Die Zeit - 15.08.2019

(Tuis.) #1
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  1. August 2019 DIE ZEIT No 34 WIRTSCHAFT 23


S


ehen so Männer aus, die den Ver-
stand verloren haben? sebastian
tigges, Philipp Nagel und Chris-
topher Leidinger stehen am Ein-
gang der Markthalle IX, einem
Backsteinbau im gentrifizierten
teil von Berlin-Kreuzberg. tigges
trägt einen dunklen Anzug, Nagel Birkenstock-
sandalen und Leidinger ein Zahnpasta-Lachen.
Drei Freunde, die sich seit studientagen kennen
und nie in ihrem Leben eine engere Beziehung zu
spirituosen hatten, aber 2018 das Eierlikör-start-
up Rübbelberg gegründet haben.
Die Frage ist also durchaus berechtigt: Wie
kommen drei Männer Anfang, Mitte dreißig
darauf, ihr Erspartes in Eierlikör zu stecken? In
ein getränk, das auf achtzigsten geburtstagen
ausgeschenkt wird; das sich Mütter zu Hause
über Vanille-Eis kippen und bei Junggesellinnen-
abschieden in schokoladenüberzogenen Waffel-
bechern getrunken wird? Mit anderen Worten:
ein Alkohol, der ungefähr so Avantgarde ist wie
Jack-Wolfskin-Jacken. Oder Phil Collins.
Natürlich seien sie überhaupt nicht verrückt
geworden, sagt Christopher Leidinger, nachdem
er mit den beiden anderen auf einer Holzbank in
der Markthalle Platz genommen hat. Wenn es
um Eierlikör gehe, lasse sich nämlich Erstaun-
liches beobachten: Fast jeder, den sie kennen,
habe irgendeine Verbindung zu Eierlikör, erzählt
Leidinger. Ein Freund habe ihnen gestanden,
dass er jedes Jahr nach der Christmette mit seiner
Familie vor der Kirche stehe und sich dort ein
Eierlikörchen genehmige. Eine andere Freundin
räumte ein, dass sie als Kind heimlich die schüs-
sel ausgeleckt habe, wenn die Eltern an Ostern
Eierlikör machten. Eierlikör-Bekenntnisse, über
die niemand von sich aus sprach. Es sei denn, er
oder sie stand unter dem Einfluss anderer spiri-
tuosen. In solchen Momenten käme auch heraus,
dass die meisten Eierlikör eigentlich ganz gern
mögen würden, sagt Leidinger. Nur zugeben
würde das freiwillig wohl kaum jemand.
Die Drinks dieser Welt lassen sich, grob gesagt,
in zwei Kategorien einteilen: Da sind jene, die man
jederzeit in jeder Bar bestellen kann, ohne dafür
vom Barkeeper schief angeschaut zu werden: Ape-
rol spritz, Whiskey sour, gin tonic sind allgemein
akzeptierte, wenn auch ein wenig langweilige Be-
gleiter. und da sind die anderen: jene, die in einer
schrumpfenden Zielgruppe feststecken; die immer
auch ein bisschen nach Alkoholproblem schme-
cken. Aquavit oder Weinbrand oder Doppelkorn
trinkt man heute entweder aus Mangel an Alterna-
tiven. Oder ironisch, so wie junge Menschen häss-
liche turnschuhe tragen.


Auch das Altherrengetränk Jägermeister
wurde wieder ein Partydrink


Die gute Nachricht: Was Alkohol betrifft, gibt es
nur wenige hoffnungslose Fälle. gin galt einst als
billiger Fusel. Die bekannteste gin-trinkerin war
die britische Queen Mum, die sich gerüchten zu-
folge bis ins hohe Alter täglich ein glas einschenkte.
Das abendliche Ritual mag der Königinmutter ein
101-jähriges Leben beschert haben, dem Image des
gins half es nicht. Das Ansehen des Wacholder-
schnaps stieg erst, als angesagte Bars anfingen, mit
ihm zu experimentierten. Heute ist der Markt der-
art von lokalen, handgemachten gins über-
schwemmt, dass man sich fragt, ob der Hype jemals
enden wird.
Auch dem Altherrengetränk Jägermeister
gelang kurz nach der Jahrtausendwende ein
Comeback. Dank der sprechenden Hirsche
Rudi und Ralph und leicht bekleideter Werbe-
botschafterinnen avancierte der Kräuterschnaps
zum Partygetränk.
trotz solcher Erfolgsgeschichten habe ihnen
niemand geglaubt, als sie verkündeten, ausge-
rechnet den Eierlikör wiederbeleben zu wollen,
erzählen die drei Berliner unternehmer. sogar


ihre Freundinnen seien wenig begeistert gewesen,
als sie ihren selbst entwickelten Eierlikör Wochen-
ende für Wochenende auf Märkten verkauften
und ihre Wohnungen zum Lager für Dutzende
Flaschen umfunktionierten – die erste Charge,
die sie bei einem Kornbrenner in schleswig-
Holstein in Auftrag gegeben hatten.
Heute, ein Jahr später, ist aus der schnapsidee
ein »professionelles Hobby« geworden, wie Philipp
Nagel es nennt. Rübbelberg ist unter anderem im
Berliner KaDeWe und im Hamburger Alsterhaus
erhältlich. Auch große Lebensmittelhändler wollen
den neuen Eierlikör in ihr sortiment aufnehmen.
Manches dieser Angebote haben die gründer nach
eigenen Angaben abgelehnt. Eine supermarktkette
passe nicht zu ihnen, fanden sie.
»Die Marke ist alles«, sagt Leidinger. Neben
einem »guten Produkt« brauche es »eine gute ge-
schichte und ein gutes Branding«. Das fange schon
beim Namen an. Über den Fantasiebegriff Rübbel-
berg hätten sie lange nachgedacht, er klinge »ulkig
und seriös zugleich«. Bis sie mit dem Design des
blau-goldenen Etiketts zufrieden waren, trieben sie
einen befreundeten gestalter fast bis zur Weißglut.

