Handelsblatt - 22.08.2019

(ff) #1
Lennart Bochmann, Tobias Gagern, Wolfgang Hackenberg

Herren über das Chaos


W


enn Wolfgang Hacken-
berg erklären will, was
sein Unternehmen eigent-
lich genau macht, kommt er nicht
ohne Grafiken aus. Dann fliegen Pfei-
le und Ebenen über den Bildschirm,
kurz darauf Piktogramme von Fließ-
bändern, Maschinen und Produkten.
Denn das Geschäft seines Start-ups
Synaos ist kompliziert: Zusammen
mit seinen beiden Mitstreitern Len -
nart Bochmann und Tobias Gagern
baut der Ingenieur an einer Software,
die das Zusammenspiel von Lager,
Produktion und Warenausgang auto-
matisch orchestrieren soll – und zwar
mithilfe Künstlicher Intelligenz.
„Es geht bei Synaos darum, die
steigende Komplexität von Fertigung
und Logistik in automatisierten Fa-
briken zu beherrschen, indem die oft
chaotisch wirkenden Strukturen mit-

einander synchronisiert werden“, er-
klärt Hackenberg die Idee. Und die
scheint Industrieunternehmen wie
Investoren brennend zu inte -
ressieren. Obwohl Synaos noch nicht
einmal ein Jahr alt ist und auch noch
kein Praxisbeispiel präsentieren
kann, will der Volkswagen-Konzern
die Software in seinem umgebauten
E-Auto-Werk in Zwickau einsetzen.
Dabei soll der Algorithmus zu-
nächst die Intralogistik organisieren:
Synaos steuert die unbemannten
Transportfahrzeuge in der Fabrik
und sorgt dafür, dass jedes Teil zur
richtigen Zeit am richtigen Ort ist –
und dass dabei so wenige Fahrzeuge
wie nötig eingesetzt werden, ohne
dass es zu Verzögerungen kommt.
Was einfach klingt, ist das Ergebnis
einer komplizierten Rechenaufgabe.
Denn anders als bisher üblich arbei-
tet die Software der Gründer nicht
nach festgelegten Regeln, sondern
sucht per „Machine-Learning“-Algo-
rithmus immer wieder nach Lösun-
gen, um die Fahrwege der Transpor-
ter zu optimieren. „Im Grunde ist das
eine endlose Rechnung“, erklärt To-

bias Gagern, der für Technologie und
Forschung verantwortlich ist. „Je bes-
ser die Algorithmen aufgebaut sind,
desto schneller kommt man zu ei-
nem guten Ergebnis.“
Erschwert wird die Optimierung in
der Praxis dadurch, dass im Fabrik-
alltag ständig neue Transportaufträge
einlaufen, die die Software verarbei-
ten muss. Bisher geschieht das meist
auf Basis festgelegter Regeln, wie mit
neuen Aufträgen zu verfahren ist.
Doch ändern sich die Rahmenbedin-
gungen, ändert sich unter Umstän-
den auch die optimale Route eines
Fahrzeugs, das bereits mit einem an-
deren Auftrag unterwegs ist. Diese
Änderungen kann Synaos in Echtzeit
berechnen – und zwar gleichzeitig für
zum Teil Hunderte Flurförderfahr-
zeuge, die in einer einzelnen Fabrik
unterwegs sein können.
Dass ein Konzern wie VW bei ei-
nem so sensiblen Thema wie der ei-
genen Produktion auf die Dienste ei-
nes Start-ups vertraut, hängt auch
mit dem Hintergrund der drei Grün-
der zusammen: Kennen gelernt ha-
ben sich Hackenberg und Bochmann

Jascha Stein

Künstliche Intelligenz aus Oldenburg


D


ie EU-Kommission bezeich-
net sie als Vorzeige-Start-up
im Bereich Künstlicher In-
telligenz (KI). Jeff Adams, früherer
Chefentwickler von Amazons Alexa,
ist mit an Bord. Und zu den Kunden
zählen Konzerne wie Volkswagen
und die Deutsche Telekom. Das
Start-up Omnibot aus Oldenburg
will die Sprachtechnologie revolu-
tionieren.
Hinter dem Unternehmen stehen
der 35-jährige CEO Jascha Stein und
sein vierköpfiges Team. Sie bieten
Unternehmen eine auf KI basierende

Konversationsplattform, auf der sich
Sprachassistenten und Chatbots mo-
dular entwickeln lassen. Die Platt-
form fußt auf der hauseigenen Tech-
nologie zur Spracherkennung und
-verarbeitung. Zum Einsatz kommen
die digitalen Assistenten zum Bei-
spiel, um Mitarbeiter im Umgang mit
komplexen Maschinen zu unterstüt-
zen oder um wiederkehrende Kun-
denanfragen zu übernehmen.
Seine Anfänge nimmt das gründer-
finanzierte Start-up 2014. Dem ge-
lernten IT-Systemelektroniker Stein
und Softwareentwickler Alexander
Rauser schwebt ein Sprachinterface
für jede mögliche Anwendung vor.
Nach drei Jahren Entwicklung prä-
sentieren die Jungunternehmer ihre
Plattform im Silicon Valley. Dort ge-
winnen sie Adams für das Projekt. Er
gehört seit 2018 zum Gründerteam

