München– IndiensPremierminister Na-
rendra Modi hat seine umstrittene Ent-
scheidung verteidigt, dem Bundesstaat
Jammu und Kaschmir den Sonderstatus
zu entziehen, welcher der zwischen Indien
und Pakistan umstrittenen Region weitge-
hende Autonomie garantiert hatte. Bei ei-
ner Fernsehansprache am Donnerstag-
abend äußerte er sich erstmals und stellte
seine Entscheidung als Schritt dar, um die
Menschen in der Region „zu befreien“ und
wirtschaftliche Entwicklung dort zu er-
möglichen. Durch den Sonderstatus, der
die Kompetenz der Zentralregierung auf
die Außen- und Verteidigungspolitik so-
wie die Kommunikation beschränkte, sei-
en den Bewohnern ihre Rechte vorenthal-
ten worden. Pakistan warf er vor, Artikel
370 der Verfassung, in dem der Status ver-
ankert war, als „Waffe des Terrorismus“
missbraucht zu haben. Modi kündigte an,
Indien werde die Region von „Terrorismus
und Terroristen befreien“.
Der Premier sprach von einer „neuen
Ära“ für Jammu und Kaschmir. Die provi-
sorische Verwaltung der Region durch die
Zentralregierung, die de facto seit Juni
2018 andauert, habe positive Wirkung ge-
zeigt. Er versprach eine bessere Eisen-
bahn- und Straßenanbindung. Jammu
und Kaschmir solle nicht auf Dauer ein der
Zentralregierung unterstelltes Gebiet blei-
ben, sondern die Menschen dort sollten
wieder ihre eigenen Repräsentanten wäh-
len. Ladakh allerdings, bislang eine Divisi-
on des Bundesstaats, soll der Regierung un-
terstellt bleiben. Die im Hochgebirge gele-
gene Region, die mehr als die Hälfte des bis-
herigen Bundesstaates umfasst, ist dünn
besiedelt, war wegen ihrer strategischen
Bedeutung aber Schauplatz des Kargil-
Krieges zwischen Indien und Pakistan
1999 und grenzt auch an China, mit dem In-
dien auch in Territorialstreitigkeiten liegt.
Unmittelbare Reaktionen der überwie-
gend muslimischen Bevölkerung Kasch-
mirs wurden zunächst nicht bekannt. Die
Region ist weitgehend abgeriegelt und mit
einer Kommunikationssperre belegt. Die
Menschen dort konnten Modis Rede nur
am Radio verfolgen. In den vergangenen
Tagen war es zumindest in Srinagar zu Aus-
einandersetzungen zwischen der Polizei
und Demonstranten gekommen. Es gab
Hunderte Verhaftungen. Die Regierung
hatte vor ihrer Entscheidung 35000 zusätz-
liche Soldaten in die Region verlegt – offen-
kundig, weil sie mit Unruhen rechnete.
Pakistans Außenminister Shah Mah-
mood Qureshi sagte, seine Regierung prü-
fe rechtliche und politische Möglichkeiten,
ziehe aber keine militärischen Aktionen in
Erwägung. UN-Generalsekretär António
Guterres rief beide Seiten zu „absoluter Zu-
rückhaltung“ auf. Die Lage in Jammu und
Kaschmir müsse friedlich gelöst werden.
