SEITE 2·MITTWOCH, 4. SEPTEMBER 2019·NR. 205 F P M Politik FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG
Deutschland braucht unsere Hilfe
Die dänische Tageszeitung „Politiken“ kommentiert
die Landtagswahlen in Sachsen und Brandenburg:
„Das Wohlstandsgefälle zwischen Ost und West ist
eine Realität, die das politische Bild verzerren kann, aber
Deutschland ist immer noch der Garant für alle Tugen-
den der demokratischen Rechtsgemeinschaft... Trotz-
dem gibt es Grund, uns zu erinnern, dass die Zeiten mög-
licherweise vorbei sind, in denen wir uns zurücklehnen
und darauf zählen können, dass Deutschland die Rech-
nungen bezahlt und Demokratie, Freiheit und wirtschaft-
liche Stabilität garantiert. Der Vormarsch der rechten
Parteien bei den Landtagswahlen deutet auf eine Polari-
sierung hin, was bedeutet, dass sowohl Dänemark als
auch die anderen Nationen der EU erkennen sollten,
dass Deutschland auch unsere Hilfe braucht.“
Die AfD nutzt und fördert Ossi-Nationalismus
„The Times“ (London) schreibt dazu:
„Die Unterstützung für die AfD wurde zweifellos ange-
facht durch eine weitverbreitete Unzufriedenheit mit An-
gela Merkels politischer Entscheidung, Deutschlands
Grenzen für mehr als eine Million Flüchtlinge zu öffnen.
Angesichts einer immer älter werdenden Gesellschaft
mag das wirtschaftlich sinnvoll gewesen sein, aber poli-
tisch war es schädlich. Im Osten des Landes hat die AfD
einen ,Ossi‘-Nationalismus ausgenutzt und gefördert.“
Der extremistische Nationalismus muss warten
Die spanische Zeitung „El País“ schreibt:
„Es wäre falsch zu glauben, dass die traditionellen Par-
teien die populistische Gefahr heraufbeschworen haben.
Genauso falsch ist es zu glauben, dass die extreme Rech-
te ihre Wahlbasis in Deutschland unaufhaltsam weiter
vergrößern wird. Von der Bildung der jeweiligen Landes-
regierungen... und vor allem von der tatsächlichen Ver-
waltung der beiden Bundesländer wird es abhängen, ob
die Wahlen vom Sonntag zu einem Wendepunkt in der
derzeitigen politischen Dynamik Deutschlands werden
oder ob sie nur einen Stolperstein im Aufstieg der AfD
darstellen. In jedem Fall muss der extremistische Natio-
nalismus erst mal warten.“
Polen muss nicht zwischen Mama und Papa wählen
Die „Rzeczpospolita“ (Warschau) schreibt zum Polen-
Besuch des amerikanischen Vizepräsidenten Pence:
„Aus den Feierlichkeiten zum 80. Jahrestag des Aus-
bruchs des Zweiten Weltkriegs kann man den Schluss zie-
hen, dass Polen zwei strategische Partner hat: die Verei-
nigten Staaten und Deutschland. Und diese Partnerschaf-
ten mit dem stärksten Spieler der Weltpolitik und dem
wichtigsten Mitgliedstaat der EU schließen sich nicht ge-
genseitig aus. Man muss nicht zwischen Mama und Papa
wählen. Denn obwohl Mama und Papa sich streiten, sind
sie sich doch in den Fragen einig, die für uns eine Schlüs-
selrolle spielen: die Sicherheit, das transatlantische Bünd-
nis und der Bestand der Nato. Niemand, der sich ernsthaf-
te Gedanken über die Zukunft unseres Landes macht,
kann die Bedeutung unseres Bündnisses mit Amerika un-
terschätzen... Über unseren Nachbarn Deutschland bil-
den wir uns unsere Meinung selbst. Und nach den Reden
von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in Wielun
und Warschau richten wir auch in Fragen der Sicherheit
unsere Hoffnungen auf Deutschland.“
Warschau hat eine Chance verpasst