und stellt Omnibot neben seinem
Wissen das 25-köpfige Entwickler-
team seiner Firma Cobalt Speech and
Language zur Verfügung.
„Omnibot scheint fachlich stark
aufgestellt zu sein“, meint Fabian
Westerheide, der mit seinem Fonds
Asgard Capital in KI-Start-ups wie
Omnibot investiert. „Das allein reicht
aber noch nicht.“ Die Plattform müs-
se funktionieren und einfach in der
Handhabung sein. Außerdem sei der
Markt für Software zur Spracher-
kennung umkämpft. Allein in
Deutschland gibt es laut Wes-
terheide ein Dutzend darauf spe-
zialisierte Firmen. Stein sieht diese
Firmen nicht als Wettbewerber: „Da
wir eine vollständige Chat- und
Sprachassistenten-Plattform anbie-
ten, sind unsere Wettbewerber eher
die Großen wie Amazon Lex, Google

Dialogflow oder Houndify.“ Bei die-
ser Konkurrenz mutet die Standort-
wahl ungewöhnlich an. Aber die
170 000-Einwohner-Stadt Oldenburg
bietet laut Stein klare Vorteile: „Hier
in der Region haben wir mehrere
führende Digitalagenturen und Uni-
versitäten im Einzugsgebiet. In Berlin
oder München stünden wir zudem
im Recruiting-Wettbewerb mit den
großen Konzernen.“
In fünf Jahren will das Start-up eu-
ropäischer Marktführer im Bereich
Sprachtechnologie- und Konversati-
onsplattformen mit KI sein. Wester-
heide meint: „Omnibot ist noch zu
jung, um die Erfolgschancen ein-
schätzen zu können.“ Das Silicon Val-
ley scheint daran zu glauben: Ein
weiteres Mitglied des Alexa-Entwick-
lungsteams hat sich in Oldenburg an-
gekündigt. Erika Schönenberger

Je besser die


Algorithmen


aufgebaut


sind, desto


schneller


kommt man


zu einem


guten


Ergebnis.


Tobias Gagern
CTO Synaos

Omnibot


Synaos-Gründer
(v.l.) Lennart
Bochmann, Tobi-
as Gagern, Wolf-
gang Hacken-
berg: Ein Ange-
bot aus den USA
Synaos abgelehnt.


Mit ihrer Industriesoftware
stoßen die Synaos-Gründer
auf großes Interesse. Nun
zieht Swoodoo-Gründer Lars
Jankowfsky in den Beirat ein.

Das Start-up Omnibot hat
Großes vor: Im umkämpften
Markt der Sprachtechnologie
wollen die Gründer Europas
Nummer eins werden.

als Angestellte bei dem Autobauer –
wobei Hackenberg damals das Smart-
Production-Lab bei VW leitete, wäh-
rend Bochmann dort seine Doktorar-
beit über Produktionsoptimierung
verfasste. Gagern wiederum folgte
zunächst als Master-Student, dann als
Doktorand. Im September 2018 grün-
deten sie schließlich Synaos.
„Für mich war schon früh im Le-
ben klar, dass ich Unternehmer wer-
den will“, sagt Hackenberg. „Schon
während meines Studiums in Köln
habe ich nach Firmen Ausschau ge-
halten, die einen Nachfolger gesucht
haben und in die ich hätte einsteigen
können.“ Deshalb musste der 38-jäh-
rige Firmenchef nicht lange überle-
gen, als den Gründern kurz nach
dem Start bereits ein Angebot für ei-
ne Übernahme durch ein US-Unter-
nehmen vorlag. „Wir haben abge-
lehnt. Obwohl das Angebot neben
Anteilen an der hochbewerteten Fir-
ma auch eine dicke Gehaltserhöhung
für uns beinhaltet hätte.“
Stattdessen sammelten die Grün-
der sechs Millionen Euro ein, um in
einem ersten Schritt Büro- und Test -
räume in Hannover anzumieten und
ein Team mit derzeit gut 20 Mit -
arbeitern aufzubauen. Auch der Bei-
rat des Unternehmens ist prominent
besetzt: Neben dem KI-Pionier und
früheren Leiter des Deutschen For-
schungszentrums für Künstliche In-
telligenz, Wolfgang Wahlster, zieht
nun der Gründer der Flugplattform
Swoodoo, Lars Jankowfsky in das
Gremium ein.
„Synaos hat einen überragenden
Start hingelegt und ist schon jetzt
Frontrunner, wenn es um die Or-
chestrierung vernetzter intralogisti-
scher Prozesse in Fertigung und Lo-
gistik geht“, so Jankowfskys Urteil.
„Die Chancen des Unternehmens
sind riesig, auch wegen der exzellen-
ten technologischen Ausrichtung.“
Spätestens im November folgt die
Feuerprobe: Da muss die erste Versi-
on der Synaos-Software an VW in
Zwickau ausgeliefert werden. Gelingt
der Plan, wollen die Gründer weitere
Produktionsbereiche vom Chaos be-
freien. Denn nicht nur Flurförder-
fahrzeuge brauchen Orchestrierung –
sondern auch Maschinen, Fließbän-
der und Menschen. K. Knitterscheidt

Familienunternehmen des Tages


DONNERSTAG, 22. AUGUST 2019, NR. 161
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