Die Zeit - 15.08.2019

(Tuis.) #1

  1. August 2019 DIE ZEIT No 34


FEUILLETON 33


Was geschah in der


Gesangsstunde?


Neun Frauen erheben Vorwürfe
gegen Plácido Domingo

Von den drei tenören war Plácido Domingo
stets der baritonalste: seine stimme besaß
zwar die Höhe und strahlkraft für die gro-
ßen Partien des italienischen Fachs, aber sie
hatte auch etwas angenehm samtiges,
Dunkles. Böse Zungen behaupteten von
Anfang an, der spanier sei ein verkappter
Bariton, der begriffen habe, dass er als tenor
die einträglichere Karriere machen könne.
Was Domingo prompt tat. Heute ist der
superstar 78 (oder 82, das geburtsjahr ist,
wie es sich eigentlich nur für alternde Diven
gehört, strittig), leitet Wettbewerbe und
Opernhäuser, dirigiert, lässt (oder ließ) sich
als Fußballfan mit sepp Blatter ablichten –
und singt immer noch, seit einiger Zeit in
Baritonlage (sic!). Die tiefe Männerstimme
verheißt Autorität, Macht und Erotik, wäh-
rend die hohe so sehr mit dem Vollbringen
von Heldentaten beschäftigt ist, nicht nur in
der Oper, dass ihr sexueller Radius deutlich
kleiner ausfällt. statistisch galt früher: tenö-
re bringen es auf zweieinhalb Ejakulationen
pro Woche, Bässe mindestens auf vier.
Das mag nicht immer stimmen, aber es
passt ins Bild. Nach einer Recherche der
Nachrichtenagentur AP bezichtigen neun
Frauen Plácido Domingo nun der sexuellen
Belästigung, Nötigung und des Machtmiss-
brauchs. Eine von ihnen, die Mezzosopra-
nistin Patricia Wulf, 61, tut es namentlich.
Die Vorfälle sollen sich in den 80er- und
90er-Jahren in Washington und Los Ange-
les zugetragen haben, wo Domingo einfluss-
reiche Positionen bekleidete. Von griffen
unter Röcke ist die Rede, von feuchten Küs-
sen und nächtlichem telefonterror. Jungen
sängerinnen seien Rollen in Aussicht ge-
stellt worden, gesangsstunden hätten kur-
zerhand im privaten Ambiente stattgefun-
den. sex vor der Vorstellung lasse ihn besser
singen, so wird Domingo zitiert. Heute – das
Muster ist bekannt – will er von all dem
nichts wissen: Die Darstellungen seien »un-
genau«, er habe stets »einvernehmlich« und
mit »besten Absichten« gehandelt, wolle
sich aber an die gültigen »höchsten stan-
dards« des Miteinanders halten. Für einen
Künstler, der ein halbes Jahrhundert lang
die menschliche seele erkundet hat, klingt
das arg gönnerisch. untersuchungen sind
anberaumt. Man wird sehen, ob Domingo
seine Alterskarriere wird fortsetzen können.
Am 25. August ist er bei den salzburger
Festspielen als Vater in Verdis Luisa Miller
zu erleben. CHRISTINE LEMKE-MATWEY

Wenn der Wind singt


Das Weißbier ist besonders erfrischend in Bayreuth – und nach 50 Minuten Jogging erzeugt Wagners Musik im Festspielhaus ein


unbeschreibliches gefühl von Einheit. Aber warum verweigert gott die Aussage? Ein tagebuch VON HARUKI MURAKAMI