Die „Nesawissimaja Gaseta“ (Moskau) dagegen mo-
niert, dass Polen nicht den russischen Präsidenten Pu-
tin zum Kriegsgedenken einlud:
„Warschau hatte mitgeteilt, dass nur die Mitglieder
der Nato-Staaten und der Östlichen Partnerschaft einge-
laden seien, weil Polen sich so eine sichere Welt vorstel-
le. Dieser Ansatz ist nicht aufgegangen. Der Zweite
Weltkrieg war – bei allen unterschiedlichen Sichtwei-
sen auf seine Ereignisse – am Ende die Erfahrung einer
Zusammenarbeit verschiedener Staaten für ein gemein-
sames Ziel. Darum geht es auch heute. Der polnische
Staatspräsident Andrzej Duda hat die Chance verpasst,
aus den Warschauer Erinnerungsfeiern ein globales Er-
eignis zu machen... Die unterschiedlichen Bewertun-
gen der Geschehnisse des Zweiten Weltkrieges verhin-
dern nicht, eine gemeinsame Sprache zu finden, wenn
der politische Wille da ist. Es sei dabei daran erinnert,
dass Wladimir Putin vor zehn Jahren, als er Ministerprä-
sident war, vom damaligen polnischen Regierungschef
Donald Tusk noch eingeladen wurde.“
STIMMEN DER ANDEREN
ROM, 3. September. Schon am Dienstag-
mittag gab es anscheinend gute Nachrich-
ten von der Internetseite „Rousseau“,
dem Meinungsfindungsinstrument der
linkspopulistischen Fünf-Sterne-Bewe-
gung. Bei der Urabstimmung im Internet
zu der Frage, ob die Fünf Sterne eine Ko-
alition mit dem sozialdemokratischen Par-
tito Democratico (PD) unter dem parteilo-
sen Ministerpräsidenten Giuseppe Conte
eingehen sollten, gab es eine Rekordbetei-
ligung. Schon in den ersten zwei Stunden
nach dem Beginn der Abstimmung um
neun Uhr hätten fast 30 000 eingeschrie-
bene Anhänger der Bewegung ihre Stim-
me auf „Rousseau“ abgegeben, teilten die
Betreiber der Internetseite mit. Die
Stimmabgabe für die nach Angaben der
Betreiber rund 115 000 wahlberechtigten
Eingeschriebenen war bis Dienstag-
abend, 18 Uhr, möglich.
Der amtierende und designierte Minis-
terpräsident Giuseppe Conte veröffent-
lichte aber schon am Dienstagmorgen
den Abriss eines Regierungsprogramms
der von ihm geführten künftigen Linksko-
alition von Fünf Sternen und PD. Ob ihn
dazu die hoffnungsvolle Zuversicht auf ei-
nen günstigen Wahlausgang auf „Rous-
seau“ veranlasst hatte oder vielmehr das
Wissen, dass der Buchstabe der Verfas-
sung, dazu Präsident Sergio Mattarella so-
wie die Mehrheit der Abgeordneten und
Senatoren ohnehin schon auf seiner Seite
standen, spielt wohl keine Rolle. Der Ab-
riss des Regierungsprogramms umfasst
26 Punkte und ist recht allgemein gehal-
ten, was bei einem Waschzettel von gut
zwei Seiten Umfang nicht überraschen
kann. An erster Stelle der Agenda steht
ein expansiver Staatshaushalt 2020. Der
finanzielle Mehrbedarf soll aber nicht
durch die Anhebung des Mehrwertsteuer-
satzes gedeckt werden. Die automatische
Erhöhung der Mehrwertsteuer auf 25 Pro-
zent war schon bei den Verhandlungen
zwischen Rom und der EU-Kommission
in Brüssel über den italienischen Staats-
haushalt des laufenden Jahres vereinbart
worden, um ein seinerzeit drohendes Ver-
tragsverletzungsverfahren wegen der zu
hohen Schulden und des zu hohen Defi-
zits abzuwenden. Um die zugesagte Mehr-
wertsteuererhöhung abzuwenden, müs-
sen an irgendeiner Stelle im Haushalt 23
Milliarden Euro eingespart werden. Wo
sich dieses Einsparpotential finden las-
sen könnte, steht in Contes 26-Punkte-
Programm nicht.
