, das
saubere, klimafreundliche Deutschland,
ein Vorreiter unter den Industriestaaten.
Doch das grüne Märchen ist in Gefahr.
Wenn Bundeswirtschaftsminister Pe-
ter Altmaier in dieser Woche zum „Wind-
gipfel“ einlädt, dann spiegelt das durch-
aus den Ernst der Lage. Der Ausbau der
Windkraft ist fast völlig zum Erliegen
gekommen. An Ausschreibungen für
neue Ökostrom-Förderung beteiligen
sich kaum noch Firmen. Im ganzen ersten
Halbjahr gingen ganze 86 Windräder ans
Netz. Zieht man die Anlagen ab, die gleich-
zeitig ihren Dienst einstellten, bleiben 35.
Hunderte Windräder stecken in Genehmi-
gungsverfahren fest oder es gibt Klagen
gegen sie. Der Boom ist nicht einfach nur
zu Ende: Es droht die Wende rückwärts.
Massenhaft werden in den nächsten
Jahren Windräder aus der Förderung fal-
len. Dann endet für sie die 20-jährige För-
derung nach dem Ökostrom-Gesetz EEG.
Viele von ihnen lassen sich nicht weiter
nutzen und auch nicht durch neue, größe-
re Anlagen ersetzen; sie bekommen die Ge-
nehmigung nicht mehr. Unter dem Strich
könnte damit dem massiven Zubau der
massive Abbau folgen – in einer Phase, in
der Windstrom so günstig ist wie nie; in
der eine Bundesregierung fieberhaft nach
Wegen zu mehr Klimaschutz sucht.
Doch in der Debatte über die deutschen
Klimaziele spielen ausgerechnet die erneu-
erbaren Energien eine Nebenrolle – die bis-
lang einzige echte Klima-Erfolgsgeschich-
teMade in Germany. Mit Leidenschaft
streitet die Koalition über CO2-Steuern
und Emissionshandel, über die Förderung
der Gebäudesanierung und der Elektromo-
bilität. Beim Ökostrom dagegen ruht sie
sich auf ihren Zielen aus: Bis 2030 soll der
Anteil bei 65 Prozent liegen, und mehr als
die Hälfte ist schließlich schon geschafft.
Die klimafreundliche Stromversorgung
scheint nicht das Problem zu sein.
Was für ein Irrtum. Die Wahrheit ist:
Mit jeder Ausschreibung, an der sich nicht
genug Windparks beteiligen; mit jedem
Projekt, das Firmen entnervt zu den Ak-
ten legen; mit jedem Windrad, das nach
Ende der Förderung ersatzlos stillgelegt
wird, rückt das Ziel in die Ferne. Selbst die
Industrie schlägt Alarm. Mehr Tempo, for-
derte jüngst der Industrie- und Handels-
kammertag. Das Land sei von der Überhol-
spur auf den Standstreifen gewechselt.
Verschärft wird das Problem noch da-
durch, dass die klimafreundliche Zukunft
nach Lage der Dinge mehr Strom braucht.
Vor allem die Elektromobilität, aber auch
Wärmepumpen werden den Bedarf schon
in der nächsten Dekade wachsen lassen.
65 Prozent am Strommix im Jahr 2030
verlangen damit mehr Wind- und Solar-
parks als 65 Prozent im Jahr 2020.
Das Problem bahnt sich schon länger
an, doch die Bundesregierung duckt sich
weg. Sie will den Windkraftgegnern in der
AfD keine Nahrung geben und verschanzt
sich hinter mangelnder Akzeptanz. Sie
hat es aufgegeben, für ein Land zu wer-
ben, das sich mithilfe von Ökostrom von
fossilen Importen wie Steinkohle oder ir-
gendwann auch Erdgas unabhängig
macht, das für seinen Strom weder Löcher
in die Landschaft reißen muss noch weite-
ren Atommüll erzeugt. Die Regierung
könnte stolz sein auf eine Energiewende,
die neue Märkte für hiesige Ingenieurs-
kunst und namentlich an der Küste ein un-
geahntes Jobwunder schuf. Stattdessen
hält sie Distanz zu dem Projekt, als hande-
le es sich um eine in Ungnade gefallene
Verwandte. Es naht eine weitere Bankrott-
erklärung deutscher Klimapolitik.
Die Widerstände vor Ort lassen sich
nicht wegreden. Ein Windrad verändert
die Landschaft, und viele Windräder auf
einem Fleck können sie verschandeln.
Aber häufig fehlt den Windparks die Bin-
dung an die Region. Anonyme Projektfir-
men scheffeln das Geld, in der Kommune
bleibt allenfalls die Pacht, die irgendein
Landwirt für die Flächen erhält. Das muss
sich ändern. Gemeinden müssen stärker
partizipieren, wenn auf ihrem Gebiet ein
Windpark entsteht, etwa durch eine Abga-
be. Auch pauschale Einschränkungen wie
Abstandsregelungen müssen fallen; und
für windschwache Regionen braucht es
neue Förderanreize, damit sich die Parks
besser über das Land verteilen. Eine Poli-
tik, die sich für den Klimaschutz stark
macht, muss auch wieder offensiver und
mutiger erklären, warum Windräder ein
unabdingbarer Teil der Lösung sind.
Sonst scheitert die Energiewende.
Die Gegend rund um den Frankfurter Ring
im Münchner Norden ist eigentlich die per-
fekte Location für David Gagliardi. Hier,
nicht weit entfernt vom Olympiapark, sitzt
er quasi mittendrin in der deutschen Auto-
mobilszene: Der Stadtteil Milbertshofen
ist BMW-Land, die Autofabriken des bay-
erischen Herstellers sind nur einen Stein-
wurf entfernt, daneben haben sich große
Autohäuser und Zulieferer niedergelassen.