Mittwoch, 24. Juli


Der Bahnhof von Bayreuth ist klein, gemütlich und
ruhig, hat nichts vom üblichen getümmel an Bahn-
höfen. Ich möchte ein taxi zum Hotel nehmen, aber
alle taxis sind unterwegs, und ich muss warten. Die
sonne knallt derart, dass ich das gefühl habe, gegrillt
zu werden. Eine so außergewöhnliche Hitze habe es
in Deutschland noch nie gegeben, heißt es. Die
Menschen unterhalten sich besorgt darüber, was aus
der Erde werden soll.
Im Hotel angekommen, packe ich aus und be-
schließe, eine Verschnaufpause einzulegen. Ich
habe Hunger und Durst, also mache ich mich trotz
sonne auf den Weg in die Innenstadt. In einem
Einkaufszentrum trinke ich ein Weißbier und esse
eine Currywurst, zu der ich einen ganzen Berg
Pommes frites bekomme. Acht Euro. In dieser
Hitze ist ein Weißbier besonders erfrischend. sooft
ich nach süddeutschland komme, trinke ich unbe-
dingt Weißbier. und bestelle eine Wurst dazu. Das
habe ich mir zur gewohnheit gemacht.
Wieder im Hotel, lese ich im Aufzug einen Hin-
weis: »Bitte öffnen sie ab der Dämmerung nicht
die Fenster, andernfalls kommen Fledermäuse ins
Zimmer.« Fledermäuse, aha. Da bin ich wohl in der
Wildnis gelandet.
Der verstorbene Wolfgang Wagner, Enkel des
großen Richard Wagner und langjähriger Intendant
der Bayreuther Festspiele, gab der japanischen tages-
zeitung Yomiuri Shimbun vor 40 Jahren ein Interview
über das Besondere an seiner stadt. »Bayreuth ist
eine Kleinstadt. Es gibt kaum Ablenkung, und die
Besucher kommen allein in der Absicht, Wagners
stücke in sich aufzunehmen und zu verstehen. Des-
halb sind wir hier in der Lage, uns ganz auf sein Werk
zu konzentrieren, uns ihm fern aller alltäglichen
Probleme zu widmen.«
Das erscheint mir sehr verständlich.
Aber warum habe ich diese Ausgabe der Yomiuri
Shimbun von vor 40 Jahren so lange aufbewahrt?
Wegen der kleinen Notiz, die daneben steht: »Ha-
ruki Murakami erhält für seinen Roman Wenn der
Wind singt den 22. gunzo-Preis für Nachwuchs-
schriftsteller. Herr Murakami ist 29 Jahre alt und
hat an der Waseda-universität Literatur stu-
diert ...« Als ich kürzlich alte unterlagen sortierte,

fiel mir zufällig der Artikel mit dem Interview in
die Hände. Wahrhaftig ein seltsamer Zufall.

Donnerstag, 25. Juli


Ich stehe um fünf uhr auf. Die Nacht war heiß,
und ich bin einmal aufgewacht. In Berggegenden
kühlt es nach sonnenuntergang ab, und die Luft-
feuchtigkeit ist auch nicht so hoch. Das Zimmer
hat eine Klimaanlage, aber ich schalte sie nicht ein.
Ich werfe einen Blick aus dem Fenster, entdecke
aber keine Fledermaus.
Nach dem Frühstück gehe ich laufen. In der
Nähe des Hotels fließt ein kleiner Fluss, an dem
ein Fahrradweg entlangführt. Ich laufe 50 Minu-
ten. Es fühlt sich gut an. Andere Läufer sehe ich
kaum. In dem Flüsschen schwimmen eine Menge
Fische.
tagsüber besuche ich die Villa
Wahnfried, wo Richard Wagner
von 1874 bis zu seinem tod im
Jahre 1883 mit seiner Frau Cosi-
ma, seinen Kindern und seinen
Hunden lebte. In dieser Zeit
überwachte er den Bau des Fest-
spielhauses, leitete die ersten
Festspiele und komponierte seine
letzte Oper Parsifal. Zum ersten
Mal in seinem Leben besaß Wag-
ner ein eigenes Heim. An der
Fassade ist der spruch »Hier wo
mein Wähnen Frieden fand –
Wahnfried – sei dieses Haus von
mir benannt« eingemeißelt. Im
Wörterbuch steht für »Wahn« ein
Wort, das auch »Illusion« bedeu-
ten kann, aber meinem Empfin-
den nach ist »Wahn« dem
buddhistischen Begriff der »irdi-
schen Leidenschaften« näher.
Es ist unvermindert heiß. Ich
trage kurze Hosen und sneaker.
Auch meine Mütze (Boston Red
sox), sonnenbrille und sonnen-
creme sind unerlässlich. Am
Abend gehe ich ins Restaurant