Dafür findet sich die Forderung, die
EU-Kommission müsse die Vorgaben lo-
ckern, an die sich die Mitglieder der Euro-
zone zu halten haben. Damit kündigt die
künftige Linkskoalition schon in ihrem
ersten Abriss für ein Regierungspro-
gramm an, dass sie von Brüssel ein polit-
ökonomisches Tauschgeschäft erwartet.
Das verbreitete Wohlwollen, welches der
Regierung Conte II in Brüssel, aber auch
in Berlin und Paris entgegengebracht
wird, weil die neue Koalition dem Rechts-
nationalisten Matteo Salvini den Auf-
stieg zur Macht verwehrt hat, soll sich für
Rom nicht nur in Anfeuerungsrufen, son-
dern in Euro und Cent ausdrücken. In ei-
nem am Montagabend auf seiner Face-
book-Seite veröffentlichten Beitrag wird
Conte noch konkreter: Er fordert eine
„Überwindung“ der Sparpolitik. Über
die bisher geltenden Austeritätsregeln
müsse es einen offenen und kritischen
Dialog geben – mit dem Ziel, sie zu verän-
dern.
Auch die sogenannten Dublin-Regeln
zum Umgang mit Flüchtlingen will Conte
bald „überwunden“ sehen. In ergebnisof-
fenen Verhandlungen müsse erreicht wer-
den, dass es „endlich eine europäische Re-
gelung des Einwanderungsproblems“
gebe. Conte schwebt etwa bei der Anlan-
dung von geretteten Bootsflüchtlingen,
die von privaten Rettungsschiffen im Mit-
telmeer aufgenommen wurden, eine Art
Rotationsprinzip vor: Hafenstädte ver-
schiedener EU-Anrainerstaaten im Mittel-
meer sollten sich jeweils als sichere Hä-
fen für die Rettungsschiffe zur Verfügung
stellen. Von dort aus solle dann die Vertei-
lung der Flüchtlinge vorgenommen wer-
den – im Konsens der EU-Staaten, aber
ohne Zwangsquoten für die einzelnen
EU-Mitglieder.
Contes übrige Absichtserklärungen in
seiner Facebook-Botschaft und in seinem
Programmabriss für die Linkskoalition
sind so allgemein wie unstrittig. Er ver-
spricht den Umbau der italienischen
Wirtschaft zu einer „Green Economy“,
dazu mehr soziale Gerechtigkeit und
eine bessere Bildung, schließlich weniger
Bürokratie und ein verkleinertes Parla-
ment. Vieles davon fand sich schon im
Koalitionsvertrag der Fünf Sterne mit
Salvinis rechtsnationalistischer Lega.
Aus dem knappen Entwurf eines Regie-
rungsprogramms war noch gar nichts dar-
über zu erfahren, wie weit die neue Koali-
tion der PD-Forderung entsprechen und
von der betonharten Migrationspolitik
des scheidenden Innenministers Salvini
abkehren will. Am Dienstag wurde das
italienische Rettungsschiff „Mare Jonio“
auf Lampedusa beschlagnahmt, außer-
dem wurde eine Geldstrafe von 300 000
Euro wegen Verstoßes gegen die in Salvi-
nis „Sicherheitsgesetz“ verfügte Gewäs-
ser- und Hafensperrung verhängt.