Pakistans Eisenbahnminister Sheikh Ras-
hid Ahmad kündigte an, den Zugverkehr
zwischen Lahore in Pakistan und Delhi ein-
zustellen. Der Außenminister sagte, er wer-
de bald nach Peking reisen, um Chinas Füh-
rung über die Lage zu unterrichten. Am
Mittwoch hatte Islamabad angekündigt,
Indiens Botschafter auszuweisen und die
diplomatischen Beziehungen mit dem
Nachbarn zu reduzieren. Die Regierung in
Islamabad hatte außerdem schon ge-
warnt, dass das indische Vorgehen zu neu-
er Gewalt in der Region und vielleicht auch
zu einem Zusammenstoß der beiden Nu-
klearmächte führen könne. sz
von christiane schlötzer
Istanbul– Die türkische Dichterin spricht
von den Göttern, den griechischen. „Er-
zählt euren Kindern, dass Zeus die Trojani-
schen Kriege von diesen Bergen aus ver-
folgt hat“, schreibt Mine Söğüt. Tarkan,
der Popmusiker, warnt: Die Türkei opfert
ihre Berge, Seen und Meere, „aus reiner
Geldgier“. Und der örtliche Bürgermeister
sagt: „Es bricht mir das Herz.“
Aus der Luft sieht man nur eine braune
Fläche, Hügel an Hügel, baumlos. 195000
Bäume wurden hier gefällt, sagt die türki-
sche Umweltstiftung Tema, für eine Gold-
mine. Seit die Luftbilder der ausgeräum-
ten Landschaft unweit des kleinen Ortes
Kirazlı – etwa 35 Kilometer westlich der
Stadt Çanakkale – erstmals in sozialen Me-
dien auftauchten, rollt eine Protestwelle,
so schnell und spontan, wie man das schon
lange nicht mehr gesehen hat in der Tür-
kei. In jedem Fall nicht seit den Tagen von
Gezi, als 2013 in Istanbul Hunderttausen-
de protestierten, für einen kleinen Park
und gegen die Regierung von Recep Tayyip
Erdoğan. Die Proteste wurden von der Poli-
zei niedergeschlagen. Ein paar der damali-
gen Aktivisten stehen vor Gericht, ihnen
drohen lange Haftstrafen. Seit 2013 gab es
nur selten größere Proteste, und wenn, ver-
liefen sie sich schnell.
Ende Juli schlugen ein paar Umweltakti-
visten in der Nähe des Minengeländes Zel-
te auf, sie nannten das „eine Wasser- und
Gewissenwache“. Am vergangenen Mon-
tag versammelten sich schon mehrere Tau-
send Demonstranten dort. Sie wanderten
zum Bauplatz, wo die wenigen Wächter sie
durchließen. Nach ein paar Stunden zogen
sie wieder ab. Alles war friedlich, und auch
die Zelte in der Nähe blieben stehen.
Es ist ja Sommer, gute Zeit für einen
Bergausflug. „Wir hatten Ballons dabei
und spielten Gitarre“, erzählte Burak Çift-
çi, 34 Jahre alt, einer der Camper, einer tür-
kischen Journalistin. „Wir haben nicht vor,
die Mine anzugreifen, was wir tun, ist zivi-
ler Widerstand“, sagte Çiftçi.
Das Gelände der Mine bei Kirazlı – und
einer zweiten in der Nähe, unweit des fast
1000 Meter hohen Berges Aği – wurde von
der kanadischen Firma Alamos Gold im Ja-
nuar 2010 für 90 Million Dollar erworben.
So heißt es auf der Firmenwebseite. 2017
wurden die ersten Bäume gefällt.
„Warum hat damals keiner protes-
tiert?“, fragt Bülent Turan, Abgeordneter
der Regierungspartei AKP in der Provinz
Çanakkale. „Heute nützt das doch keinem
Baum mehr.“ Turan zweifelt an den Zahlen
der Umweltschützer. Allenfalls 13 000 Bäu-
me seien weg, sagt er. Über die Zahlen wird
nun heftig gestritten. Experten rechnen
vor: Dass auf 200 Hektar Wald nur
13000 Bäume gestanden hätten, sei un-
möglich. Regierungssprecher Ömer Çelik
sagt, 14 000 Setzlinge seien schon andern-
orts für die gefällten 13 000 Bäume ge-
pflanzt worden. Die Türkei sei „sehr acht-
sam, was die Natur betrifft“. Auch die De-
monstranten hatten am Montag Baumsetz-
linge dabei, sie pflanzten sie in die trocke-
ne Erde. Es war eine symbolische Aktion.
Der Bürgermeister der Stadt Çanakka-
le, Ülgür Gökhan, unterstützt den Protest.
Er hat der WebseiteBianetgesagt, er wen-
de sich schon seit Jahren an die Gerichte.
Die Umweltstudie, die für jedes Großpro-
jekt in der Türkei erstellt werden muss, sei
wegen der Einsprüche gar verworfen wor-
den. Man habe dann aber eine neue Studie
erstellt, und die Arbeiten auf dem Minenge-
lände gingen weiter. Der Bürgermeister ge-
hört der säkularen Oppositionspartei CHP
an. Die zeigt nach erfolgreichen Kommu-
nalwahlen auf einmal neue Zuversicht.