Eule. Auf die Hauswand ist eine Eule gemalt. Ich
bestelle »Isoldes Kartoffelpuffer, mit Räucherlachs
belegt«, Weißbier und Rotwein. Alles zusammen
23 Euro. Da seit je viele an den Festspielen be-
teiligte Musiker und Künstler hier einkehren,
sind die Wände gespickt mit Fotografien. Das
Restaurant hat eine schöne Atmosphäre, und ich
hätte es gern noch einmal besucht, aber leider er-
gab es sich nicht.

Freitag, 26. Juli


Nach dem Frühstück laufe ich. 50 Minuten.
um mich auf die Aufführung am Abend vorzu-
bereiten, schaue ich mir Lohengrin auf DVD an. Es
ist eine Aufnahme aus dem Festspielhaus von 1982
unter der Regie von götz Friedrich. Die unmittel-
bare Begegnung mit einer Wagneroper erfordert
unbedingt Vorbereitung. Als Zu-
schauer, der kein Deutsch versteht,
muss ich mir so viel vom text wie
möglich merken.
um drei uhr fährt ein shuttle-
bus vom Hotel zum Festspielhaus.
Zwei Drittel der Männer tragen
smoking und eine schwarze Kra-
watte. Ein paar sind auch in ge-
wöhnlichen dunklen Anzügen
gekommen. Einige Leute demons-
trieren ihre Anti-Establishment-
gesinnung mit auffälligen t-shirts
und Jeans, aber letztlich ist das
eine Minderheit. Die Atmosphäre
ist insgesamt konservativ, daran
besteht kein Zweifel. Augenschein-
lich sind es vor allem wohlhabende
Deutsche, die sich aus dem ganzen
Land in der knapp 500 Meter
hoch gelegenen kleinen stadt ver-
sammelt haben. Die meisten sind
mittleren Alters oder älter, junge
Menschen sieht man kaum. Für
junge Leute sei der Eintritt zu
teuer, erklärt mir ein Einheimi-
scher. Je höher der Eintritt, desto
höher die schwelle.

Der Zuschauerraum hat fast 2000 Plätze, und
alle sind besetzt. Kein einziger freier sitz, so weit
das Auge reicht. Der Raum ist buchstäblich ge-
stopft voll. Da eine Klimaanlage fehlt, wird es
durch die Körperwärme der vielen Menschen all-
mählich immer heißer. Anfangs behalte ich pflicht-
bewusst meine Jacke an, aber im dritten Akt kann
ich es nicht mehr aushalten und ziehe sie aus. In-
zwischen sitzen die meisten Männer im Hemd auf
ihren Plätzen. Bei dieser Hitze sollte man so viel
Wasser wie möglich trinken, aber die sitzreihen
sind so eng, dass man, sobald man einmal sitzt,
nicht mehr rauskommt. Es ist völlig ausgeschlos-
sen, mittendrin aufzustehen und auf die toilette
zu gehen. Also heißt es, geduldig ohne Flüssigkeit
auszuharren. Viele Deutsche trinken in der Pause
genussvoll ein Bier, aber ich habe meine Zweifel,
ob das so gut ist.
Die unbequemen sitze und die Enge erinnern
mich an etwas ... An was nur? Ich überlege.
schließlich fällt es mir ein. genau, es ist wie im
Fenway-Park Baseballstadion in Boston, der Hei-
mat der Boston Red sox. Lieblose sitze, sparta-
nische Polsterung, die fast fromme Erwartung der
Menschen. Nur kommt in Bayreuth kein Popcorn-
verkäufer vorbei.
Obwohl die sitze so hart sind, ist es verboten,
Kissen mitzubringen. Vielleicht wegen der terror-
gefahr. Vor mir sitzt ein Hüne, dessen Kopf mir
den Ausblick auf einen teil der Bühne verdeckt.
Außerdem habe ich meine Brille im Hotel liegen
lassen! Also bleibt mir nichts anderes übrig, als
meine sonnenbrille aufzusetzen. Natürlich ist sie
viel zu dunkel, und ich kann die Details des Büh-
nenbildes nicht erkennen. Ich frage mich, was mit
mir los ist, wie ich einen solchen Fehler machen
konnte. Jetzt reise ich eigens um die ganze Welt
nach Bayreuth und vergesse dann meine Brille. Ich
bin völlig niedergeschmettert.
Kurz nach vier uhr geht es los, ohne Vorwarnung.
Die Vorstellung dauert bis kurz vor zehn. Anders als
in Konzertsälen in Japan gibt es keine vorherige höf-
liche Ansage. Für die Leute, die sich vor dem ge-
bäude aufhalten, ertönt vom Balkon mehrmals das
berühmte trompetensignal, aber wer im Inneren sitzt
und es verpasst, hat ein Problem. tatsächlich hätte