Contes Vorhaben stehen freilich noch
unter dem Vorbehalt einer aus seiner
Sicht positiv verlaufen Abstimmung auf
„Rousseau“. Wahlberechtigt waren nur
jene Anhänger der Fünf-Sterne-Bewe-
gung, die sich schon mindestens sechs Mo-
nate zuvor registriert hatten. Zieht man
in Betracht, dass bei den Parlamentswah-
len vom März 2018 fast elf Millionen Ita-
liener – etwa 32,7 Prozent der Wähler –
für die klaren Wahlsieger mit den Fünf
Sternen gestimmt hatten, sind 115 000 Be-
rechtigte bei einem „Referendum“ im In-
ternet über eine nachgerade existentielle
Richtungsentscheidung für die Bewegung
nicht viel: nämlich nur etwas mehr als ein
Prozent. Genau betrachtet, bestimmen so-
gar noch weniger Personen über die ideo-
logische und machtpolitische Ausrich-
tung der Bewegung: der 71 Jahre alte
Fernsehkomiker Beppe Grillo und der 33
Jahre alte Berufspolitiker Luigi Di Maio.
Gemäß dem berüchtigten Artikel 4 der
Satzung können der „Garante“ und der
„Capo Politico“ der Bewegung binnen
fünf Tagen nach einer Abstimmung, soll-
te deren Ergebnis ihnen missfallen,
gleich wieder eine neue Internetbefra-
gung auf „Rousseau“ ansetzen.
Zudem ist es verfassungsrechtlich kei-
ne Kleinigkeit, dass ein italienischer Re-
gierungschef und sein Kabinett vom
Staatspräsidenten ernannt und hernach
vom Parlament gewählt werden müssen.
Von einer Zustimmung auf einer Internet-
seite ist in der Verfassung nicht die Rede.
LONDON,3. September
G
egner und Befürworter des Brexits
lieferten sich vor dem Westminster
Palace friedliche, wenngleich laut-
starke Sprechchor-Gefechte, als drinnen,
nach mehr als sechs Wochen, die parla-
mentarische Arbeit wiederaufgenommen
wurde. Das erste Zusammentreten nach
der Sommerpause hätte kaum dramati-
scher beginnen können. Nicht nur schäum-
ten viele Abgeordnete über die abermalige
Beurlaubung, die die Queen auf Anraten
der Regierung schon ab der kommenden
Woche verordnet hat. Noch am Abend soll-
te sich entscheiden, ob Boris Johnson sei-
ne erste parlamentarische Woche als Pre-
mierminister mit einer politisch bedeutsa-
men Niederlage beginnen würde. Bevor
Johnson das erste Wort an die Abgeordne-
ten richtete, verlor er mit dem Übertritt ei-
nes Abgeordneten zu den Liberaldemokra-
ten die Regierungsmehrheit im Unterhaus.
Wie aufgeladen, auch wie bitter die At-
mosphäre an diesem Dienstag war, doku-
mentierte Philip Hammond, Schatzkanz-
ler unter Theresa May und neuerdings ein
konservativer „Rebell“. In einem Inter-
view, das er am Morgen der BBC gab, kün-
digte er an, den „Kampf meines Lebens“
zu führen, sollte ihn die Partei daran zu
hindern versuchen, bei den nächsten Wah-
len wieder anzutreten. Er bestätigte, dass
ihn die Drohung mit einem Fraktionsaus-
schluss nicht beeindruckt, und sagte:
„Dies ist meine Partei. Ich werde meine
Partei verteidigen gegen Neuzugänge, Ein-
dringlinge, die versuchen, sie von einer
Volkspartei in einen engen Klüngel zu ver-
wandeln.“ Gemeint war Johnsons Chefbe-
rater Dominic Cummings, dem Hammond
nachsagte, dass ihn „die Zukunft der Par-
tei nicht im Geringsten interessiert“.
Jahrelang hatte Hammond, der liebe-
voll als „Tabellen-Phil“ verspottet wurde,
distinguierte Höflichkeit verkörpert.
