Handelsblatt - 22.08.2019

(ff) #1
Thomas Tuma Frankfurt

L


othar Schmidt hat ein Herz für Uhren-
freunde – sogar eines aus Vollmilch-
schokolade. In seiner neuen Firmen-
zentrale liegen die Süßigkeiten überall
schälchenweise herum. Die Idee zu
den rot verpackten Herzchen hat er sich woanders
abgeguckt: Als es Air Berlin noch gab, fand der Un-
ternehmer die süßen Abschiedsgeschenke der Ste-
wardessen einfach nett. Sie versöhnten verärgerte
Passagiere, wenn der Flug wieder Verspätung hat-
te. Seither glaubt auch Schmidt an die segensreiche
Kraft der Kohlenhydrate, wenngleich er seine Kun-
den gar nicht besänftigen muss.
Die sind nämlich durchaus zufrieden mit seiner
Firma, Sinn Spezialuhren, was sich schon an den
Preisen und Jubiläen ablesen lässt, die Schmidt ak-
tuell feiern kann: Gerade erst bekam er den Red
Dot Product Design Award für die Armbanduhr
EZM 12 (Abkürzung für Einsatzzeitmesser), die sich
vor allem an Luftrettungsprofis richtet. Anfang
September feiert seine „Finanzplatzuhr“, die er
einst eigens für Frankfurt entwarf, ihren 20. Ge-
burtstag. Und für Schmidt selbst jährt sich dann
zum 25. Mal sein Einstieg bei Sinn.
Nicht schlecht für ein Unternehmen, das es in
dieser Branche eigentlich gar nicht geben dürfte.
Uhren werden nun mal vor allem in der Schweiz
produziert. Und wenn sie überhaupt aus Deutsch-
land kommen, dann doch eher aus dem Schwarz-
wald ( Junghans) oder Glashütte, wo neben ein
paar unabhängigen Marken wie Nomos und Tuti-
ma mittlerweile auch die großen Schweizer Kon-

zerne vertreten sind – von Richemont (A. Lange &
Söhne) bis zur Swatch Group (Glashütte Original,
Union Glashütte). Aber hochwertige mechanische
Armbanduhren aus dem Frankfurter Stadtteil Sos-
senheim – ohne Konzern im Rücken?
Und das ist nicht die einzige Besonderheit von
Sinn Spezialuhren: Schmidt verkauft seine Zeitmes-
ser obendrein auch noch via Direktvertrieb, der in
der feinen Uhrenindustrie in etwa so beliebt ist wie
Hautausschlag. Zwar kooperiert er auch mit 80 sta-
tionären Händlern, bei Schmidt „Depots“ genannt.
Aber das Gros des Geschäfts läuft in Eigenregie,
ganz analog und zum Anfassen in der Zentrale in
Frankfurt oder digital im eigenen Onlineshop so-
wie über die Uhren-Plattform Chronext. Wichtig sei
Preisstabilität. Und die sei gewährleistet.
Schmidt verkauft rund 14 000 Uhren jährlich zu
Preisen zwischen knapp 1 000 und 14 950 Euro für
das Spitzenmodell seiner „Frankfurter Finanzplatz-
uhren“ (mit drei Zeitzonen für jene Banker, die sich
solche Geschäftsreisen und die Uhr dazu noch leis-
ten können). Die Gewinne fließen konstant. Vor al-
lem habe er noch nie ein Jahr gehabt, in dem die
Firma Verluste schrieb oder einen Umsatzrückgang
verzeichnete, versichert der Chef.
Die Strategie hat bei ihm buchstäblich Sinn. Das
Geschäft läuft so gut, dass sich Schmidt vor knapp
zwei Jahren für deutlich über zehn Millionen Euro
eine völlig neue Firmenzentrale leisten konnte, die
bei Bedarf auch noch um zwei Etagen aufstockbar
wäre. Im benachbarten Eschborn, wo auch die
Deutsche Börse heute sitzt, wäre es sicher billiger