Gökhan sagt, er hoffe weiter auf die Justiz,
nur sie könne das Projekt noch stoppen.
Çanakkale liegt an den Dardanellen, der
Meerenge zwischen Marmarameer und
Mittelmeer. Es ist ein historisch bedeutsa-
mer Schauplatz für Heldengeschichten
und bittere Niederlagen. Hier fand die
Schlacht um Gallipoli statt, eine der blutigs-
ten des Ersten Weltkriegs. Am Ende siegte
die osmanische Armee, unter sehr hohen
Verlusten. Es ist aber auch die Landschaft
von Troja. Nicht nur Heinrich Schliemann
glaubte, hier die von Homer beschriebene
antike Stadt gefunden zu haben, und grub
1873 den Goldschatz des Priamos aus. Gold
scheint auf besondere Weise mit der Regi-
on verbunden zu sein. Auch das nahe Ida-
Gebirge spielt in der griechischen Mytholo-
gie eine große Rolle. Zeus soll von seinem
höchsten, 1774 Meter hohen Gipfel die
Schlachten des Trojanischen Krieges ver-
folgt haben.
In der Türkei heißt der Bergzug Kaz
Dağlari, er wird nun sogar in Istanbul ver-
teidigt. Am Donnerstag tauchten an der Ga-
lata-Brücke Plakate auf, die zum „Wider-
stand“ gegen Naturzerstörung in der
400 Kilometer entfernten Bergregion auf-
riefen. Sie erinnerten auch an ein Stau-
dammprojekt im Südosten, für das die anti-
ke Stadt Hasankeyf geopfert wurde. Istan-
buls Bürgermeister Ekrem Imamoğlu, seit
seiner Wahl im Juni die Hoffnung der Oppo-
sition, hat auch schon dem kanadischen
Botschafter Chris Cooter seine Bedenken
gegen die „Naturzerstörung“ vorgetragen.
Die Welle hat inzwischen sogar Ankara
erreicht. Präsident Erdoğan ließ die AKP-
Fraktion wissen, er verstehe die ganze Auf-
regung nicht. Bergbau-Explorationen in
der Region seien älter als die AKP. Er habe
die Kaz-Berge selbst schon besucht und
werde das bald wieder tun. Außerdem
sprach Erdoğan von „Manipulationen“.
Was damit wohl gemeint war, erläuterte
Regierungssprecher Çelik nach der Sit-
zung. Er sagte, zwischen der Mine und den
berühmten Bergen, deren Zentrum ein Na-
tionalpark ist, lägen doch 40 Kilometer.
Die Bergbaufirma werde zudem kein hoch-
giftiges Zyanid benutzen. Auch davor hat-
ten die Umweltaktivisten gewarnt.
Allerdings: John McCluskey, der Chef
der kanadischen Firma Alamos, war auch
gerade in Ankara. Der Agentur Reuters
sagte er dort, man werde doch Zyanid be-
nutzen, aber alle nötigen Vorkehrungen
treffen. „Wir haben eine undurchlässige
Membran, darunter eine weitere undurch-
lässige Schicht und dazwischen ein Sys-
tem, das Lecks erkennt.“ In sechseinhalb
Jahren werde wieder aufgeforstet. Die Um-
weltbedenken nannte der CEO „einen Man-
tel für eine tiefe politische Agenda“.
Ob der Kanadier damit die Stimmung in
der Türkei trifft? In den sozialen Medien
werden Bilder anderer Kahlschläge geteilt:
für den Istanbuler Flughafen, das Atom-
kraftwerk bei Sinop am Schwarzen Meer,
Villenviertel im Badeort Bodrum.
Gold ist in der Türkei gewöhnlich sehr
beliebt. Bräute werden mit Goldreifen be-
hängt. „Kommt nicht her, wenn ihr Gold
liebt“, schrieben Demonstranten auf ein
Plakat. Ein Aufruf zum Luxusverzicht.
Ansprache an die
Nation:Indiens Mi-
nisterpräsident Na-
rendra Modi führt
eine hindu-nationa-
listische Regierung
an und steuert nun
auf einen Konflikt
mit Pakistan zu.
FOTO: PRAKASH SINGH/AFP
Madrid– Die Betreiber eines spani-
schen Rettungsschiffs mit 121 Migran-
ten an Bord haben Deutschland, Spani-
en und Frankreich um Hilfe gebeten.