Jetzt lagen Anspannung und Zorn in sei-
nem Gesicht, und er nutzte fast jeden
Satz für einen Angriff auf Johnson. Des-
sen Versicherung, es gebe Fortschritte in
den Verhandlungen mit der EU, sei nicht
glaubwürdig, sagte Hammond. Vielmehr
begehe Johnson mit seinen Forderungen
an die EU „Verrat am Wähler“, weil sie ei-
nen No-Deal-Brexit wahrscheinlicher
machten.
Einige Rebellen sprachen von „Säube-
rungen“ und kündigten Widerstand an, an-
dere, wie die frühere Ministerin Justine
Greening, kamen ihrem Rauswurf lieber
zuvor. Am Dienstag kündigte sie ihren po-
litischen Rückzug an. Sie wolle nicht mehr
für eine Konservative Partei antreten, die
unter Johnson zu einer „Brexit Party“ mu-
tiere. Auf Seiten der Opposition über-
schritt die Empörung über Johnson sogar
das Maß des üblichen Respekts. Shami
Chakrabarti, die dem Schattenkabinett an-
gehört und in einer Labour-Regierung Ge-
neralstaatsanwältin werden soll, sprach
am Dienstag von „Johnson und seinen Ga-
noven“. Man könne der Regierung nicht
vertrauen, weil man es „nicht mit norma-
len Leuten zu tun hat“, sagte sie.
Um Vertrauen geht es in diesen Tagen
weniger als um Kenntnisse parlamentari-
scher und exekutiver Winkelzüge, für wel-
che die ungeschriebene, auf Konventionen
und Präzedenzfällen basierende britische
Verfassung reichlich Raum bietet. Mit der
ersten Abstimmung, die für den späten
Abend erwartet wurde, wollten die Geg-
ner Johnsons erreichen, dass sie die parla-
mentarische Tagesordnung am nächsten
Tag bestimmen können. Jene, die dafür
sind, dürften an diesem Mittwoch auch
dem Gesetz zustimmen, mit dem die Oppo-
sition dem Premierminister die Hände in
den Verhandlungen mit der Europäischen
Union binden möchte. Dem Vernehmen
nach soll Johnson verpflichtet werden, in
Brüssel eine weitere Verlängerung der Aus-
trittsfrist um drei Monate zu beantragen,
sollte bis zum 19. Oktober, zwölf Tage vor
dem aktuellen Austrittsdatum, kein Ab-
kommen mit der EU ratifiziert sein.
Johnson hatte am Montagabend in ei-
ner kurzen Erklärung vor seinem Amtssitz
noch einmal betont, dass er „unter keinen
Umständen um einen weiteren sinnlosen
Aufschub bitten“ werde. Zugleich gab
Downing Street zu verstehen, dass man
Neuwahlen am 14. Oktober anstrebe, soll-
te das Unterhaus dem Premierminister
Schellen umlegen. Neuwahlen kann der
Premierminister aber nicht mehr, wie vor
2011, verfügen; er braucht die Zustim-
mung des Parlaments. Diese wiederum ist
nicht so sicher, wie es zunächst den An-
schein hatte.
Labour-Chef Jeremy Corbyn hatte am
Montagmorgen enthusiastisch auf die Aus-
sicht reagiert, wieder in Wahlen ziehen zu
dürfen. Erst im Laufe des Tages schien
ihm aufgefallen zu sein, dass sie – wie es
der frühere Premierminister Tony Blair
ausdrückte – eine „Falle“ bedeuten könn-
ten. Denn es ist das Privileg des Premier-
ministers, den Wahltag festzulegen – und
der könnte in der Brexit-Frage entschei-
dend sein. Würde Johnson nach der Zu-
stimmung des Parlaments (durch Zweidrit-
telmehrheit) entscheiden, den Termin
vom 14. Oktober auf einen frühen Novem-
bertag zu verschieben, würde die wahl-
kampfbedingt sitzungsfreie Zeit in die Wo-
chen vor dem Austrittstermin fallen. So-
fern das Gesetz zur Verhinderung eines
No-Deal-Brexits nicht absolut wasserfest
ist, könnte ein ungeregelter Brexit nicht
mehr in letzter Minute vom Unterhaus ver-
hindert werden.