Für den Deutschlandchef des italieni-
schen Design- und Karosseriebau-Unter-
nehmens Pininfarina ist dieses Umfeld
nicht ganz unwichtig. „Der Markt ist nicht
woanders, der Markt ist hier“, sagt der
46-jährige Italiener. „Wenn Sie sich hier
mal umschauen – es sind alle da. Daimler,
Audi, BMW. 80 Prozent unseres Umsatzes
etwa kommt heute von BMW.“ Was natür-
lich nicht bedeute, dass man nicht auch für
alle anderen arbeite.
Pininfarina, das ist eine der drei großen
alten norditalienischen Designschmieden.
Drei Traditionsfirmen, drei sehr unter-
schiedliche Wege: Bertone, der Designer
von Klassikern wie dem Alfa Romeo Coupé
- seit 2014 pleite. Italdesign Giugiaro – ge-
hört schon seit einigen Jahren zum VW-
Konzern. Und Pininfarina hat mit dem Ma-
hindra-Konzern heute einen indischen
Großaktionär. 650 Mitarbeiter hat das Un-
ternehmen, 250 davon im Autoland
Deutschland. Man kann es wohl so sagen:
Am Standort München entscheidet sich vie-
les für das im Jahre 1930 als Carrozzeria Pi-
nin Fariná gegründete Unternehmen.
Gagliardi rechnet für dieses Jahr mit ei-
nem Deutschland-Umsatz von knapp un-
ter 25 Millionen Euro, ein Betrag, den er in
den nächsten drei Jahren verdoppeln will.
„Wenn wir als Pininfarina in Deutschland
klein bleiben und nur als kleines Büro agie-
ren, haben wir keine Zukunft“, glaubt er.
„Deshalb denken wir auch an Akquisitio-
nen von kleineren Unternehmen mit inno-
vativen Zukunftstechnologien.“ Natürlich
sind die Zeiten für solche Pläne nicht gera-
de ideal. Die erfolgsverwöhnte Vorzeige-
branche schlittert gerade in eine veritable
Krise, die Investitionen in die Elektromobi-
lität sind hoch, und der Kuchen werde „ge-
rade nicht größer. Wenn wir wachsen wol-
len, müssen wir von den Tellern der ande-
ren essen“, sagt Gagliardi. Was man durch-
aus als Kampfansage verstehen kann.
An der Wand seines Büros hängen die
Bilder seiner Kinder, und als er selbst noch
jung war, las Gagliardi die italienische Au-
tozeitschriftQuattro ruote. Er habe sich,
sagt er heute, alles gemerkt, was da über
die Autos jener Zeit drin stand, vor allem
die PS- und die Hubraum-Zahlen. 2005
kam er nach Deutschland und heuerte
beim britischen Zulieferer Ricardo in
Schwäbisch Gmünd an. Dort, sagt er, seien
ihm die Unterschiede zwischen Deutsch-
land und Italien aufgefallen. „Hier siezen
sich auch noch Leute, die schon seit Jahren
zusammenarbeiten. In Italien ist man un-
ter Kollegen nach zwei Minuten beim Du.“
Und noch etwas fiel ihm ziemlich
schnell auf: Der Umgang mit langfristigen
Strategien. In Deutschland würden die Din-
ge nach einigen Diskussionen entschieden
und konsequent umgesetzt – und dabei
bleibe es dann auch. In Italien neige man
dazu, bereits getroffene Entscheidungen
auch mal zu revidieren. „Diese strategi-
sche Prägung ist allgemein in Italien selte-
ner zu finden“, sagt Gagliardi.
In einem Job, in dem es nicht nur auf
den nächsten großen Technologiesprung
ankommt, sondern auch auf die richtige
Kommunikation zwischen den verschiede-
nen Managementkulturen, können solche
Erkenntnisse ziemlich viel wert sein.
Längst hat Gagliardi mehr als nur die Auto-
bauer im Visier. „Wir wollen das Design-
Know-how von Pininfarina künftig auch
verstärkt für andere Kunden nutzen – zum
Beispiel Haushaltsgeräte- und Küchenher-
steller.“ thomas fromm
Nun auch die Sneaker
Falsche Sprit-Angaben
Die Deutsche Umwelthilfe sieht neuen Skandal bei Volkswagen – der Konzern spricht von einem technischen Fehler
WIRTSCHAFT
NAHAUFNAHME
„Der Kuchen hier wird
gerade nicht größer.
Wenn wir wachsen
wollen, müssen wir
von den Tellern der
anderen essen.“
David Gagliardi
FOTO: OH
Natürlich niedrig
Die Zinsen fallen und fallen, der Sündenbock scheint gefunden: die EZB. Doch ist es so einfach? Fachleute zweifeln
zunehmend am Einfluss der Notenbanken. Sie glauben an einen „natürlichen Zins“ – und der sinke nun mal
ÖKOSTROM
Ende einer Wende
Mittendrin im Autoland
Pininfarina-Deutschlandchef David Gagliardi hat große Pläne
Ist die europäische Notenbank
„eher Opfer als Täter“?
Manche Ökonomen sehen dies so
Die Politik muss mutiger
erklären, warum Windräder ein
wichtiger Teil der Lösung sind
„Die EZB ähnelt einer Katze,
die ihrem eigenen Schwanz
immer schneller hinterherjagt.“