Das Schiff hat die Migranten seit einer
Woche an Bord und wartet auf die Er-
laubnis zur Einfuhr in einen sicheren
Hafen. Die Betreiber der spanischen
Open Armsteilten am Donnerstag mit,
sie hätten den Regierungen der drei
Länder Briefe geschickt und sie gebe-
ten, die EU-Kommission zu bitten, eine
Lösung zu finden. Das Boot befindet
sich in der Nähe der italienischen Insel
Lampedusa. Italien und Malta haben
ihm die Einfahrt in ihre Häfen ver-
wehrt. „Wir wiederholen noch einmal
die Dringlichkeit, einen sicheren Hafen
zu haben, wo diese Leute von Bord ge-
hen können“, sagte Anabel Montes von
derOpen Armsund verwies auf interna-
tionale Vereinbarungen und das Recht
auf Leben als eines der Menschenrech-
te. Malta verweigerte derweil derOcean
Vikingdie Genehmigung, in seinen
Hoheitsgewässern aufzutanken. Amnes-
ty International erhob schwere Vorwür-
fe gegen die EU-Staaten: Die Politiker
verletzten schamlos ihre Verantwor-
tung gegenüber internationalem Recht,
wenn sie den Menschen einen sicheren
Hafen verweigerten. DieOpen Armsdes
spanischen Hilfsvereins Proactiva Open
Arms hatte am 1. August 123 Flüchtlin-
ge in zwei Einsätzen vor der libyschen
Küste aufgenommen. Italien nahm zwei
schwangere Frauen von Bord, verab-
schiedete aber vor zwei Tagen ein neues
Sicherheitsgesetz, das harte Strafen für
zivile Seenotretter vorsieht, die uner-
laubt in italienische Hoheitsgewässer
fahren. Seither pendelt dieOpen Arms
zwischen Italien und Malta. Bundes-
außenminister Heiko Maas (SPD) sucht
unterdessen weiter nach einer nach-
haltigen Lösung für die Bootsflüchtlin-
ge. ap, epd
Tel Aviv– Die israelische Armee hat
ihre Präsenz im besetzten Westjordan-
land verstärkt. Zuvor war in der Nähe
einer jüdischen Siedlung die Leiche
eines israelischen Soldaten gefunden
worden, die Stichverletzungen aufwies.
Der 19-Jährige war Student einer Religi-
onsschule in einer Siedlung und hatte
an einem Programm teilgenommen,
das die israelische Armee für streng
religiöse Rekruten gestartet hat. Zum
Tatzeitpunkt trug er keine Uniform.
Sein Großvater, ein Rabbiner, war 2002
bei einem Attentat ebenfalls im Westjor-
danland ums Leben gekommen. Sicher-
heitskräfte vermuten, es könnte sich
um eine fehlgeschlagene Entführung
handeln und gehen von einem Palästi-
nenser als Täter aus. afs
Bischkek– Die Polizei hat Medienbe-
richten zufolge den früheren Präsiden-
ten Almasbek Atambajew festgenom-
men. Sicherheitskräfte hätten sein An-
wesen am Donnerstag gestürmt, melde-
ten Reporter kirgisischer Medien. Eine
offizielle Bestätigung lag zunächst nicht
vor. Die Beamten sollen Blendgranaten
eingesetzt haben. Augenzeugen berich-
teten der Agentur Akipress zufolge,
dass Sicherheitskräfte mit Spezialaus-
rüstung in das Dorf Koj-Tasch in der
Nähe der Hauptstadt Bischkek ange-
rückt seien. Dort hält sich das frühere
Staatsoberhaupt auf. Bereits am Vortag
wollten ihn Polizisten festnehmen.