V
ertreter der Oppositionsparteien
trafen sich daher am Dienstag vor
der Plenarsitzung und berieten,
welche Sicherungen sich einbauen lie-
ßen. Sie wollen Neuwahlen nur mit der
Garantie zustimmen, dass der Wahltag
nicht aus politischen Gründen verscho-
ben wird. Wie einfach sich eine solche Ga-
rantie – den Willen dazu vorausgesetzt –
rechtswirksam fixieren lässt oder ob das
Oppositionsgesetz einen ausreichenden
Schutz bietet, darüber gab es am Dienstag
unterschiedliche Auffassungen. Der zu
findende Mechanismus könnte darüber
entscheiden, ob das Parlament einer Neu-
wahl zustimmt oder nicht.
Im letzteren Fall befände sich Johnson
in einer Lage, die Katy Balls vom „Specta-
tor“ als „Albtraum“ beschreibt. Er hätte
dann keine Chance mehr, seine Verhand-
lungslinie in Brüssel zu verfolgen, könnte
keinen ungeregelten Brexit vollziehen und
würde – würfe er die Rebellen tatsächlich
aus der Fraktion – über keine Mehrheit
mehr im Unterhaus verfügen. Balls gibt al-
lerdings zu bedenken, dass Johnson das
auch zu seinem Vorteil nutzen könnte: „Er
könnte es für sein Das-Volk-gegen-das-Par-
lament-Narrativ fruchtbar machen und sa-
gen: Ich versuche alles, um den Brexit zu
erreichen, aber all die Leute um mich her-
um sind das Problem.“ Früher oder später,
vermutet die Journalistin, werde die Neu-
wahl kommen, „und das ist genau das Ar-
gument, das er dann ausspielen wird“.
Diskutiert wurden am Dienstag in West-
minster noch surrealere Szenarien. Sollte
Johnson keine Zweidrittelmehrheit für
Neuwahlen bekommen und Corbyn nicht
bereit sein, ein Misstrauensvotum zu stel-
len – der andere Weg zu Neuwahlen –,
könnte der Premierminister auch ein Miss-
trauensvotum gegen sich selbst einleiten
und darauf hoffen, dass er es verliert. An-
geblich wurde in Downing Street auch
schon überlegt, ob das No-Deal-Verhinde-
rungsgesetz einfach nicht zum Sommer-
sitz der Queen in Balmoral weitergeleitet
wird, wo es unterschrieben werden muss,
bevor es in Kraft treten kann.
Käme es zu Neuwahlen, könnte John-
son alles andere als sicher sein, dass sie zu
seinen Gunsten verlaufen. Die Tories füh-
ren die Umfragen derzeit zwar klar an –
mit acht Prozentpunkten vor der Labour
Party –, aber das Mehrheitswahlrecht
macht Voraussagen schwierig. „Ob John-
son von einer Neuwahl profitieren kann,
dürfte vor allem stark vom Kampf mit der
Brexit Party und Nigel Farage abhängen“,
sagte der Politikwissenschaftler John Cur-
tice am Dienstag. Farage ist nur bereit, sei-
ne Kandidaten zurückzuziehen, wenn
Johnson einen No-Deal-Brexit verspricht.
Bliebe Johnson bei seiner Position, einen
Deal zu bevorzugen, würde die Brexit Par-
ty in fast allen Wahlkreisen gegen die Kon-
servativen antreten, was deren Resultat be-
einflussen könnte. Johnsons Hoffnung
dürfte es sein, mögliche Verluste mit Ge-
winnen in bislang Labour-dominierten
Brexit-Wahlkreisen auszugleichen. Sollte
er das Ergebnis der Tories von 2017 halten
können, hätte er – nach den „Säuberun-
gen“ – zumindest weniger No-Deal-Geg-
ner in seinen Reihen.