Warnhinweis: Auch in


Deutschland dominiert


der politische Islam das


Bild der ganzen Religion


seite 44

Haruki


Murakami


schon viele bekannte
Persönlichkeiten haben
für die ZEIt von den
Bayreuther Festspielen
berichtet, unter anderem
Michel Houellebecq,
Patti smith, Navid
Kermani und Peter
sloterdijk. In diesem Jahr
reiste der japanische
schriftsteller Haruki
Murakami zum grünen
Hügel, um Wagners
Werk zu erleben. Zuletzt
erschien von ihm der
Roman »Die Ermordung
des Commendatore«
(DuMont Verlag, 2018).

Fortsetzung auf s. 34

Hartes Pf laster


Der E-Roller ist ein Nachfahre des
tretrollers: Er will gelernt sein

Früher war nicht alles besser, aber manches gut:
Heute noch sind tretroller im Angebot, klas-
sisch mit Hinterrad-Rücktrittbremse und
Ballonreifen. Der testsieger wird ausdrücklich
für »Kinder von drei bis acht Jahren« emp-
fohlen, was ja, nach dem Erlernen des auf-
rechten gangs und dem Dreirad, ein halbes
Jahrzehnt zum Einüben und Ausüben einer
Kultur technik bedeutet: des Rollerns. Boden-
nah, in erster unabhängigkeit, mittelriskant,
nur ein bisschen langweilig irgendwann,
nichts für Akzelerationsfetischisten, die ihr
Kind am liebsten nach dem Abstillen aufs
Rennrad setzten. Das Üben des gleichge-
wichts ist kaum zu
beschleunigen. Man
kann das Rollern eine
Erfahrung nennen.
Von unerfahrenheit
hingegen sprechen
nach der jüngsten Zu-
lassung von E-scoo-
tern im straßenver-
kehr die unfallmedizi-
ner, bei denen in be-
klagenswerter An zahl
E-Roller-Fahrer eingeliefert werden. Zumeist
haben sie den unfall selbsttätig verursacht:
Erwachsene natürlich, die dachten, sie steigen
mal auf und fahren schnell los und springen
im Zweifelsfall in voller Fahrt wieder ab.
Lernen und Langeweile: eingespart. Die Ver-
letzungen sind entsprechend: Kopf, schädel,
Hirn. Aufgeschlagene Knie zum Verpflastern:
Das war gestern. Von gestern ist übrigens auch
die straßenbahn, eine Art E-Roller, der für
morgen gut wäre: Denn führen Bahnen durch
die straßen, stetig, für alle, am stau vorbei,
dann müsste nicht jeder heillos drauflosrollern,
als sei es die Wettfahrt aller Einzelnen, die dem
Leben dienlich sei. ELISABETH VON THADDEN

Umgefahren:
E-Roller im
Nahkampf

Fotos: Julian Baumann für DIE ZEIT; Jörg Carstensen/dpa (u.)
Haruki Murakami in den Kulissen der aktuellen »Meistersinger«-Inszenierung
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