gewesen, aber Schmidt ist als Wahlfrankfurter auch
Lokalpatriot. Und die Auftragsbücher sind voll. Sei-
ne rund 120 Beschäftigten „kommen von den Ka-
pazitäten her kaum nach“.
Und das ist dann auch schon wieder überra-
schend, wenn man Schmidts Erinnerungen an die
Startphase hört: „Wenn ich gewusst hätte, was mit
der Selbstständigkeit alles auf mich zukommt, hät-
te ich den Schritt wohl nie gewagt.“ Schmidt
stammt aus dem Saarland, hatte dort Werkzeugma-
cher gelernt und in Saarbrücken Maschinenbau
studiert. So kam er Mitte der Siebzigerjahre nach
La Chaux-de-Fonds, einem jener Schweizer Berg-
dörfer, wo vor allem die Uhrenindustrie zu Hause
ist (TAG Heuer, Ebel, Corum). Bei einem Gehäuse-
Hersteller brachte er es bis zum Produktionsleiter,
bevor er etliche Jahre auf wechselnden Posten bei
IWC in Schaffhausen wirkte. „Selbständig machen
wollte ich mich schon immer“, erzählt er, „aber ei-
gentlich im Maschinen- oder Anlagenbau.“
Dass es dann doch die ungleich filigranere Me-
chanik von Armbanduhren wurde, hatte schlicht
damit zu tun, dass er von einem gewissen Helmut
Sinn erfuhr, der die von ihm 1961 gegründete Uh-
renfirma in Frankfurt altershalber abgeben wollte.
Sinn war Kampfpilot gewesen und verdiente nach
dem Zweiten Weltkrieg sein erstes Geld damit, den
amerikanischen Besatzern Kuckucksuhren zu ver-
kaufen. Ein echtes „Uhr-Gestein“.

Am Anfang schlaflose Nächte
So begann dank Sinn dann Schmidts Unternehmer-
karriere, und sie begann schlecht: Der damals
78-jährige Sinn machte nach dem Verkauf einfach
noch mal eine neue Firma auf, die unter seinem
Namen weiter Uhren verkaufte. Schmidt musste
klagen, gewann, hatte aber einen neuen Gegner,
der sich den Kaufpreis – anders, als ursprünglich
vereinbart – auf einen Schlag auszahlen ließ.
Schmidt musste Millionenschulden aufnehmen
und konnte „erst nach drei Jahren wieder durch-
schlafen“.
Zwar baut Sinn keine eigenen Manufakturwerke,
sondern kauft sich die fertigen Kaliber von den
Schweizer Fachfirmen Eta und Sellita. Dafür punk-
ten die Frankfurter mit technischen Innovationen
wie einer speziellen Trockenhalte-Technik für Tau-
cheruhren. Sinn bietet überhaupt jede Menge tech-
nische Spielereien wie Zeitmesser aus deutschem
U-Boot-Stahl, Chronografen oder Fliegeruhren,
auch wenn wohl die wenigsten seiner Kunden Pilo-
ten, Feuerwehrmänner oder Kampfschwimmer
sind. Andererseits: Welcher SUV-Fahrer war mit
seinem Geländewagen jemals in der Natur jenseits
des Golfplatzes? Eben.
„Mehr und mehr Eigenentwicklungen beispiels-
weise auf dem Sektor der Gehäusematerialien, der
Uhrentechnologie und hilfreicher Zusatzfunktionen
für bestimmte Berufsgruppen“ – das hält auch der
Branchenexperte Gisbert Brunner für „den richti-
gen Weg“. Auf diese Weise werde Sinn dem Zusatz
„Spezialuhren“ im eigenen Namen „voll und ganz
gerecht“. Der Direktvertrieb spare zudem Kosten,
was „letzten Endes den Kunden zugute kommt“,
findet die Uhren-Koryphäe Brunner. Und das „Ma-
de in Germany“ erleichtere vielen Uhrenliebhabern
erst recht den Weg zu Sinn. „Unter diesen Vorzei-
chen lässt es sich trefflich in die Zukunft blicken.“
Kein Wunder, dass immer mal wieder Beteili-
gungsgesellschaften fragen, ob Schmidt nicht ver-
kaufen will. Will er nicht, auch wenn die Nachfolge
des umtriebigen Frankfurter „Zeit-Arbeiters“ unge-
wiss ist. Lothar Schmidt ist Anfang des Jahres 70
geworden. Andererseits scheint die Branche die
Unternehmenslenker jung zu halten: Firmengrün-
der Sinn wurde 101 Jahre alt. Auch ohne Schoko-
herzen.

Lothar Schmidt


Der Zeit-Arbeiter

Die Firma Sinn Spezialuhren dürfte es in der ebenso kleinen wie feinen Luxusbranche eigentlich gar


nicht geben. Doch aus ihrem Sonderstatus hat der Eigentümer ein Erfolgsmodell gemacht.


Sinn-Spezialuhren-
Chef Schmidt: „Selbst-
ständig machen wollte
ich mich immer.“

Bert Bostelmann für Handelsblatt

Sinn-Modell EZM 12:
Gerade mit Design-
preis ausgezeichnet.

Sinn Spezialuhren GmbH

Familienunternehmen


des Tages


DONNERSTAG, 22. AUGUST 2019, NR. 161
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