Noch bevor die Abgeordneten die ent-
scheidenden Voten hinter sich gebracht
haben, könnten Gerichtsurteile die Lage
zusätzlich verkomplizieren. Für diesen
Mittwoch wird erwartet, dass der „Court
of Session“, Schottlands höchstes Zivilge-
richt, über die Rechtmäßigkeit der
Zwangsbeurlaubung entscheidet. Auch
ein Urteil des Londoner High Courts
steht an. Sollten die Urteile angefochten
werden, dürfte sich der Rechtsstreit bis in
die kommende Woche hineinziehen,
wenn der Supreme Court das letzte juristi-
sche Wort sprechen soll.
PARIS, 3. September. Frankreich hat
die diplomatischen Bemühungen inten-
siviert, um das Nuklearabkommen mit
Iran zu retten. Außenminister Jean-
Yves Le Drian bestätigte am Dienstag
Gespräche mit einer iranischen Delega-
tion in Paris. „Es gibt noch viel zu tun.
Etliche Punkte sind nicht geregelt, aber
wir reden vertrauensvoll miteinander“,
sagte er im Gespräch mit Journalisten
der „Presse Diplomatique“ in Paris.
Kernpunkt der Verhandlungen sei
eine Kreditlinie in Höhe von 15 Milliar-
den Dollar, die Frankreich, Deutsch-
land und Großbritannien als Signatar-
mächte des Nuklearabkommens Tehe-
ran anbieten und die durch iranische
Rohölverkäufe abgesichert werden soll.
Le Drian erläuterte, dass die iranische
Staatsführung im Gegenzug drei Bedin-
gungen erfüllen müsse. Iran müsse sei-
ne mit dem Nuklearabkommen einge-
gangenen Verpflichtungen wieder voll
respektieren, die Sicherheit im Golf ge-
währleisten und sich zu Verhandlungen
über die regionale Sicherheit über 2025
hinaus bereit erklären.
„Die Frage eines Treffens zwischen
dem amerikanischen Präsidenten und
dem iranischen Präsidenten ist nachran-
gig. Wichtig ist eine Übereinkunft über
diese drei Punkte“, sagte Le Drian.
Jüngste Äußerungen des iranischen Prä-
sidenten Hassan Rohani, es werde keine
bilateralen Gespräche mit Washington
geben, bezeichnete Le Drian als „Aus-
hängeschild“, das innenpolitischen Zwe-
cken diene. Rohani sagte vor dem irani-
schen Parlament am Dienstag, es habe
Vorschläge für ein Treffen mit dem ame-
rikanischen Präsidenten Donald Trump
gegeben, „aber Irans Antwort ist stets
negativ gewesen“. Der französische Au-
ßenminister hob hervor, dass Rohani
seinem Außenminister Dschawad Zarif
die Weisung gegeben habe, zu Gesprä-
chen am Rande des G-7-Gipfels nach
Biarritz zu reisen, obwohl dieser erst
am Vorabend von Verhandlungen aus
Paris zurückgekehrt war. Der iranische
Präsident habe auch jetzt einer Delegati-
on die Erlaubnis für fortgesetzte Ver-
handlungen in Paris gegeben. Es gebe of-
fensichtlich eine gewisse Verhandlungs-
bereitschaft in Teheran. Noch seien die
Ergebnisse zwar „fragil“, aber es sei ein-
deutig etwas in Bewegung geraten.
Ende der Woche, am 6. September,
läuft eine von Rohani gesetzte Frist
von sechzig Tagen zum Nuklearabkom-
men aus. Sollte es keine Einigung ge-
ben, hat Rohani gedroht, mit schnelle-
ren Zentrifugen den Grad der irani-
schen Urananreicherung von den im
Vertrag erlaubten 3,67 auf 20 Prozent
zu erhöhen. Le Drian äußerte sich vor-
sichtig optimistisch. Die „höchste Eska-
lationsstufe“ sei vermutlich vorüber.