Seine Anhänger setzten sich zur Wehr
und drängten die Beamten zurück. Bei
den Auseinandersetzungen (FOTO: AP)
wurden nach offiziellen Angaben mehr
als 50 Menschen verletzt. Die russische
Agentur Interfax berichtete unter Beru-
fung auf das Gesundheitsministerium
sogar von fast 80 Verletzten. Ein Sicher-
heitsmann sei getötet worden. Atamba-
jew sieht sich Korruptionsvorwürfen
ausgesetzt. dpa Seite 4
Frankfurt/Jakarta– Indonesien will
eine neue Hauptstadt auf der Insel Bor-
neo bauen. Präsident Joko Widodo be-
kräftigte am Donnerstag die Pläne,
Jakarta auf der dicht besiedelten Insel
Java als Hauptstadt aufzugeben. Alle
Aspekte würden geprüft, sodass die
Entscheidung mit Blick auf die nächs-
ten zehn, 50 und 100 Jahre richtig aus-
fallen werde, erklärte der Staatschef auf
Twitter. Bauminister Basuki Hadimuljo-
no hatte zuvor von einer umweltgerech-
ten und technologisch hochmodernen
„smarten Wald-Stadt“ gesprochen, die
das Herz der Regenwaldinsel Borneo
nicht beschädige. In Jakarta leben zehn
Millionen Menschen, mehr als 30Millio-
nen in der Umgebung. Staus und Smog
sind an der Tagesordnung. Wegen der
tiefen Lage der Metropole kommt es
häufig zu Überschwemmungen. Weil zu
viel Grundwasser entnommen wird,
sinkt die Stadt weiter ab. epd
München– Die in dieser Woche erschiene-
nen Berichte über Menschenrechtsverstö-
ße an den Außengrenzen der EU und man-
gelnde Transparenz bei der EU-Grenz-
schutzagentur Frontex kamen für Migrati-
onsexperten nicht überraschend. Organi-
sationen wie Pro Asyl weisen seit Jahren
auf illegale „push backs“ (Zurückweisun-
gen ohne Klärung der Schutzbedürftig-
keit) hin, an denen Frontex-Mitarbeiter be-
teiligt sind, etwa an der türkisch-griechi-
schen Grenze. Zur Rechenschaft wurde nie-
mand gezogen.
Weil die EU-Agentur seit 2016 viel mehr
Personal und Aufgaben erhalten hat und
noch erhalten wird, hat sich das Problem
verschärft: Die Kompetenzen für Frontex
werden weit schneller ausgebaut als der
Grundrechtsschutz. Da Frontex meist in
„hybriden“ Einsätzen handelt, bei denen
die EU mit Mitgliedstaaten kooperiert,
sind die Verantwortlichkeiten nicht klar zu-
geordnet. Man spielt oft Schwarzer Peter:
„Wir haben immer wieder festgestellt,
dass die Mitgliedstaaten gerne die Verant-
wortung auf Frontex schieben, und umge-
kehrt Frontex gerne die Verantwortung
auf einen Mitgliedstaat schiebt“, sagt Ste-
fan Kessler, Vize-Vorsitzender des Frontex-
Beratungsforums. Von „organisierter Ver-
antwortungslosigkeit“ spricht der grüne
Europaabgeordnete Erik Marquardt.
Frontex hat steil Karriere gemacht. Bei
der Gründung 2004 ging es zunächst nur
darum, das Handeln der EU-Staaten an
den Grenzen zu koordinieren. Erst als
2014/2015 die Schwächen des Grenzschut-
zes in Griechenland und Italien zutage tra-
ten, kam der Wunsch auf, der EU eine grö-
ßere Rolle zu geben. Inzwischen darf die
Agentur Abschiebungen in eigener Regie
durchführen, mit eigenen Flugzeugen. Ei-
nen noch größeren Sprung bedeutet das
neue Mandat, auf das sich die EU-Instituti-
onen im Frühjahr 2019 verständigten. Für
Grenzschutz, Rückführungen und den
Kampf gegen Menschenhandel sollen bis
spätestens 2027 10 000 Einsatzkräfte stän-
dig bereitstehen. Sie dürfen manches tun –
etwa Einreisen verbieten –, was bisher nati-
onalen Beamten vorbehalten war.
Fast immer sind Grundrechte betrof-
fen. Das Mandat werfe diesbezüglich „fun-
damentale Fragen“ auf, erklärte der euro-
päische Flüchtlingsrat (ECRE) im Novem-
ber 2018. Einige seiner Vorschläge wurden
in der Verordnung berücksichtigt. So wur-
de der 2016 eingeführte individuelle Be-
schwerdemechanismus ausgeweitet und
die Rolle des Menschenrechtsbeauftrag-
ten bei Frontex gestärkt. Zudem gibt es ein
internes Berichtssystem. Die Mitarbeiter
der Agentur sind speziell geschult und
müssen sich an einen Verhaltenskodex hal-
ten. Und wenn Frontex bei einer gemeinsa-
men Operation mit einem Mitgliedstaat
systematische Menschenrechtsverletzun-
gen auffallen, muss die Operation beendet
werden. So weit die Theorie.