Warum wird ein Getränk plötzlich cool,
während andere im Regal stehen bleiben?

um nachhaltig Erfolg zu haben, reiche eine gute
Vermarktung allein aber nicht aus, das ist den
Rübbelberg-gründern wichtig. statt Eier aus
Bodenhaltung verarbeiten sie Bio-Eier, statt Vanille-
Aroma echte schoten. Das hat seinen Preis: 29 Euro
für eine 0,5-Liter-Flasche.
Die Berliner Eierlikör-Macher profitieren von
einem trend, der in der getränkebranche etwas
sperrig »Premiumisierung« heißt. schon Zwanzig-
jährige besuchen heute mitunter lieber Whisky-
tastings, anstatt Apfelkorn auf ex zu kippen. Im
Zeitalter der Hyper-Individualität dienen Drinks
dazu, sich von anderen abzugrenzen, den eigenen
geschmack zu demonstrieren, und das darf ruhig
etwas kosten. Das ist insofern bemerkenswert, weil
die Deutschen seit Jahren immer weniger harten
Alkohol trinken: 1991 lag der jährliche spirituosen-
konsum pro Kopf im schnitt bei 7,5 Litern, 2018
waren es nur noch 5,4 Liter.
Hinzu kommt, dass die Menschen seit einiger
Zeit gern mediterrane schnäpse trinken, die sie aus
dem urlaub kennen, auch wenn sie nicht in sizilien,
sondern daheim in sindelfingen auf dem sofa
sitzen. Averna und Aperol (beide gehören zur
italienischen Campari-gruppe) verdanken dieser
Entwicklung ihre Popularität. Die deutschen
spirituosenhersteller bringt das in Bedrängnis. Wer
will schon einen Magenbitter, wenn er einen
Ramazzotti haben kann?
Für William Verpoorten ist klar, wer schuld ist
am Abstieg des Eierlikörs: der Coffee to go. »Früher
haben Frauen beim Kaffeekränzchen Eierlikör ge-
trunken«, sagt der Chef der gleichnamigen, den
deutschen Markt dominierenden Eierlikörmarke.
»Heute rennt jeder mit den Bechern durch die
gegend. Das Kaffeekränzchen stirbt aus.« um eine
jüngere Zielgruppe zu erreichen, setzt Verpoorten
auf die sozialen Medien. Das 143 Jahre alte unter-
nehmen kooperiert mit Influencern und erklärt auf
Youtube, wie man mit Eierlikör Cocktails mixt und
Cupcakes backt. Die Videos dürften zwar eher
thermomix-Besitzer als trendsetter ansprechen,
aber dem geschäft nützt es offenbar: Nach eigenen
Angaben sind Verpoortens umsätze stabil.
Warum aber wird ein Drink plötzlich cool,
während ein anderer im untersten supermarktregal
stehen bleibt?
Die Wahrheit ist: Manchmal wissen es die Ma-
cher selbst nicht genau. Beim spirituosenhersteller
Nordbrand Nordhausen jedenfalls kann man sich
den Erfolg des Pfeffi nicht so recht erklären. Der
quietschgrüne Pfefferminzlikör hat in Ostdeutsch-
land seit Jahrzehnten Kultstatus. Im Westen da-
gegen war er lange Zeit unbekannt. Vor zweieinhalb
Jahren tauchten im Internet plötzlich Videos auf,

in denen Partygänger ihre Liebe zum Pfeffi besangen
oder sich anderweitige scherze mit dem schnaps er-
laubten. Bei Nordbrand Nordhausen wunderte man
sich erst, schließlich steckte dahinter keine organisier-
te Kampagne wie bei Jägermeister. Dann freuten sich
die Verantwortlichen, denn der Absatz stieg von 3,8
Millionen verkauften Flaschen im Jahr 2014 auf 6,8
Millionen Flaschen im Jahr 2018.

Hat der Eierlikör ähnliches Potenzial? Wird aus
ihm einmal der neue gin?
Besuch bei Enrico Wilhelm, Barchef im Ham-
burger Luxushotel Vier Jahreszeiten und seit 25
Jahren im geschäft. Natürlich habe Eierlikör seine
Daseinsberechtigung, sagt Wilhelm. Eine große
Zukunft als Bar-getränk prophezeit er ihm jedoch
nicht. Er habe zwar für alle Fälle eine Flasche Ver-

poorten im schrank. »Aber eigentlich bestellt den
niemand, außer es sitzt zufällig udo Lindenberg an
der Bar.« Doch der sänger und prominenteste Eier-
likörtrinker der Republik wohnt nicht im Vier Jah-
reszeiten, sondern im ein paar Hundert Meter ent-
fernten Hotel Atlantic.

http://www.zeit.de/audio

Schnapsidee


Eierlikör gilt als getränk für Omas. Drei unternehmer


aus Berlin wollen ihm zu neuem glanz verhelfen. Kann der


spirituose das Comeback gelingen? VON ANN-KATHRIN NEZIK


Kaffeekränzchen war gestern.
Für die Hersteller von Eierlikör
ist das ein Problem

Foto: herbecks/WDRDigit
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