Der Außenminister hob hervor, der
amerikanische Präsident habe dem fran-
zösischen Präsidenten Emmanuel Ma-
cron in Biarritz versichert, dass er die
Strategie des „maximalen Drucks“ auf
Teheran beenden wolle. Amerika ist im
Mai 2018 aus dem Nuklearabkommen
ausgestiegen, das im Mai 2015 in Wien
unterzeichnet worden war und bis 2025
gültig sein soll. Vor der Unterzeichnung
nahm Frankreich die Rolle des „harten“
Verhandlungspartners ein, der 2013 –
damals zum Ärger der Amerikaner –
die Gespräche in Genf platzen ließ. Auf
diese Legitimität als anspruchsvoller
Verhandlungsführer beruft sich die fran-
zösische Diplomatie auch heute.
Le Drian sagte jetzt, eine Verhand-
lungslösung müsse eng mit Washington
abgestimmt werden. Sollte Teheran in
den Drei-Punkte-Plan der drei Europä-
er einwilligen, könne dieser nur dank ei-
ner Ausnahmegenehmigung („waiver“)
Trumps für iranische Ölausfuhren in
Kraft treten. Erst dann müsse auch die
Frage von direkten Gesprächen zwi-
schen Rohani und Trump geklärt wer-
den. Denkbar sei auch ein multilatera-
ler Austausch unter Einbindung der eu-
ropäischen Vertragspartner.
Le Drian lobte auf Rückfrage dieser
Zeitung ausdrücklich die aktive Rolle
der Bundesregierung in den Verhand-
lungen. Er telefoniere mindestens drei-
mal pro Woche mit Außenminister Hei-
ko Maas. „Die deutsch-französische Ko-
operation zur Rettung des Nuklearab-
kommens funktioniert reibungslos.“
Auch Großbritannien stehe trotz der
schwierigen innenpolitischen Situation
voll hinter den diplomatischen Bemü-
hungen. Le Drian führte aus, dass es un-
geachtet der Verhandlungen zum Nukle-
arabkommen Ziel der Europäer bleibe,
die Finanzgesellschaft Instex (Instru-
ment in Support of Trade Exchanges)
voranzubringen. Instex soll dazu die-
nen, Ausfuhren europäischer Firmen
mit iranischen Exporten zu verrechnen.
Le Drian nannte das von Frankreich,
Deutschland und Großbritannien er-
dachte Instrument „eine subtile Form
des Tauschhandels“. Iran erhalte kein
Geld für seine Exporte, sondern Waren.
Gerade für den nicht mit amerikani-
schen Sanktionen belegten Sektor der
Agrarprodukte sei Instex entscheidend,
sagte Le Drian. Die Gesellschaft hat ih-
ren Sitz in Frankreich, hat aber bislang
noch keine Transaktionen abgewickelt.
Der Chef der französischen Diplomatie
sagte, das liege auch daran, dass Iran
noch keine entsprechende Gesellschaft
gegründet habe.
Dramatisches Ende
der Sommerpause
Diplomatie
mit Anspruch
Frankreich verhandelt
weiter mit Iran
Von Michaela Wiegel
Regierungsprogramm ohne Regierung
Italiens designierter Ministerpräsident Conte fordert eine Lockerung der EU-Regeln für die Eurozone / Von Matthias Rüb
In Großbritannien
überschlagen sich die
Ereignisse:Johnson
verliert seine Mehrheit
im Unterhaus. Dort tobt
weiter ein Machtkampf
um die Frage, wie der
Brexit zu gestalten sei.
Von Jochen Buchsteiner
Fingerzeig:Der Premierminister fixiert seine zahlreicher werdenden Gegner im Unterhaus. Foto AFP