„In der Praxis ist die Wirksamkeit die-
ser Instrumente jedoch fraglich“, erklärte
der ECRE der SZ. Trotz wiederholter Hin-
weise auf Verstöße ungarischer Grenz-
schützer an der Grenze zu Serbien sei die
Mission nicht suspendiert worden. Und
der Beschwerdemechanismus werde
kaum genutzt. Er sei sehr kompliziert und
in der Reichweite beschränkt, da er nur
Frontex-Leute umfasse, während Hand-
lungen nationaler Grenzschützer lediglich
an die nationalen Behörden gemeldet wer-
den könnten. Der Mechanismus könne in-
sofern „nicht als effektiver Rechtsschutz
verstanden werden“.
Gegen die Mitgliedstaaten können Op-
fer von Menschenrechtsverletzungen vor
nationalen Gerichten Klage erheben und
bis zum Europäischen Gerichtshof für
Menschenrechte in Straßburg ziehen. Bei
Frontex selbst oder dessen Mitarbeitern
wird es schwieriger. Oft ist unklar, ob Fron-
tex die betreffende Aktion tatsächlich ver-
antwortet. Weil die Agentur keine Rechts-
person ist, könnte nur die EU belangt wer-
den. Eine Schadensersatzklage vor dem Eu-
ropäischen Gerichtshof ist unter sehr en-
gen Voraussetzungen möglich, aber so gut
wie aussichtslos. Und weil die EU der Euro-
päischen Menschenrechtskonvention
noch nicht beigetreten ist, bleibt vorerst
auch der Gang nach Straßburg versperrt.
Ohnehin haben Betroffene wenig Inter-
esse daran, sich gegen ihre Behandlung
rechtlich zu wehren. Wenn sie an einer
Grenze illegal abgewiesen würden, „versu-
chen sie es eben am nächsten Tag wieder“,
sagt Constantin Hruschka vom Max-
Planck-Institut für Sozialrecht und Sozial-
politik in München. „Warum sollten sie
sich auf ein solches Verfahren einlassen?“
Pro Asyl fordert daher „einen institutio-
nell unabhängigen Beschwerdemechanis-
mus, der für Opfer leicht zugänglich ist
und der rechtlich bindende Entscheidun-
gen treffen kann“. Die Grünen im Europa-
parlament haben die designierte Kommis-
sionschefin Ursula von der Leyen zu einem
Vorschlag aufgefordert, wie sich der Men-
schenrechtsschutz bei Frontex-Einsätzen
stärken ließe. thomas kirchner
8 HMG (^) POLITIK Freitag,9. August 2019, Nr. 183 DEFGH
Grün gegen Gold
In der Türkei schwillt eine Protestwelle an, weil wegen einer Mine Tausende Bäume gefällt wurden.
Unterstützung erhalten die Umweltschützer von Bürgermeistern, die selbstbewusst der Regierung trotzen
Klagen gegen Frontex sind
schwierig, weil die Agentur
keine Rechtsperson ist
Türkische Demonstranten protestieren in der Nähe des Ortes Kirazlı gegen eine Goldmine. FOTO: KEMALASLAN/REUTERS
Ausschau halten nach Flüchtlingen: Ein Boot der Frontex patrouilliert in der Nähe
der griechischen Küste. FOTO: DAN KITWOOD/GETTY IMAGES
Gold ist mit der Region besonders
verbunden. Das hat auch mit Zeus
und Heinrich Schliemann zu tun
Appell der Seenotretter
Israelischer Soldat getötet
Aufruhr in Kirgisistan
Pläne fürneue Hauptstadt
„Von Terroristen
befreien“
Indiens Premier Modi verteidigt das
Ende von Kaschmirs Sonderstatus
AUSLAND
Wenig Recht, viel Ordnung
Die EU-Grenzschutzagentur Frontex ist schnell gewachsen, ebenso ihre Kompetenzen. Die Grundrechte von Migranten bleiben da teils auf der Strecke